Titel: | Skizzen aus der allgemeinen Londoner Industrie-Ausstellung im Jahre 1862; von Max Eyth. |
Autor: | Max Eyth [GND] |
Fundstelle: | Band 165, Jahrgang 1862, Nr. I., S. 1 |
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I.
Skizzen aus der allgemeinen Londoner
Industrie-Ausstellung im Jahre 1862; von Max Eyth.
Eyth, Skizzen aus der Londoner Ausstellung.
Ein rascher Gang durch das Gebäude, welches 33 Morgen mit einem Dache überdeckt, und
auf diesen 33 Morgen uns entfaltet, was 1000 Millionen Menschen in diesem
Augenblicke an Schönem, Großem und Nützlichem zu leisten im Stande sind, erfordert,
wenn man jedem der anziehendsten Gegenstände eine Minute widmen will, mindestens 9
bis 10 Stunden und mehr als die gewöhnliche physische und geistige Kraft des
Menschen auszuhalten im Stande ist. Niemand kann sich nach einem solchen Tagewerke
des Gefühles eines verwirrten Staunens erwehren, und so groß der erste Eindruck
gewesen seyn mochte, so nutzlos ist dieser erste Tag in Betreff jeder positiven
geistigen Errungenschaft vorübergegangen.
Eine Lehre hat er uns jedoch nichtsdestoweniger gegeben. Er zwang uns zur vollen
Anerkennung des Lebensprincips der englischen Industrie, das, je bälder desto
besser, das Lebensprincip jeder gewerblichen Entwickelung werden wird.
Arbeitstheilung im Gebiete des Beobachtens und Lernens so gut, als im Gebiete des
Producirens, ist die einzige Rettung aus diesem jedes individuelle Streben, jede
einzelne Kraft verschlingenden Reichthum von Intelligenz und Fleiß, und hier wo uns
dieß aus Allem so handgreiflich entgegentritt, wird der Gedanke mit einemmale zur
zwingenden Nothwendigkeit.
Vor 100 Jahren war es eine Forderung der Zeit, die engen Schranken, welche sich um
die Werkstätte des Arbeiters, wie um die Studirstube des Gelehrten gezogen, zu
durchbrechen und eine allgemeine Auffassung dessen zu gewinnen, was die Menschheit
leisten kann und zu leisten hat. Kein Volk erfaßte diese Aufgabe so klar, und ging
instinctiv so systematisch seinen Weg, als das deutsche. Kein Volk sicherlich
vereinigt jetzt einen solchen, durch alle Schichten der Gesellschaft verbreiteten
Schatz von gründlichem Wissen, und selbst – wenn auch zu wenig geübt –
von gründlichem Können, als das deutsche. Heute ist es eine Aufgabe der Zeit
– und sie verlangt ihre Lösung mit eiserner Bestimmtheit – aus dem
Allgemeinen wieder herabzusteigen ins Einzelne und sich mit dem zu begnügen, ein Glied in der
Kette des großen Ganzen zu seyn. Kein Volk verstand diese Aufgabe so rasch, als das
englische, und bei keinem Volke ruht heute verhältnißmäßig das materielle Wohl, von
dem schließlich im Leben der Völker doch Alles abhängt, auf einer so soliden Basis,
und – eigenthümlich genug – bei keinem ist die Entwickelung des
Individuums Vergleichungsweise so frei und ungehindert, als beim englischen, das die
individuelle Thätigkeit freiwillig mit den engsten Grenzen umzieht.
Der deutsche Geist sträubt sich gegen das Princip; die deutschen Verhältnisse im
industriellen Gebiete unterstützen dieses Widerstreben. Dieß wird so lange dauern,
bis wir uns an die Benützung der neuen Verhältnisse gewöhnt haben. Die
Verkehrsmittel haben sich seit 20 Jahren ins Unglaubliche gesteigert. Es gilt nun,
die Production entsprechend zu steigern, die Mittel des Verkehrs zu benützen. Der
englische Techniker kennt die Grenzen seines Wissens und Wirkens genau; sie sind oft
eng genug gesteckt, und keine pecuniären Anerbieten verleiten ihn, sie zu
überschreiten. Räumlich aber kennt er keine Grenzen: seine Locomotiven laufen in
Yorkshire und in Australien, seine Dreschmaschinen dreschen chinesisches Korn wie
den Weizen von Middlesex, seine Locomobilen rauchen am Fuße der Pyramiden, an den
Seehäfen der Südsee, und – was das schlimmste ist – im Herzen von
Deutschland.
Und das ganze Geheimniß, mit dem der englische Techniker die Welt erobert, ist
Arbeitstheilung, ist consequente Benützung der Verkehrsmittel und consequente
Beschränkung auf Specialitäten; das Eine bedingt das Andere. Aber mit beiden wird
der Engländer – trotz seiner neun Arbeitsstunden, trotz der verhältnißmäßig
geringen Verbreitung allgemeiner Kenntnisse, trotz des hohen Geldfußes – dem
fleißigen, bescheidenen, geschickten und geschulten Deutschen auf dem eigenen Grund
und Boden siegreich Concurrenz machen. In Deutschland – in Süddeutschland
besonders – zieht jede der kleinen Maschinenfabriken eine Grenzlinie zwischen
sich und den Nachbarn. Ist der Territorialkampf einigermaßen beigelegt, so bemüht
sie sich, in ihrem Gebiete, alles zu machen, was überhaupt zu machen ist, von der
eisernen Bettstätte bis zur Balanciermaschine. Mittlerweile schickt Clayton Dutzende von Locomobilen nach Ungarn und Italien,
und Hunderte nach Odessa, und Hick und Sohn setzt seine Dampfmaschinen trotz Zoll und Fracht den
deutschen Fabriken vor die Nase.
Was wir über die industrielle Production im allgemeinen gesagt, und was hier weiter
zu verfolgen nicht unsere Aufgabe ist, muß uns in gewissem Sinne bei einem Gange
durch das technische Gebiet der Industrieausstellung leiten. Es kann nicht unsere
Absicht seyn, den Leser systematisch und gründlich an Allem vorbeizuführen, was seit der
letzten allgemeinen Londoner Ausstellung in 11 Jahren von der Welt Neues ersonnen
und Altes verbessert und gefördert worden im bald nicht mehr zu übersehenden Gebiete
des Maschinenbaues. Wir verzichten auf ein System, und beschränken uns, den Leser
auf einige Industriezweige, auf einige Punkte in einigen Abtheilungen des großen
Ganzen aufmerksam zu machen.
So – beginnend in der nordöstlichen Ecke des Hauptgebäudes – gehen wir
ohne Aufenthalt durch den Vorhof des Maschinenbaues, durch die
Rohmaterialienausstellung Englands dem östlichen Annex entlang. Eine einheitlich
ordnende Hand hätte aus dem hier Vorhandenen eine selbst dem Laien überaus
anziehende Sammlung der Schätze des Landes schaffen können. Diese Hand jedoch
fehlte, und so bietet die ohnehin ungünstig gelegene Abtheilung im ersten Augenblick
den vielleicht wenigst anziehenden Theil des Gebäudes. Die Kohlenfelsstücke von
Lancashire und Yorkshire wechseln mit behauenen und unbehauenen Granit- und
Sandsteinsäulen. Zwischen Kupfer- und Zinkerzen hat die Taylor forge von Leeds ihre gewalzten und kaltgewundenen
Eisenschienen, haben die Monk-bridge Iron Works
ihre vortrefflichen Stirnbleche für Feuerbüchsen, hat Low
Moor aus Eisenplatten gepreßte, mehr als halbkugelförmig ein- und am
obern Rande umgebogene Schalen ausgestellt. Kaltverschlungene Rundstäbe von 3 und
mehr Zoll Durchmesser beweisen die unglaubliche Zähigkeit des Materials nicht mehr,
als es eine Reihe gebrochener und zerrissener Barren, Schienen und Bänder thun, die
aus den meisten der größeren englischen Werke vorliegen. Den Schluß bildet, zwischen
niedlichen Modellen von Hüttenwerken und Gruben, von Aufzügen und Fördermaschinen
ein Meisterwerk englischer Schmiedekunst, die von der Mersey
Steel and Iron Comp. ausgestellte doppeltgekröpfte Kurbelwelle für die
Maschinen von 1350 Pferdekräften der Dampffregatte „Minotaur“.
Der Schaft hat einen Durchmesser von 52 Centimeter, eine Länge von 10 Meter und
wiegt 24 Tonnen. Er ist ausgestellt wie er vom Dampfhammer kommt; ein würdiger
Repräsentant der rauhen Kraft und der geschickten Hand, welche die Grundlage all der
kühnen und geistreich ersonnenen Werke unseres Jahrhunderts bildet.
Von hier wenden wir uns links und befinden uns in der Abtheilung, der wir zunächst
die Aufmerksamkeit des Lesers zuwenden möchten.
Die Landbaumaschinen.
Kein Land, selbst Amerika nicht ausgenommen, ist in den letzten 16 Jahren so rüstig
und unermüdlich auf einem Pfade vorangeschritten, der seine großen und
eigenthümlichen Schwierigkeiten hatte, als England.
„Der Landbau ist ein Zweig des Ingenieurwesens geworden“ sagte
der gegenwärtige Präsident der Royal Society of
Engineers in seiner Antrittsrede, und sprach damit aus, daß der Pfad zu
einem gewissen Ziele geführt hat. Schlagender beweist es uns ein Gang über eines der
stolzen Güter in den Midlandgrafschaften, oder selbst über die hügeligen, mehr
abgelegenen Farmen der östlichen oder westlichen Landestheile. Ich hatte letzten
Herbst Gelegenheit, mehrere Wochen auf einem Gute an der Grenze von Essex und
Hertfordshire zuzubringen; die Gegend ist vergleichungsweise abgelegen; man vermißt
den gewohnten Anblick von Schornsteinen; und doch weckten mich – 10 engl.
Meilen von der nächsten Eisenbahnstation – jeden Morgen die schrillen Pfiffe
von sich antwortenden Dampfpfeifen, und ich hatte von meinem Fenster aus drei
Maschinen in Sicht, von denen die eine, hinter der Waldesecke, einen Drainpflug über
den zähen Boden schleppte, die zweite, auf einer ferneren Anhöhe, mit vier Scharen
zugleich das Land umbrach, und die dritte, in einem Schuppen am Hause stehend, das
kaum von Mähmaschinen niedergemachte Korn ausdrosch, und von der Dreschmaschine aus
auf die sich aufthürmenden „stays“
emporwarf.
Die Londoner Ausstellung im Jahre 1851 hatte der Welt den ersten Beweis geliefert,
daß es wirklich möglich ist, complicirt aussehende Maschinen in die Hand des
Landwirthes zu geben. Dieß war die eine große Schwierigkeit, und – wir sind
es überzeugt – das eine große Vorurtheil, mit dem der neue und eigenthümliche
Zweig der Technik zu kämpfen hatte. Aber schon damals waren es 4–5 Jahre,
seit Amerika seine Felder mit der Erntemaschine mähte, und England sein Korn mit
rotirenden Trommeln und Pferden drosch. Die Mäh- und Erntemaschine namentlich
war damals das Ereigniß des Tages. Sie erregte mit Recht die allgemeine, aber nicht
immer eine anerkennende Verwunderung. Seit der Zeit sind beide auf englischem Boden
so heimisch geworden, wie Dreschflegel und Sense selber, und nur die Einführung
dieser Maschinen und was sie weiteres brachten, hat den englischen Landbau unter der
Last der Korngesetze beim Leben erhalten.
Was sie weiteres brachten, zeigten jedes Jahr die Ausstellungen der Royal Agricultural Society of England, deren
tiefgreifenden Nutzen man kaum überschätzen kann; vor Allem aber und leichter zu
übersehen, die National-Ausstellung dieses Jahres. Es war bekanntlich
ausgesprochenes Princip der englischen Ausstellungscommission, nur die bedeutendsten
Fabriken ausstellen zu lassen. Daher kommt es, daß uns auch in diesem Gebiete nicht
jene bunte Mannichfaltigkeit entgegentritt, die sich sonst wohl entfaltet hätte. Was
jedoch ausgestellt ist, vertritt das allgemeine Ganze in der besten Weise, und gegen 130 Aussteller geben
uns ein vollständiges Bild, wie sich das Alte entwickelt und was an Neuem geschaffen
worden ist.
Wenn die Mähmaschine im Jahr 1851 die Ausstellung charakterisirte, so thut es dießmal
der Dampfpflug; damit kommen wir mit einem Male auf den
nervus rerum aller mechanischen Thätigkeit, auf
die
Motoren.
Ein Blick in den schmucken Hauptgang des östlichen Annexes, wo sich Gallerie an
Gallerie in der buntesten Mischung von Styl und Geschmack reiht, genügt, um uns den
Standpunkt der Zeil klar zu machen. Die niedlichen Pferdegöpel von Richmond und Chandler,
Garret's kräftige Apparate für 4 und 6 Pferde, oder Ransomes' und Sims'
Pferde-Dreschmaschinen verschwinden vor der Reihe von Kaminen, welche die
Gänge begrenzen und beweisen, wie energisch die Dampf-Pferdekraft das Pferd
auf seinem eigensten Gebiete angreift und zu verdrängen droht.
Die ersten Dampfmaschinen, welche für Agriculturzwecke verwendet wurden, waren
kleine, stationäre, meist horizontale Maschinen, welche in Schuppen an Stelle der
Pferdegöpel aufgestellt, Futterschneider, Dreschmaschinen oder Kornmühlen in
Bewegung setzten. Das Bedürfniß, diese Maschinen mit ihren mannichfaltigen
Verrichtungen an verschiedenen Orten zu gebrauchen, lag zu nahe, um nicht fast
gleichzeitig die ersten Locomobilen ins Leben zu rufen. Mehrere englische Fabriken
– Garret, Ransomes und Sims,
Hornsby etc. – streiten sich um die Ehre, in der Mitte der vierziger
Jahre das erste Gut mit der ersten Locomobile versehen zu haben. Auf der Ausstellung
im Jahre 1851 waren jedoch schon 10 Firmen mit dem neuen Motor vertreten, und schon
bedeutende Fortschritte in seiner Entwickelung gemacht, indem der Kohlenverbrauch,
welcher per Stunde und Pferdekraft bei den ersten
Exemplaren 28 Pfd. betrug, bei den Versuchen im J. 1851 auf durchschnittlich
10–12 Pfd. herabgesunken war. Doch sprachen sich selbst die Preisrichter mit
unverkennbarer Verwunderung über „die kleinen Maschinchen“ aus,
welche, obwohl von zwergartiger Gestalt im Vergleich mit Locomotiven, doch dieselbe
Compactheit der Form und die gleiche Fähigkeit haben zu arbeiten; und wenige ahnten,
welch tiefgreifenden Einfluß die neue Erscheinung gewinnen sollte.
Jetzt stehen neben den stationären landwirtschaftlichen Maschinen Locomobilen von 1
1/2 bis 20 Pferdekräften, – ferner die stattlichen selbstbeweglichen
Locomobilen mit ihren breiten Rädern – und die wuchtigen Straßenlocomotiven
von 40 und mehr Pferdekräften, und so ist man auf einem interessanten Umwege nach Jahrzehnten bei
dem Problem wieder angelangt, das mit der ersten Idee der Dampfkraft zusammenhängt
– nämlich dieselbe auf der gewöhnlichen Landstraße gebrauchen zu können
– und hat es endlich gelöst.
Großbritannien, Frankreich, Belgien und Deutschland haben ihr Contingent gestellt.
Hiebei ist England und Schottland durch 18 Aussteller vertreten; Frankreich schickt
6, Belgien 2 und Deutschland 1 Exemplar. Wir dürfen selbstverständlich nach diesen
Ziffern nicht das Verhältniß des Locomobilenbaues in den betreffenden Ländern
beurtheilen. Selbst bei einer Nationalausstellung wird das ausstellende Land, durch
die localen Verhältnisse begünstigt, stets ein entschiedenes Uebergewicht behaupten.
Andererseits ist der Grund, den wir so häufig, und besonders von unseren Landsleuten
für das Nichtbeschicken der hiesigen Ausstellung zu hören bekommen, in seinen Folgen
verderblich genug; „daß wir nach England doch keine Bestellungen
bekommen“, ist ohne Zweifel eine sehr richtige Vermuthung; es handelt
sich aber bei einer Nationalausstellung für uns keineswegs um Bestellungen nach
England, sondern nach Rußland, nach Italien, nach Ungarn, nach Polen, und leider vor
Allem darum, unsere eigenen Landsleute abzuhalten, ihren Bedarf in England zu
befriedigen. Locomobilen sind einer der bedeutendsten Handelsartikel im Gebiete des
Maschinenbaues; Clayton und Shuttleworth stellten von ihren Locomobilen Nr. 4703 aus, Tuxford Nr. 1084, Ransomes und
Sims Nr. 704, Robey Nr.
904, Barrett, Exall und Andrews Nr. 583, Garrett und Sohn weiß seine Nummer nicht, und Hornsby Nr. 400. Die locomobilen Pferdekräfte, welche England über seine
Grenzen geschickt hat, müssen nach Tausenden gezählt werden. Darauf rechnen die
englischen Fabrikanten, wenn sie 500 bis 800 Pfd. St. auf eine Ausstellung ihrer
Artikel verwenden, die ihnen sicher in England selbst kaum eine Bestellung mehr oder
weniger bringt, und bei der consequenten Verfolgung dieses Systems sind sie sicher,
sich nicht zu verrechnen.
Wie wir oben berührten, zerfallen die ausgestellten Maschinen wesentlich in drei
Gruppen, die sich im Lauf der letzten Jahre stetig aus einander entwickelten,
nämlich die gewöhnlichen von Pferden gezogenen Locomobilen, die selbstbeweglichen
Locomobilen und die Straßenlocomotiven (traction
engines). Die beiden letzteren sind nur durch englische Fabriken repräsentirt.
Von den ersteren sollte uns die Ausstellung wenigstens im Allgemeinen ein jedes Land
charakterisirendes Bild darbieten. Wir beginnen mit einer kurzen Musterung der
größeren englischen Hälfte.
(Die Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)