Titel: | Ueber das Eisenbahnwesen in England; ein Schreiben von Hrn. Prevost, Directions-Mitglied der London-Birmingham-Eisenbahn, an Hrn. Delessert. |
Fundstelle: | Band 85, Jahrgang 1842, Nr. XXVII., S. 108 |
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XXVII.
Ueber das Eisenbahnwesen in England; ein
Schreiben von Hrn. Prevost, Directions-Mitglied der
London-Birmingham-Eisenbahn, an Hrn. Delessert.
Aus den Comptes rendus, Mai 1842, No. 20, S.
715.
Prevost, uͤber Anwendung vierraͤderiger Locomotiven
auf Eisenbahnen
Für Ihren Brief über das Schrekens-Ereigniß auf der Versailler Eisenbahn sage
ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank. Die Schuld scheint der Unvorsichtigkeit der
unglüklichen Maschinenleute zugeschrieben werden zu müssen, welche zu schnell
fuhren. Der anonyme Augenzeuge im Journal des
Débats beschreibt in glaubwürdigem Tone was er gesehen, und wenn es
daher wahr ist, daß der Führer der zweiten Maschine sein Feuer beim Abwärtsfahren
verstärkte, so findet der Unglüksfall hierin eine Erklärung. Die Heftigkeit des
Stoßes beweist übrigens, daß diese Geschwindigkeit unmäßig gewesen seyn muß.
Derselbe Fall ereignete sich am 2. Oktober v. J. auf der Brighton-Bahn. Die
ziemlich genau beobachtete Geschwindigkeit betrug 30 Meilen (engl. = 12 franz.
Lieues) in der Stunde auf einer in schlechtem Zustand befindlichen Bahn. Die erste,
ebenfalls vierräderige Maschine, sprang aus den Schienen, obwohl sie von der andern
nicht gestoßen wurde. Diese leztere hatte sechs Räder. Von den vier Maschinenführern
und Heizern wurden nur zwei getödtet; die beiden andern konnten, wiewohl verwundet,
vor der Untersuchungs-Jury Zeugniß ablegen; zwei Reisende im ersten
Coupé des ersten Waggons kamen ebenfalls ums Leben. Sonst wurde niemand
verwundet. Die aus Landleuten von der Nachbarschaft zusammengesezte Jury sprach sich
auf die Aussagen der beiden jungen, unerfahrnen Maschinenführer hin, gegen die
vierräderigen Maschinen aus und empfahl, dieselben von der Bahn zu entfernen, was
auch geschah.
Ich gehörte zu denjenigen, welche diesen Beschluß nicht billigten.
Die London-Birmingham-Bahn hat seit dem J. 1835 alles, was die
Locomotiven betrifft, dem Hrn. Bury unterstellt, welcher
allein unter den Fabrikanten ohne Anstand dabei beharrte, nur vierräderige Maschinen
zu verfertigen und anzuwenden und alle unsere Maschinen sind solche nach Bury's Muster. Im November 1837, kurz nach der Eröffnung
der Bahn, ging eine Locomotive, weil der Maschinenführer betrunken war, zu schnell,
sprang aus den Schienen und stürzte auf die andere Seite der Bahn, so wie auch ihr
Tender und vier oder fünf Wägen. Die Reisenden aber entkamen wie durch ein Wunder.
Dieß verhinderte die Gesellschaft nicht, sich fortwährend nur solcher Maschinen zu
bedienen. Seitdem gab es keinen Unglüksfall mehr, welchen man der Vierräderigkeit der Locomotiven
hätte beimessen können. Unsere Achsen brachen zwölf- bis fünfzehnmal, aber
beinahe immer hielt die Maschine aus und sezte ihren Weg fort. Hr. Bury schreibt es seiner innerhalb der Räder (nicht außen, wie bei den
meisten sechsräderigen Maschinen) angebrachten Unterstüzung zu, daß, wenn eine Achse
bricht, die sechsräderige Maschine öfters aus der Schiene tritt als die
vierräderige. Ich theile nun einen Auszug aus der officiellen Zusammenstellung aller
Unglüksfälle auf den englischen Eisenbahnen mit.
Jahr 1841.
Zahl der
Zahl der Personen
Ungluͤksfaͤlle
getoͤdtet.
verwundet.
1)
Ungluͤksfaͤlle, welche den
Reisendenbegegneten und deren Ursache nicht ihrerUnvorsichtigkeit
beigemessen werden kann
29
24
72
2)
Ungluͤksfaͤlle, an welchen
dieUnvorsichtigkeit der Reisenden Schuld ist,oder wo sie sich
nicht in das Reglementgefuͤgt haben
36
17
20
3)
Ungluͤksfaͤlle, welche den
Angestelltenbei den Eisenbahnen unter Umstaͤndenbegegneten,
wobei die Sicherheit desPublicums gar nicht gefaͤhrdet
war
60
28
36
–––––––––––––––––––––––––––
Summa. Großbritannien u. Irland, 1841
125
69
128
Von diesen 125 Unglüksfällen ereignete sich nicht ein einziger auf der
London-Birmingham-Bahn, deren Einnahme die stärkste ist, d.h. welche
am meisten Reisende und Waaren führt, welche Krümmungen und Steigungen und acht
Tunnels hat; sie sollte demzufolge dem Fünftheil der Unglüksfälle ausgesezt seyn.
Sie wird einstimmig die Musterbahn genannt.
Auch noch andere Bahnen als die London-Birminghamer bedienen sich der
vierräderigen Maschinen: die Midland-Counties und North-Union. Auf
diesen Bahnen ist der Oberdirector derselbe Freund Bury's, welcher die Anstellung dieses Ingenieurs bei der
London-Birmingham-Bahn bewirkte.
Es besteht in England keine gesezliche Bestimmung, welche eine gewisse Art von
Maschinen besonders gutheißt oder verbietet und es würde mir leid thun, wenn man in
Frankreich wegen dieses Unglüksfalls einen raschen Entschluß fassen würde. Ich
wiederhole Ihnen, daß
wir uns nur vierräderiger Maschinen bedienen und uns darüber keine Scrupel machen,
weil sich keine Unglüksfälle ereignen. Wir haben eine sehr sorgfältige Polizei und
strenge Verordnungen; wir belohnen die Maschinenführer und Heizer freigebig, wenn
sie sich gut aufführen, bestrafen sie aber auch für die geringsten Fehler.
Was ich wünschte, in der Praxis aber als unausführlich zu betrachten ist, das ist,
die Züge mit einer einzigen Maschine zu führen. Wir thun es hier nicht. Wir haben
beständig Züge mit zwei Maschinen. Auch hätte ich nach den Unglüksfällen gewünscht,
einen Bagage- oder Waaren-Waggon zwischen der Locomotive und den
Reisenden zu wissen; es wurde dieß aber niemals eingeführt. Die Reisenden kommen
unmittelbar hinter den Tender. Unthunlich wäre es übrigens, mehr als einen solchen
Waggon zwischen die Maschine und die Reisenden zu bringen.
Die Hauptursache der Größe des Unglüks bei dem Ereigniß zu Meudon war die unmäßige
Geschwindigkeit. Man könnte die 12 Lieues in der Stunde übersteigenden
Geschwindigkeiten beim Bergabfahren verbieten. Wir fahren indessen in der Regel 15
Lieues in der Stunde.
Schließlich bemerke ich Ihnen, daß wir die Wagen bei den meisten Eisenbahnen nur auf
einer Seite verschließen. Auf der Great-Western-Bahn werden sie auf
beiden Seiten verschlossen.