Titel: | Ueber die chlorige Säure; von Dr. J. Schiel. |
Fundstelle: | Band 152, Jahrgang 1859, Nr. C., S. 377 |
Download: | XML |
C.
Ueber die chlorige Säure; von Dr. J. Schiel.
Aus den Annalen der Chemie und Pharmacie, 1859, Bd. CIX S.
317.
Schiel, über die chlorige Säure.
Zur Darstellung der chlorigen Säure empfiehlt Millon in
seiner bewundernswerthen Arbeit über die Oxyde des ChlorsPolytechn. Journal Bd. LXXXVI S.
348., eine Flasche von 300 bis 400 Kubikcentimeter Inhalt bis nahe an den Rand
mit einem Gemenge von chlorsaurem Kali, Weinsäure und verdünnter Salpetersäure zu
füllen und vorsichtig bis höchstens 45 bis 50° C. zu erhitzen. Es wird dabei
angerathen, weder das angegebene Maaß der Gutwickelungsflasche, noch die Temperatur
von 50° C. zu überschreiten, und die Hand- und Lehrbücher der Chemie,
namentlich das vortreffliche Lehrbuch von Otto-Graham, warnen sehr nachdrücklich und mit gesperrter Schrift
gegen eine Ueberschreitung dieser Gränzen. Es ist indessen die so ängstlich als
unerläßlich betrachtete Vorsicht ganz unnöthig, wenn man sich zur Darstellung der
chlorigen Säure eines reinen chlorsauren Kali's und einer reinen Salpetersäure
bedient; ich habe sogar in letzterer Zeit gefunden, daß ein sehr geringer Gehalt von
Schwefelsäure, der bei Zusatz von salpetersaurer Barytlösung noch im Stande ist eine
ziemlich starke Trübung zu erzeugen, die Anwendung der Salpetersäure nicht
beeinträchtigt. Ich habe die chlorige Säure aus Gefäßen dargestellt, die mehr als
den zwanzigfachen Inhalt der von Millon empfohlenen
Flaschen hatten und in denen daher mehrere Pfunde chlorsaures Kali zu einer
Operation verwendet werden konnten; die Temperatur des Wasserbades, welches die
Entwicklungsflasche aufnahm, war häufig über 60° C. Ein Erhitzen des Wasserbades über 57° C., eine Temperatur, bei
welcher die chlorige Säure sich zersetzt, hat keinen besondern Nachtheil, wenn man
sich einer etwas langhalsigen Flasche bedient, und
dieselbe in der Art füllt, daß der Hals, der sich vollständig
außerhalb des Wasserbades befinden muß, ungefähr zur Hälfte von der
Flüssigkeit eingenommen wird, nachdem sich dieselbe durch Erwärmen des Wasserbades
ausgedehnt hat.
Um sich zu überzeugen, daß bei dieser Anordnung des Apparates durch Ueberschreitung
einer Temperatur von 57° keine Explosion zu befürchten ist, braucht man nur
die Entwickelungsflasche mit einem Tuche zu umwickeln und das Wasserbad dann auf 100° C. zu
erhitzen. Ich habe, da mir in den Eigenschaften der chlorigen Säure kein Grund zu
einer Befürchtung heftiger Explosionen zu liegen schien, dieses Experiment mit
Kolben von 1000 bis 1200 Kubikcentimeter Inhalt mehrmals wiederholt, ohne daß dabei
jemals eine Explosion stattgefunden hätte; dagegen fand Explosion statt, als die aus
2 zwölfpfündigen Flaschen sich entwickelnde chlorige Säure in eine einzige, zur
Hälfte mit Wasser angefüllte Woulf'sche Flasche geleitet
wurde, um rasch eine gesättigte Lösung der Säure zu erhalten. Da hierbei das directe
Sonnenlicht nicht gänzlich abgeschlossen war, und dieß die Ursache der Zersetzung
der chlorigen Säure seyn konnte, so wurde der Versuch an einem schattigen Ort und
unter Einhaltung niedriger Temperaturverhältnisse wiederholt, allein das Resultat
war dasselbe. In beiden Fällen war indessen die Explosion so wenig heftig, daß die
Woulf'sche Flasche und die Verbindungsröhren ganz
unbeschädigt blieben; nur die beiden Entwickelungsflaschen zerbrachen, und auch
diese nicht direct durch die Gewalt der Explosion, sondern durch eine hüpfende
Bewegung, wobei ihre Böden beim Herabsinken herausbrachen. Ich muß diese Scheu der
chlorigen Säure vor doppelten Entwickelungsapparaten vor der Hand unerklärt lassen.
Bei Anwendung von einzelnen, obwohl sehr großen Entwickelungsflaschen ist mir
während einer Zeit von über 5 Monaten nicht der geringste Unfall passirt.
Zur Darstellung der chlorigen Säure bediene ich mich in der Regel eines Gemenges von
10 Theilen chlorsaurem Kali, 15 Theilen Salpetersäure von 1,30 spec. Gewicht, 3 bis
4 Theilen Rohrzucker und 15 bis 20 Theilen Wasser; es ist nicht nöthig den Zucker
oder das chlorsaure Kali zu pulvern, oder vor dem Einbringen in die Flasche zu
vermischen, wie Millon bei Anwendung der Weinsäure, wobei
es übrigens eben so wenig nöthig ist, empfiehlt.
Bei 8 bis 10° C. nimmt Wasser über das Zehnfache seines Volumens chloriger
Säure auf; die Lösung ist tief gelbroth, fast wie eine
etwas verdünnte Lösung von doppelt-chromsaurem Kali. Als desinficirende und
bleichende Flüssigkeit ist die Lösung der chlorigen Säure von um so größerem Werth,
als sie sich ziemlich lange ohne Zersetzung aufbewahren läßt. Die Bleichkraft der
concentrirten Säure ist nahezu die 14fache von der des Chlors.
Von allen Salzen der chlorigen Säure ist das Bleisalz das
merkwürdigste und interessanteste. Seine Eigenschaft, mit Schwefel gemengt, den
letzteren beim Reiben zu entzünden, eine Eigenschaft, welche Millon angegeben hat, empfiehlt von selbst eine technische Verwendung
dieses Salzes, auf die ich nicht die Absicht habe gegenwärtig einzugehen, und die mit größerer Gefahr
verbunden ist, als es auf den ersten Anblick scheinen mag.
Man darf einigermaßen bedeutende Quantitäten trockener Gemenge von chlorigsaurem
Bleioxyd mit Schwefel, oder einem Schwefelmetall aus der Reihe der elektronegativen
Metalle, wie Goldschwefel u.s.w. nicht sich selbst überlassen, da das Gemenge sich
nach einiger Zeit unter Explosion von selbst entzündet. Die chlorigsauren Salze
erleiden bekanntlich durch die Kohlensäure der Luft eine langsame Zersetzung, die
freiwerdende chlorige Säure oxydirt den Schwefel und das Gemenge erhitzt sich
dadurch allmählich bis zu einer Temperatur, welche die Explosion des Gemenges
veranlaßt. Bei Einhaltung gewisser Bedingungen kann man Gemenge darstellen, die fast
mit einer gewissen Regelmäßigkeit zu einer bestimmten Zeit mit großer Gewalt von
selbst explodiren.
Für die Darstellung des Bleisalzes neutralisirt man die concentrirte wässerige Lösung
der Säure mit Baryt oder wohlfeiler mit Kalkmilch nur so weit, daß die Lösung noch
schwach sauer bleibt. Um dieß bei raschem Arbeiten bequem und ohne Verlust von Säure
zu erreichen, setzt man am besten einen schwachen Ueberschuß von Kalk und dann
sogleich so viel von einer kleinen reservirten Portion chloriger Säure hinzu, daß
Lackmuspapier entfärbt wird. Die Kalkmilch muß rein seyn und sorgfältig von allem
körnigen Bodensatz getrennt werden. Nach einer Stunde wird die Lösung filtrirt und
ohne vorher einzudampfen mit salpetersaurem Bleioxyd gefällt. War die Lösung der
chlorigen Säure concentrirt, so kann man 120, sogar bis 140 Grm. chlorigsaures
Bleioxyd aus 1 Liter Säure erhalten, d.h. nahezu das Doppelte von dem, was Millon erhielt. Es scheint daß dieser Chemiker, der nur
mit kleinen Apparaten arbeitete, niemals eine vollständig gesättigte Lösung
chloriger Säure dargestellt hat.
Wenn man das chlorigsaure Bleioxyd aus einer warmen Lösung des Kalksalzes fällt, so
werden die Krystallschuppen etwas größer, als die des kalt gefällten Salzes; man
thut daher wohl, wenn man die filtrirte Lösung des Kaltsalzes vor dem Fällen auf
ungefähr 50 bis 60° C. erwärmt. Das gefällte Bleisalz wird mit warmem
destillirtem Wasser ausgewaschen.
Das chlorigsaure Bleioxyd zersetzt sich nicht wie Millon
angegeben bei 126° C., sondern schon bei der Siedhitze des Wassers, wenn es
längere Zeit in dieser Temperatur verweilt. Einige
vierzig Grm., die sammt Filter in einer Abdampfschale in ein geschlossenes
Wasserbad zum Trocknen gebracht worden waren, explodirten mit Hinterlassung einer
Schlacke von Chlorblei durch die offene Thermometerdille, aber so wenig heftig, daß
die Thür des kupfernen Wasserbades verschlossen blieb. Da die Gegenwart des Papierfilters
an dieser Zersetzung Schuld seyn konnte, so wurden 10 Grm. eines sorgfältig
präparirten lufttrockenen Salzes in einer wohlgereinigten Abdampfschale in einen
Trockenofen gebracht und das Wasser zum Sieden erhitzt, worauf die Zersetzung des
Salzes in ungefähr 20 Minuten unter derselben mäßigen Explosion erfolgte. Es ist
dieß eine merkwürdige und in gewisser Beziehung sehr schätzenswerthe Eigenschaft des
Salzes.
Ich bin jetzt damit beschäftigt, die Wirkung der chlorigen Säure auf organische
Substanzen, namentlich auf Harnstoff, Harnsäure und Eiweiß zu studiren.