Titel: | Ueber die Moralität der arbeitenden Classe unserer Zeit. |
Fundstelle: | Band 81, Jahrgang 1841, Nr. LIX., S. 229 |
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LIX.
Ueber die Moralität der
arbeitenden Classe unserer Zeit.Gegenwärtiger Artikel ist einer preisbewerbenden Abhandlung
des Bulletin de la
Société industrielle de
Mulhausen, 1841, Nr. 68 und 69, über
die Fortschritte der Industrie in ihren Beziehungen zur
Moralität der arbeitenden Classe von Hrn. Baron v.
Gérando, Pair von Frankreich, entnommen. Diese
Abhandlung zerfällt hauptsächlich in drei Abtheilungen,
nämlich die Untersuchung 1) der Thatsachen, 2) ihrer
Ursachen und 3) der Mittel ihnen abzuhelfen. Das
erste Capitel der ersten Abtheilung schien uns seines
Reichthums an interessanten statistischen Zusammenstellungen
wegen eines Auszuges für unsere Leser würdig.
Ueber die Moralität der arbeitenden Classe
unserer Zeit.
Ist es wirklich wahr, daß sich die Moralität im Kreise der
arbeitenden Classe sichtbar vermindere, daß die Verderbtheit
sich heutzutage zunehmend in derselben
verbreite? Wie weit sind die darüber laut werdenden Klagen
gegründet? Und wenn diese Erscheinung keine bloße Täuschung ist,
in welcher Ausdehnung ist sie dann wahr? Wenn sie aber nicht
unbeschränkt, nicht allgemein ist, unter welchen Umständen tritt
sie dann auffallender hervor?
Hüten wir uns, die Beschuldigungen gegen die arbeitende Classe
und die Klagen über ihren sittlichen Zustand zu leichtfertig
hinzunehmen. Ein in seiner Grundlage schäzenswerthes Gefühl kann
sehr leicht zu Uebertreibungen oder zu bereitwilligem Gehör für
solche führen. Man wird von den Ausschweifungen und Lastern,
welche in der gegenwärtigen Zeit unsern Bliken betrübend
entgegentreten, in lebhaftes Staunen versezt; allein zu jeder
Zeit haben rechtschaffene Leute die Verderbtheit, deren Zeugen
sie waren, beklagt und sie für größer gehalten als in
vergangenen Zeiten. Heutzutage tragen mehrere Umstände dazu bei,
diese die Gemüther beunruhigende vorgefaßte Meinung zu
bestärken. Das Schiksal der arbeitenden Classe ist für die
Publicisten, die Staatsökonomen, die Moralisten der Gegenstand
eines neuen Studiums und ernsthafter Forschung geworden; diese
Classe steht der besser gekannten Mittelclasse näher; die Uebel,
unter welchen sie seufzt, sind aber in die Augen fallender; ohne
größer zu seyn, können sie drükender erscheinen, bloß weil sie
leichter bemerkt werden. Hiedurch wurde man über das angebliche
Umsichgreifen des sogenannten Pauperismus in Irrthum geführt, während es doch durch
Thatsachen erwiesen istVon den so zahlreichen als positiven Beweisen, welche ein
jüngst erschienenes Werk hievon gibt, wird man nur
denjenigen auszuheben brauchen, welcher aus der Abnahme
der Sterblichkeit in England, Frankreich u.s.f. seit
einem halben Jahrhundert und aus der Verlängerung des
mittlern Lebensalters um mehr als ein Drittheil
hervorgeht. Von allen Beweisen ist dieß der sicherste.
– Die Zählung der Armen zu Paris ergab:im Jahr
1790
X 1829 1838118,794111,62662,53958,500obwohl die Bevölkerung dieser großen Stadt
indemselben Zeitraum sich von 550,000 auf
900,000Einwohner vermehrte., daß der Wohlstand sich in den untern Regionen der
Gesellschaft merklich vermehrte, und das wirkliche Elend
hingegen sich verminderte. Gerade so ist auch die Täuschung
jener entstanden, welche glaubten, daß die Anzahl der Verrükten
und der Taubstummen beträchtlich zugenommen habe, seitdem eine
gerechte und thätige Sorgfalt sich um ihr Schiksal angenommen
hat. Der Gegenstand erscheint, ohne sich zu verändern, den Augen
größer, sobald er genähert wird und leichter bemerkt werden
kann.
Es mangeln uns außerdem zuverlässige Urkunden, welche die Sitten
der arbeitenden Classe aus verschiedenen Epochen der Geschichte
mit Sicherheit zu vergleichen gestatteten. Die übersichtlichen
Berichte der Criminaljustiz, welche in dieser Hinsicht für die
Gegenwart einiges Licht geben, reichen nur wenige Jahre hinauf,
seit welchen sie erst abgefaßt und veröffentlicht werden. Die
Geschichtschreiber aber haben sich mit dem Schiksal dieser
wichtigen Classe zu wenig abgegeben, um uns zu der Kenntniß
desselben zu verhelfen. Was übrigens aus dem Gebiete der
Gesezgebung darüber vorhanden ist, wirft kein günstiges Licht
auf die niedern Classen früherer Zeiten (1350 bis 1776).
Hingegen läßt sich eine positivere Vergleichung der
gleichzeitigen Zustände in verschiedenen Gegenden anstellen.
Sind z.B. die Sitten Irlands, welches Land den
raschen Fortschritten der Industrie Englands nicht folgte,
reiner als die Schottlands, oder selbst Englands? Bietet der
sittliche Zustand des südlichen Italiens und Spaniens, zweier
Länder, welchen die industrielle Entwikelung anderer
europäischer Staaten beinahe fremd blieb, ein erfreulicheres
Bild als jener Frankreichs und Belgiens dar? Hat sich Böhmen
verschlimmert, seitdem es auf ganz merkwürdige Weise allen
andern Theilen des österreichischen Gebietes in der Entwikelung
seiner Fabriken vorauseilte?
Die criminalgerichtlichen Zusammenstellungen thun factisch dar,
daß die Verbrechen in städtischen Communen weniger zahlreich
sind als in den Landgemeinden. Jedoch ist das Mißverhältniß
nicht wirklich so groß als es den Anschein hat, und es ist,
wenigstens zum Theil, durch dem Fabrikwesen fremde Umstände zu
erklären.
Es ist aus dem lezten Bericht der Criminaljustiz in Frankreich
vom Jahr 1837 zu ersehen, daß 4353 wegen Verbrechen
Angeschuldigter (oder 57 Procent derselben) Landbewohner waren;
3274 (oder 40 Procent) aber städtischen Gemeinden angehörten.
Nun macht aber die Bevölkerung der Ruralgemeinden in Frankreich
ungefähr 78/100 der ganzen Bevölkerung aus, während die
Einwohner der städtischen Gemeinden kaum 20/100 derselben
betragen. Das Verhältniß der Angeklagten der beiden Kategorien
von 7 Jahren zeigt folgende Tabelle:
Textabbildung Bd. 81, S. 230
Jahr;
Rural-Gemeinden; Städtische Gemeinden; von 100 wegen
Verbrechen Angeklagten; Mittelzahl
und in Bezug zur Bevölkerung war das
Verhältniß = 29 zu 71, welches Verhältniß allerdings für die
leztere Kategorie sich sehr ungünstig herausstellt; allein der
Aufenthalt in den Städten bietet an und für sich schon
zahlreichere Veranlassungen zu Verbrechen, günstigere Aussichten
auf deren Erfolg, lokendere und wiederholtere Verführungen und
mächtigere Mittel zur Verübung des Bösen dar. Auch muß bemerkt
werden, daß auf dem Lande nur gewisse, ihm eigenthümliche
Verbrechen beinahe ausschließlich verübt werden; das Plündern
der Ernten, das Verheeren der Forste, die Verbrechen der Jagd,
des Fischfangs und mehr dergleichen machen allein zwei
Drittheile der Totalsumme der zur Strafe gekommenen Verbrechen
aus, was natürlich daraus folgt, daß das Land seinerseits die
Gelegenheit und Versuchung zu diesen Verlezungen des Eigenthums
darbietet.Von 193,065 im Jahr 1837 vor die Zuchtpolizeigerichte
gebrachten Verbrechern waren wegen Verheerung von
Obstgärten, ganzer Ernten und anderer dieRuralpolizei angehender
Verbrechen
angeklagt 2,741wegen Wilddieberei 8,001wegen Forst- und
Fischereifrevel112,944–––––––123,686.
Die Städte aber haben das traurige Vorrecht, schlechte Subjecte
aller Art in ihren Kreis zu ziehen, welchen sich auf dem Lande
nicht genug Hülfsquellen darbieten, und die sich da der
Beobachtung nicht entziehen können. Es dürfen die Missethaten
dieses fremdartigen und unstäten Theils ihrer Bevölkerung,
welcher unter allen den Gerichten am meisten Angeklagte liefert,
durchaus nicht auf Rechnung der arbeitenden Classe gebracht
werden.
Mehr Aufklärung gibt uns eine Parallele unter den Schuldigen aus
den verschiedenen Gewerben. Der eben erwähnte Bericht enthält
hierüber folgende Ziffern:
Aus der Gesammtzahl von 8094 Angeklagten waren
von ländlichem
Gewerbe
wegen Verbrechen gegen Personen
angeklagt
969
–
–
gegen das Eigenthum
angeklagt
1663
–––––
zusammen
2632;
von eigentlichen
Gewerbsleuten
wegen Verbrechen gegen Personen
angeklagt
467
–
–
gegen das Eigenthum
angeklagt
1276
–––––
zusammen
1743.
Die Summe der wegen Verbrechen gegen Personen Angeklagten ist
also bei der sogenannten arbeitenden Classe um die Hälfte
kleiner als bei der Classe der Bauern, Tagwerker oder
Bauernknechte. Vergleicht man noch genauer, so findet man unter
den der ärgsten Verbrechen Angeklagten:
Textabbildung Bd. 81, S. 231
ländl. Gewerben
angehörige; eigentliche Gewerbsleute; Mordthaten,
Meuchelmorde oder Versuche dazu Eltern- und
Kindermord oder Versuche dazu Vergiftungen oder Versuche
dazu; Brandstiftungen; kaum über 1/3
Aber in den Verbrechen gegen die Sitten ändert sich das
Verhältniß; deren gab es unter den ländlichen Gewerben 121,
unter den Arbeitern 110.
Vergleicht man dann die Anzahl der Angeklagten von der Classe der
Arbeiter mit jener der den einträglichem Erwerbsclassen (classes libérales)
Angehörenden, so wird man mit Erstaunen gewahr
wegen Verbrechen gegen Personen
Angeklagte
171
–
–
gegen das Eigenthum
Angeklagte
256
––––
zusammen
427
und da muß noch bemerkt werden, daß die
Anzahl der der ersten dieser Classen Angehörenden sicherlich
zehn bis zwanzigmal beträchtlicher ist als die der zweiten. Hält
man sich vorzüglich an die französische Hauptstadt, so zieht
eine sehr merkwürdige Thatsache unsere Aufmerksamkeit auf sich,
daß nämlich die meisten Strafen für Verbrechen nicht über Leute
aus der Classe der Arbeiter verhängt wurden, sondern über Leute
aus andern Ständen in der hier folgenden Ordnung:
Wirkliche oder angebliche Negocianten;
Commissionäre (agents
d'affaires);
Gerichts- oder Advocatenschreiber;
Mäkler, Verdinger und Zuführer von
Militärdienst-Ersazleuten;
in den Ruhestand zurükgetretene Officiere und Unterofficiere;
Schreiber und Copisten;
Musik-, Sprachlehrer u.s.f.;
Handlungsdiener und in Bankier- und andern
Geschäftshäusern Dienende;
Kaufleute;
einige andere sogenannte liberale Erwerbsarten.Man sehe den Bericht des Criminalgerichts von 1835 bis
1837; auch Fregier: Des Classes dangereuses dans les
grandes villes, tome I. p. 38
Vergleichen wir endlich die Anzahl der Angeklagten aus der
arbeitenden Classe mit jener aus der Classe der müßigen (fainéants), so erhalten wir
ein nicht minder auffallendes und belehrendes Resultat. Diese
leztern machen beinahe ein ganzes Achtel der Gesammtzahl der
Angeklagten vom Jahr 1837 aus, sind
nämlich 999.
Rechnet man nun noch die Vagabunden und Bettler hinzu, welche vor
das Zuchtpolizeigericht gebracht wurden und in diesem Jahre die
Zahl von 5000 überstiegen!
Man hüte sich also wohl, bei dem traurigen Anblik der im Umfang
der Stadt begangenen Verbrechen auf die arbeitsamen Familien ein
eben so betrübendes als ungerechtes Vorurtheil fallen lassen zu
wollen. Die Arbeit in Fabriken und Manufacturen ist weder
mitschuldig noch verantwortlich bei den von nichts thuenden
Leuten begangenen Verbrechen. Wird diese Brut müßiger
Vagabunden, von Thuenichtsen, welche auf Anderer Kosten zu leben
suchen, die wahre und wesentliche Pflanzschule der Missethäter,
nicht im Gegentheil durch die Gegenwart der Fabriken reducirt,
welche doch die Gelegenheit zur Arbeit und die dafür gebührende
Bezahlung darbieten? Will man auch annehmen, daß der Arbeitsmann
durch den Besuch der Werkstätten Gefahren für seine Sittlichkeit
begegnet, wird er nicht noch tausendmal ärgere Gefahren im
Müßiggang finden?
Es kann und soll übrigens hiemit nicht geläugnet werden, daß
andererseits bei einem großen Theile der Arbeiter viele Laster
zu Hause sind, und namentlich sind das die Trunkenheit und die
geschlechtliche Ausschweifung. Es liegen hierüber betrübende
Berichte über die Fabrikorte des Oberrheins (Mülhausen), der
Städte Lille, St. Quentin, Rouen, Rheims, Amiens, des Dorfes St.
Sauveur (Somme), der Stadt Avignon, und endlich über Paris
selbst vor, was bei der Rohheit der Individuen, welche hier in
Masse ohne Familienband zusammenleben, nicht zu verwundern ist.
Wir glaubten aber hier nur diesen bekannten und oft einseitig
ausgesprochenen Klagen obige zum Vortheile der Fabriken und
ihrer Arbeiter sprechende statistische Zusammenstellungen
entgegenhalten zu müssen, ohne in das weitere Detail dieser
ausführlichen Abhandlung noch weiter einzugehen.