Titel: | Ueber die Kost der belgischen Bergleute; von Hrn. v. Gasparin. |
Fundstelle: | Band 116, Jahrgang 1850, Nr. LXXIX., S. 395 |
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LXXIX.
Ueber die Kost der belgischen Bergleute; von Hrn.
v.
Gasparin.
Aus den Comptes rendus, April 1850, Nr.
14.
Gasparin, über die Kost der belgischen Bergleute.
Ein Beispiel einer ungemein sparsamen Lebensweise bieten uns die Gebirgsbewohner des
mittlern Frankreichs dar, namentlich auch in ihrer Nahrungsweise; doch bestimmt sie
die Nothwendigkeit, die zu ihren Arbeiten erforderliche Muskelkraft zu erhalten,
mehr zur Sparsamkeit in der Auswahl ihrer Nahrungsmittel
als in deren Menge.
Auf der französisch-belgischen Gränze hatte ich Gelegenheit eine andere Art
Sparsamkeit in der Kost zu beobachten; diese bezieht sich auf das Quantum der
Nahrungsmittel. Die Bergleute in der Umgegend von Charleroi haben die Aufgabe
gelöst, sich auf das Vollkommenste zu nähren, ihre Gesundheit und eine große
Muskelkraft durch eine
Kost zu conserviren, welche nur halbsoviel nährende Bestandtheile enthält, als die
im übrigen Europa gebräuchliche Kost. Ehe ich dieselbe beschreibe, muß ich einige
Sätze vorausschicken, welche mir wohl alle Sachverständigen zugeben werden.
Die menschliche Kost besteht überall aus Substanzen, die man für geeignet erkannt
hat, sich der Wirkung der Verdauungsorgane zu fügen, und welche man Nahrungsmittel
nennt. Dieselben enthalten stets eiweißartige Stoffe und stickstofffreie ternäre
Substanzen. Beide sind mehr oder weniger vom Holzstoff umhüllt und geschützt und mit
verschiedenen Nebenbestandtheilen, z.B. ätherischen Oelen, Salzen, Erden etc.
verbunden.
Letztere Substanzen, indem sie sich der Verdauung mehr oder weniger widersetzen, sind
die Ursache, daß der relative Werth der Nahrungsmittel mit ihrem Gehalt an wirklich
nährenden Bestandtheilen nicht in genauem Verhältniß steht.
Wenn man aber nur die wirklich nährenden Bestandtheile in den verschiedenen Arten der
menschlichen Kost in Betracht zieht, so findet man, daß ihre Elemente kein
constantes Verhältniß behaupten, daß z.B. in der Nahrung der englischen Arbeiter auf
der Rouener Eisenbahn, der Stickstoff sich zum Kohlenstoff verhält wie 100 zu 1887,
in jener der Irländer in ihrem eigenen Lande, wo die Kartoffel das
Hauptnahrungsmittel bildet, der Stickstoff sich zum Kohlenstoff verhält = 100 :
3942. Die Menge der kohlenstoffhaltigen Substanzen ist sonach in den Nahrungsmitteln
sehr veränderlich und hat keine andern Gränzen als den Rauminhalt (die Capacität)
der Organe.
Anders verhält es sich mit den eiweißstoffhaltigen Körpern, welche vom Stickstoff
repräsentirt werden.
Aus meinen, in vielen Departements angestellten Untersuchungen geht hervor, daß in
der täglichen Nahrung eines Erwachsenen der Stickstoff zwischen 20 und 26 Grammen
beträgt.
Folgendes ist nun die von mir in Belgien beobachtete, den Gegenstand dieser
Mittheilung bildende Thatsache. Die Analyse ergibt, daß die Kost der Arbeiter in der
Umgegend von Charleroi nicht mehr als 14,820 Gramme Stickstoff enthält, und was ihre
Lebensweise von andern zu unterscheiden scheint, ist lediglich der Kaffee, welcher
bei jeder Mahlzeit getrunken wird.
Diese Nahrungsweise ist folgende:
Des Morgens, wann der Arbeiter aufsteht, bereitet er sich den sogenannten Kaffee; es
ist dieß ein sehr schwacher Aufguß von beiläufig gleichen Theilen Kaffee und
Cichorie. Dieses Getränke, welchem ein Zehntheil Milch zugesetzt wird, macht beinahe
den ganzen flüssigen Theil seiner Nahrung aus. Ehe er an seine Arbeit geht, nimmt
der Bergmann ein gutes halbes Liter von diesem Kaffee und verzehrt dazu ein gutes
Stück mit Butter bestrichenes Weißbrod. Er nimmt solche Butterbrode und höchstens 1
Liter Kaffee in einer Blechflasche mit sich in die Grube und verzehrt diesen Vorrath
den ganzen Tag über. Abends, wenn er heimkehrt, ißt er gesottene Kartoffeln mit
Kraut, oder sonst einem grünen Gemüse, und beschließt diese Mahlzeit wieder mit
einem Butterbrod und einer Tasse von seinem Kaffee.
Alle über diesen Gegenstand vernommenen Arbeiter erklärten, daß sie in zwei Tagen
einen Laib Brod verzehren; ein solcher Laib wiegt etwa 4 Pfd., was für den Mann
täglich 2 Pfd. oder 1 Kilogr. beträgt. Fleisch essen sie nur am Sonntag und hohen
Festtagen, wo auch jeder ein paar Liter Bier trinkt. Ihr Brod ist immer weiß und
gut; aber nur einige bevorzugte Arbeiter essen auch an einen andern Tag der Woche
Fleisch; es ist dieß eine sehr seltene Ausnahme. Die Menge Butters, welche ein
Bergmann verzehrt, kann zu 2 Unzen (60 Grammen) für den Tag angeschlagen werden. Die
täglich verzehrte Menge Kaffee und Cichorie beträgt ungefähr 1 Unze (30,59 Gramme)
von jedem. Die am Abend verzehrte Portion Kartoffeln und Gemüse beträgt höchstens 1
1/2 Pfd. (750 Gramme). Die Woche über trinkt der Arbeiter weder Bier noch sonst eine
gegohrne Flüssigkeit; Kaffee ist sein einziges Getränke.
Diese Kost läßt sich also zurückführen auf 2 Liter Kaffee, 2/10 Liter Milch, 1
Kilogr. Brod, Butter in wandelbarer Menge, 750 Gramme grüner Gemüser; 1/2 Kilogr.
Fleisch per Woche, oder täglich im Mittel 73 Gramme; 2 Liter Bier in der Woche oder
durchschnittlich 286 Gr. per Tag.
Das Brod der Arbeiter zu Charleroi kann seinem Nährwerthe nach dem sogenannten
Pariser 4 Pfd.-Brod gleichgesetzt werden, welches 1,25 Procent Stickstoff
enthält.
Aus Payen's Analysen ersehen wir, daß 100 Gramme
gemahlenen Kaffee's einen Aufguß geben, welcher 0,726 Gramme Stickstoff, und 100
Gramme Cichorienpulver einen Aufguß, welcher 0,574 Gr. Stickstoff enthält.
Das Fleisch in seinem Normalzustand, mit dem gewöhnlichen Verhältniß Knochen, enthält
2,42 Proc. Stickstoff; die Milch 0,57 Proc.; Hie grünen Gemüser 0,36 Proc.
Die in der Regel von Käsestoff schlecht befreite Butter enthält noch 0,64 Procent
Stickstoff.
Hienach ergibt die Kost der belgischen Bergleute folgende Zahlen:
Gr. Stickstoff.
2 Liter sogenannter Kaffee:
Kaffee
30,59 Gr.
0,222
Cichorie
30,59
0,176
Milch
2/10 Liter
0,114
1 Kilogr.
Brod
12,500
60 Gramme Butter
0,004
750 –
grüne Gemüser
0,037
73 –
Fleisch
1,767
––––––––––
14,820.
Die eiweißartigen Substanzen in der Nahrung der belgischen Bergleute repräsentiren
also statt 23, nur 15 Gramme Stickstoff. Diese Nahrung ist auch geringer als
diejenige der strengsten religiösen Orden, welche sich casteien. Ich habe die
Nahrung der Mönche von La Trappe, Aiguebelle (Drôme) untersucht und
analysirt; die blasse Gesichtsfarbe, der langsame Gang dieser Mönche, die wenige
mechanische Arbeit die sie zu verrichten haben, und welche die Arbeiter der Umgegend
nicht über den fünften Theil der ihrigen anschlagen, bezeugen daß ihre Kost unter
den Umständen, worin sie sich befinden, das Minimum erreicht. Nun enthält sie aber
15 Gramme Stickstoff und 402 Gramme Kohlenstoff.
Die Nahrung jener Bergleute ist auch geringer als diejenige der Gefangenen in unseren
Centralgefängnissen, deren Arbeit beinahe Null ist, oder sich auf leichte Bewegung
der Arme beschränkt, die mehr Aufmerksamkeit und Geschicklichkeit erfordert als
Anstrengung. Ihre tägliche Kost enthält 16,56 Gr. Stickstoff und 475 Gr.
Kohlenstoff.
Nun ist aber zu bemerken, daß der Bergmann, welcher die beschriebene, scheinbar so
geringe Kost erhält, einer der kräftigsten Arbeiter ist; und daß wenn die
französischen Bergleute, z.B. von Anzin, welche eine viel reichlichere Kost haben,
in den Gruben von Charleroi zu arbeiten versuchen, sie dieß bald wieder aufgeben
müssen, weil sie dem belgischen Arbeiter in seiner Arbeit nicht folgen können.
Nur der Kaffee macht es diesen Bergleuten möglich sich mit einer Kost zu begnügen,
welche sonst für Kinder nicht hinreichen würde; derselbe wirkt hier nicht als
nährende Substanz, indem die Analyse nachweist, daß auf ihn nur 1/35 des
Ernährungsvermögens sämmtlicher Nahrungsmittel trifft. Der Kaffee besitzt sonach
andere Eigenschaften, welche sehr zu beachten sind.
Begünstigt er eine vollständigere Verdauung? Veranlaßt er eine vollkommenere
Assimilirung? Oder ist er etwa dem Stoffwechsel der Organe nicht hinderlich, so daß
diese nicht soviel Material zu consumiren brauchen, um sich zu regeneriren oder zu
erhalten?
Nach diesen Ansichten war ich im Begriff, die Wirkungen des Kaffee's auf die
Excremente zu untersuchen, als ich von den neuen Versuchen, welche Böcker in dieser Hinsicht anstellte,Beiträge zur Heilkunde. Crefeld 1849. Bd. I. S. 188 etc. Kunde erhielt. Aus denselben geht hervor, daß wenn die betreffenden
Individuen keinen Kaffee genommen hatten, sie in 24 Stunden 1364,5 Gramme Harn
ließen, welcher 22,275 Harnstoff, 0,578 Harnsäure und 1,291 Phosphorsäure enthielt;
wenn sie aber Kaffee tranken, ihr Harn sich auf 1733,75 Gramme vermehrte, der aber
nur 12,585 Gramme Harnstoff, 0,402 Harnsäure und 0,854 Phosphorsäure enthielt (S.
198). Wenn weitere Versuche diese Resultate bestätigen, so lassen sich oben
berichtete Thatsachen leicht erklären.
Uebrigens ist es bekannt, wie mäßig die Völker sind, welche viel Kaffee trinken. Die
wunderbaren Entbehrungen der Karawanen, die so wenig nahrhafte Kost der arabischen
Völker, dienen als genügende Gewähr für die Wirkungen, die man diesem Getränke
zuschreiben kann; auch betrachten die französischen Truppen auf ihren ermüdenden
Märschen in Algier den Genuß von Kaffee als eines der besten Mittel, um solche
Anstrengungen aushalten zu können.
Es müssen auch noch andere Substanzen ähnliche Wirkungen haben; man erinnere sich nur
des im südlichen Europa so allgemeinen Gebrauchs der Knoblauchszwiebel. Andererseits
hat Hr. Barral unlängst
gezeigt, daß der Genuß des Kochsalzes das Verhältniß des Harnstoffs und der
Harnsäure im Harn sehr vermehrt, also eine jener des Kaffee's gerade
entgegengesetzte Wirkung habe.Statique chimique des animaux, p. 442. Man
vergleiche auch polyt. Journal Bd. CXV S.
230.
Der Wohlstand unter jenen Bergleuten, für welche der Kaffee das Hauptnahrungsmittel
ist, kann nicht in Zweifel gezogen werden; es gibt in ihrer Gegend keine andern
Armen, als diejenigen welche durch zufällige Verletzungen, wie sie in den Gruben nur
gar zu oft vorkommen, verhindert sind zu arbeiten. Ein mit dem Land Wohl bekannter
alter Vorarbeiter, der selbst einfacher Arbeiter war, versicherte mir, daß ein Mann mit seiner Frau
und sechs Kindern mit seinem Taglohn von 2 Franken lebt, ohne Schulden zu
machen.
Diese Thatsachen verdienen alle Beachtung von Seite der Chemiker, Aerzte und
Oekonomen. Wenn es erwiesen würde, daß der Genuß des Kaffee's dem Menschen, ohne
seiner Gesundheit, der Entwickelung und Erhaltung seiner Kräfte zu schaden,
gestattet sich mit viel weniger Nahrung zu begnügen, so wäre dem Mangel in theuern
Zeiten viel leichter abzuhelfen, und es wäre Pflicht des Staats den Genuß dieses
Getränkes auf jede Weise zu erleichtern.
Bemerkungen über vorstehende
Mittheilung; von Hrn. Magendie.
Es ist wahr, daß Nahrungsmittel, welche wenig oder keinen Stickstoff enthalten, nicht
nahrhaft sind; ich habe dieß selbst schon vor vielen Jahren nachgewiesen; daraus
aber schließen zu wollen, wie es jetzt häufig geschieht, daß der Stickstoffgehalt
einer Speise ihr Nährvermögen genau repräsentirt, hieße über die gerechtfertigen
Schlüsse aus den über diesen Punkt der Physiologie angestellten Versuchen weit
hinausgehen.
Viele sehr stickstoffhaltige Substanzen sind nicht nahrhaft. Thiere sterben an
Entkräftung, wenn sie bedeutende Mengen Gallerte, Eiweiß etc. verzehren; sie sterben
in demselben Zeitraum, wie wenn sie bloß Wasser zur Nahrung erhalten hätten, was die
Commission für die d'Arcet'sche Gallerte durch viele
Versuche nachgewiesen hat. Selbst das Fibrin (der thierische Faserstoff), die
Hauptgrundlage des Muskelfleisches, ist nicht nährend, ehe es seine geheimnißvolle
Umwandlung in Muskeln durchgemacht hat. Hunde, welchen man täglich mehrere Kilogr.
Blutfibrin zu fressen gibt und die es vollkommen verdauen, sterben dennoch daran mit
allen Symptomen der Entkräftung, nachdem sie einen Monat lang diese sehr
stickstoffreiche Kost genossen. Dasselbe Fibrin, in vortrefflicher Fleischbrühe
gekocht, wodurch ihm die wohlschmeckenden und salzigen Bestandtheile des Fleisches
mitgetheilt werden, Hunden als ausschließliche Nahrung gegeben, wurde von denselben
mit vieler Begierde gefressen, nährte sie aber auch nicht besser; während Hunde, die
ausschließlich mit Kleber gefüttert werden, recht gut und sehr lange Zeit davon
genährt werden.
Rohes Fleisch nährt sehr gut in sehr kleiner Dosis. Gedörrtes (ausgetrocknetes)
Fleisch nährt viel weniger. Ich habe mich durch Versuche überzeugt, daß man einem
fleischfressenden Thiere, um es zu ernähren, ebenso viel getrocknetes Fleisch geben
muß als rohes; der Unterschied im Stickstoffgehalt ist bei diesen zwei
Nahrungsmitteln ein ungeheurer, indem das rohe Fleisch beim Austrocknen oft neun
Zehntheile seines Gewichtes verliert, und doch allen seinen Stickstoff behält; es
war also bei diesen Versuchen 9–10mal soviel Stickstoff erforderlich um bei
der Ernährung dasselbe Resultat zu erreichen.
Woher nun dieser bedeutende Unterschied des Nährvermögens bei einer und derselben
Substanz? Sollte etwa die Wärme, welche meistens zum Austrocknen angewandt wird, auf
ähnliche Weise wie bei den Gährungsstoffen, gewisse Eigenschaften des
Muskelfleisches zerstören?
Ich habe schließlich nur noch zu bemerken, daß hinsichtlich der Theorie der Ernährung
alles noch in einen undurchdringlichen Schleier gehüllt ist. Wir wissen über diesen
so wichtigen Proceß nichts oder fast nichts. Wir beginnen wohl, in Folge der neuern
Arbeiten der Physiologen, insbesondere des Hrn. Bernard, die verschiedenen Vorgänge der
Verdauung zu begreifen; aber alles was nach der Bildung und Absorption des Chylus,
was im Blute, in den organischen Geweben und Flüssigkeiten innerlichst vorgeht, ist
noch in völliges Dunkel gehüllt.
Man kann folglich aus dem Verhältniß des Stickstoffs zu den übrigen chemischen
Elementen eines Nahrungsmittels, nicht entfernt auf dessen Nährvermögen
schließen.