Titel: | Die Parrott-Kanone. |
Fundstelle: | Band 173, Jahrgang 1864, Nr. LXXVI., S. 321 |
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LXXVI.
Die Parrott-Kanone.
Ueber die Parrott-Kanone.
Unter dem Namen der Parrott-Kanone tritt in der Polemik
der neueren artilleristisch-technischen Literatur ein Geschützsystem auf, welches
gegenwärtig einen hervorragenden Theil des nordstaatlich amerikanischen
Artilleriematerials bildet und nicht nur seiner Qualität nach verschieden beurtheilt
wird, sondern auch über den Grad von Verdienst, welchen der Capitain Parrott, gegenwärtig Director der Geschützgießerei zu
Cold-Spring bei New-York, als Erfinder desselben beanspruchen kann, so sehr von
einander abweichende Meinungen zu Tage gefördert hat, daß es wohl von Interesse seyn
dürfte, einige dieser Gegensätze zur Vergleichung zusammen gestellt zu finden,
welchem Zwecke im Nachfolgenden entsprochen werden mag.
1) In dem Scientific American vom 24. October 1863 wird
diesem Systeme der Vorwurf gemacht, daß das Geschützrohr massiv ausgegossen und dann
gebohrt werde, während es hohl gegossen und dabei nach Rodman's Proceß abgekühlt werden müsseMan vergleiche Bd. CLXXI S. 34 dieses Journals, wornach dieser
Abkühlungsproceß von Innen nach Außen mittelst eines Stromes eiskalten
Wassers bewirkt wird, welchen man während des Gusses und während des
Rohrerkaltens durch den die Seele des Rohres bildenden Theil der Gußform
hindurchführt.Anm. des Einsenders.; ferner würde es besser seyn, Mündung und Seele des Rohres ganz nach Dahlgren's Muster auszuführen und an diesen Stellen nur
sehr wenig Metall fortzunehmen, damit denselben die feste Gußoberfläche möglichst
verbleibe. – Endlich heißt es dann in dieser Correspondenz: Während der
cylindrische Theil des Bodenstücks mit Schmiedeeisen verstärkt worden ist, hat man
den Stoßboden des Rohres lediglich durch Verstärkung des Gußmetalles haltbarer zu
machen gesucht; – es hätten um diesen Rohrtheil aber ebenwohl Bänder gelegt
werden sollen etc. –
Darauf erwiedern die Herausgeber des genannten Blattes: Unserem Correspondenten
scheint nicht bekannt geworden zu seyn, daß der gußeiserne
Theil des Parrott-Geschützes ganz durchbohrt und der Boden
desselben durch eine Schraube geschlossen ist etc. –
2) In demselben Blatte vom 7. November 1863 findet sich dann in einem, an die
Herausgeber des Scientific American gerichteten
Schreiben folgende, die vorstehende Mittheilung betreffende Entgegnung: Ihrem
Correspondenten scheint es entgangen zu seyn, daß zwischen dem rohen und dem
vollendeten Dahlgren-Geschütze ein größerer Unterschied
besteht, als dieß bei irgend einem anderen Geschütze der Fall ist, indem dasselbe
bei seinem Fertigmachen an der Mündung sehr viel Metall verlieren muß. – Die
Rodman'sche Gestaltung des Rohr-Inneren kann mit
Vortheil nur bei dem gegenwärtigen Columbino-Modell angewendet werden.
3) In Nr. 48 der zu Darmstadt erscheinenden Allgemeinen Militär-Zeitung von 1863
befindet sich unter der Ueberschrift: „Die amerikanische
Artillerie“ folgende auf den vorliegenden Gegenstand bezügliche
Miscelle:
„Das Bombardement von Fort Sumter hat den Beweis geliefert, daß es
keinerlei Schiffspanzer gibt, welche den amerikanischen gezogenen
Dreihundertpfündern widerstehen könnten, und daß also die Hauptwaffe, welche
England in einem Krieg mit den Vereinigten Staaten zu verwenden gedachte, stumpf
ist. Was wären die fünfzölligen Panzer des „Warrior“ gegen
Kanonen, deren Projectile auf mehr als 3000 Fuß Entfernung durch zehn Fuß dicke
Backsteinmauern wie durch mürben Käse gefahren sind, und deren Zielgenauigkeit
eine solche ist, daß auf dieselbe Entfernung eine einzige feindliche Kanone
durch einen einzigen wohlgezielten Schuß demontirt werden konnte?
England hat seit einer Reihe von Jahren großes Geschrei von seinen Verbesserungen
im Geschützwesen gemacht. Armstrong, Whitworth,
Blakely haben mit einander gewetteifert, und jedes neue Experiment ist,
wie in der Fabel von dem Hut, jede neue Façon, mit großem Jubel als
höchstmögliche Vervollkommnung gefeiert worden. Währenddem hat in der
Westpointgießerei am Hudson Robert Parrott in aller
Stille und Bescheidenheit seine Vervollkommnungen an schweren Geschützen
angebracht und endlich Kanonen hergestellt, von welchen selbst Engländer
gestehen müssen, daß, wenn sie 1854 solche gehabt hätten, die Belagerung von
Sebastopol nicht viel mehr Tage in Anspruch genommen hätte als sie Monate
gekostet hat. (Charleston aber ist trotzdem noch nicht gefallen.) Wie England zu
seiner berühmten „Enfieldbüchse“ die einfache amerikanische
Commiß-Büchsflinte zum Muster genommen hatDieser Angabe wird in einer späteren Correspondenz der Allgemeinen
Militär-Zeitung zu Gunsten der Originalität des englischen
Enfield-Gewehres widersprochen.Anm. des Einsenders., welche in der Regierungswerkstätte zu Springfield seit Jahrzehnten
verfertigt wird, so wird es sich jetzt wohl auch bequemen müssen, bei
amerikanischen Geschützgießern in die Lehre zu gehen.
Die Parrott'schen Geschütze vereinigen die drei
Haupterfordernisse guter Kanonen: Schwere des Projectils, Wurfweite und
Präcision, in größerer Vollkommenheit als irgend ein anderes bekanntes Geschütz.
Ihre beiden wesentlichsten Eigenthümlichkeiten bestehen in der Art und Weise wie
der Lauf stark genug gemacht wird, um die schwersten Ladungen auszuhalten, und
in der Beschützung der Züge gegen die Abreibung durch das Projectil. Die
Kräftigung des Laufes ermöglicht die Herstellung eines enormen Kalibers und
einer entsprechenden Wurfweite; die Beschützung der Züge garantirt die Präcision
des Schusses.
Durch vielfache Experimente ist festgestellt, daß die reagirende Gewalt einer
schweren Ladung auf den Lauf sich nur bis auf eine Entfernung von zwei Fuß vom
hinteren Ende des Laufes an erstreckt. Hierauf fußend, verstärkt Parrott nur dieses hintere Ende des Geschützlaufes,
und zwar dadurch, daß er Reifenbündel von Schmiedeeisen über und an einander und
um den Lauf schweißt, bis sie sich mit diesem zu einer compacten Masse
verbinden. Also ein Verfahren, welches an dasjenige bei der Herstellung des
Damascenerstahls erinnert. Ein so gestärkter Lauf vermag durch keine der selbst
zu den schwersten Projectilen gebrauchten Pulverladungen gesprengt zu werden.
Der Dreihundertpfünder, welcher bei der Beschießung des Forts Sumter explodirt
ist, ward nicht durch seine Pulverladung, sondern dadurch gesprengt, daß die
Bombe in Folge einer mangelhaften Zündervorrichtung im Lauf der Kanone
platzte.
Die Beschützung der Züge des Laufes wird dadurch bewirkt, daß das cylindrische Ende der Projectile in eine Composition
gehüllt wird, welche weicher als das Eisen ist und die von den Zügen
gefurcht wird, ohne ihrer Schärfe Abbruch zu thun. Diese Idee selbst ist nicht neu und soll auch nicht dafür
gelten; aber Sachverständige wissen sehr wohl, wie viele vergebliche Versuche in
Europa gemacht worden sind, eine dem Zweck vollkommen entsprechende Composition
und eine solche Art der Befestigung derselben zu entdecken, welche sie auf's
innigste mit dem Projectil selbst verbindet. Eben die darin liegende
Schwierigkeit ist von Parrott auf eine Weise gelöst,
für deren
Wirksamkeit das Ergebniß der Beschießung des Forts Sumter das beste Zeugniß
ablegt.
Die unter Leitung Parrott's stehende Geschützgießerei
der Vereinigten Staaten befindet sich zu Cold Springs am linken Ufer des Hudson,
der Militär-Akademie zu Westpoint gegenüber. Es werden dort sieben Kaliber
gegossen: 10 Pfünder, 20-, 30-, 60-, 100-, 200- und 300 Pfünder. Von den 100
Pfündern wird einer in einem Tage hergestellt, von den 200 Pfündern zwei in
einer Woche, die kleineren Kaliber in großer Menge. Man mag daraus abnehmen,
welche enorme Menge von Geschützen aus dieser Gießerei hervorgeht. An
Projectilen liefert sie ungefähr 10,000 Stück per
Woche. Die folgende Tabelle über die Schießweite der Parrott'schen Kanonen wird noch durch die im Laufe der Belagerung von
Charleston mit den 200- und 300 Pfündern zu machenden Versuche zu
vervollständigen seyn.
Kaliber.
Bohrdurchmesser.
Elevation.
Schießweite.
10 Pfünder
2,9 Zoll
1°
1800 engl. Fuß
10 „
2,9
„
20°
15000 „
20 „
3,67 „
1°
1860 „
20 „
3,67 „
15°
13200 „
30 „
4,2
„
3
3/4°
4500 „
30 „
4,2
„
25°
20100 „
100 „
6,2
„
3
1/4°
4350 „
100 „
6,2
„
25°
20460 „
100 „
6,2
„
35°
25359 „
Die letztere Entfernung wird mit einer Ladung von 16 Pfund Pulver und einem
80pfündigen Hohlgeschoß erreicht. Der Bohrdurchmesser der 200 Pfünder ist 8
Zoll, der 300 Pfünder 10 Zoll. Es war nicht ein 300 Pfünder, sondern ein 200
Pfünder (deren Hohlgeschosse wenig mehr als 150 Pfund wiegen), welcher auf eine
Entfernung von 27000 Fuß Bomben mit verderblicher Wirkung von Morris-Island bis
mitten in die Stadt Charleston warf. Uebrigens wird die Schießweite der 300
Pfünder keine viel größere seyn, sondern nur ihre Gewalt. Welches die Wirkung
der aus solchen Geschützen auf mäßigere Entfernung von einigen tausend Fuß
geschleuderten Projectile auf die so trefflich zu Zielscheiben dienenden steilen
Seiten der ungeschlachten europäischen Panzerschiffe seyn würde, läßt sich sehr
leicht berechnen, und – man hat es wahrscheinlich in England
berechnet.“
4) In Nr. 1 derselben Zeitung von 1864 tritt, als Entgegnung hierauf, unter dem
Titel: „Das moderne Artilleriewesen“ folgende Correspondenz aus
New-York auf.
„Zur Ergänzung Ihrer Mittheilung in Nr. 48 der Allg. Mlt. Zeit. über die
amerikanische Artillerie mag noch Folgendes dienen:
Die Parrott-Kanone ist eigentlich nicht die Erfindung
des Hrn. Robert Parrott von New-Hampshire, sondern
des Hrn. Eduard Lindner von Berlin. Dieser ersuchte
vor mehreren Jahren Hrn. Parrott, den Versuch zu
machen, gegossene eiserne Kanonen durch einen geschmiedeten eisernen Ring am
Bodenstücke zu verstärken. Parrott drückte sich
damals entschieden dahin aus, daß dieß eine Unmöglichkeit sey, da ein solcher
Ring nie fest am Gußeisen anliegen könne, und weigerte sich, derartige Versuche
anzustellen. Ein Jahr nachdem diese Unterredung stattfand, nahm Parrott sein Patent heraus, das hauptsächlich darin
besteht, daß er sein Bodenstück durch einen
schmiedeeisernen Ring verstärkte, gerade so wie es ihm Lindner angegeben hatte. Diese Thatsache wurde mir
von Lindner selbst mitgetheilt, und ich habe keine
Ursache daran zu zweifeln, sondern glaube fest, daß Parrott den „Smart-Maier“ gespielt. Die neueste
Erfindung Lindner's übertrifft jedoch die Parrott-Kanone, sowie jede andere, bedeutend. Diese
wird vom sogenannten Stoßboden aus geladen, ist vollständig „im
Block“ geschmiedet, dann gebohrt und gezogen, und in jeder
Beziehung von ausgezeichneter Construction. Lindner
fertigte einen 12 Pfünder dieser Art auf eigene Kosten an, welchen ich selbst
vor etwa einem Jahre in Manchester, N. H., probirte. Die Versuche fielen äußerst
günstig aus, über alles Erwarten gut, und eine besondere Eigenschaft seiner
Geschütze ist die, daß der Rücklauf vollständig aufgehoben ist, was sie
besonders für Schiffskanonen empfehlenswerth macht. Dieses Geschütz war in
West-Point aufgestellt und wurde daselbst von einer besonders dazu bestimmten
Commission untersucht und vielfachen Proben unterworfen. Die Commission sprach
sich vollständig zu Gunsten dieser neuen Erfindung aus, die keine einfache
Verbesserung des schon Dagewesenen, sondern die Verkörperung einer originellen
Idee ist. Daß die Lindner'sche Erfindung bei der
Vereinigten Staaten-Regierung keinen Anklang fand, mag wohl darin seine Ursache
haben, daß Parrott und Dahlgren dagegen wirkten, um ihre eigenen Producte im Marktpreise zu
erhalten. Das Anerbieten Lindner's, mit Dahlgren und Parrott um
die Wette zu schießen, wurde freundlich abgelehnt, und man ließ ihn mit seiner
Kanone abziehen, obgleich sie das beste, originellste, vollkommenste und
zweckdienlichste Erzeugniß der neuen Artilleriewissenschaft ist.“
5) In dem zweiten Hefte des Archives für die Officiere der königl. preußischen
Artillerie- und Ingenieur-Corps von 1864 findet sich in den von Artillerie-Hauptmann
Sander für dieses Blatt gelieferten
„Artilleristischen Aphorismen aus dem gegenwärtigen amerikanischen
Kriege,“ an verschiedenen Stellen desselben vertheilt, Folgendes auf
die vorliegende Frage Bezügliches:
„Parrott begann bereits 1856 die Versuche, aus
welchen sein gegenwärtiges System hervorgieng, und setzte sie, ohne von der
Regierung unterstützt zu werden, so eifrig und mit so vielem Glück fort, daß er
beim Ausbruch des Krieges große Bestellungen auf 10pfündige gezogene
Feldgeschütze übernehmen konnte. Die Vortrefflichkeit derselben bestimmte die
Regierung mit der in Angriff genommenen Beschaffung von Whithworth-Geschützen inne zu halten und sich ausschließlich dem
System Parrott's zuzuwenden; dieser fühlte sich
hierdurch bewogen, seine Fabricationsmethode auch auf schwerere Kaliber
anzuwenden, und ist schließlich dahin gelangt, wöchentlich 33 Geschützrohre vom
10 Pfünder bis zum 300 Pfünder (von den schwereren Kalibern täglich 1 bis 2)
liefern zu können. Bis zum Anfang September 1863 hatte die Armee der Nordstaaten
bereits 2500 derartiger Geschütze aus der in Rede stehenden Gießerei, die
überdieß nebenbei wöchentlich 10,000 Geschosse liefert, bezogen.
Die Parrott'schen Geschütze sind gezogene, von vorn zu ladende Geschütze, welche nach dem Urtheil der
Amerikaner die drei Haupterfordernisse guter Kanonen: Präcision,
Percussionskraft und große Schußweite in ganz besonders hohem Grade in sich
vereinigen. Ihre beiden wesentlichsten Eigenthümlichkeiten bestehen in der
Verstärkung des Rohres, um ihm selbst bei Anwendung der schwersten
Geschützladungen genügende Haltbarkeit zu verleihen, und in der besonderen
Einrichtung der Geschosse.
Parrott hatte, wie bereits vor ihm viele Andere, die
Wahrnehmung gemacht, daß die reagirende Gewalt einer starken resp. zu starken
Ladung auf das Rohr sich nur auf das Bodenstück, und zwar in der Regel bis zu 2'
Seelenlänge vom Boden an gerechnet, erstreckt; hiervon ausgehend, beschloß er
die bereits vor Jahrhunderten ausgeführte und neuerdings lebhaft ventilirte
Idee, die Geschützröhre durch umgelegte Reifen zu
verstärken, zur Ausführung zu bringen. Daß er
diese Idee mit dem entschiedensten und besten Erfolg in die Praxis zu
übertragen verstand, ist sein Verdienst, und die Art und Weise wie es
geschieht, seine Erfindung. In seiner bescheidenen und ruhigen Weise
macht er auch nur auf das eigenthümliche Verfahren bei der Befestigung seines
Verstärkungsringes, als einer von ihm herrührenden neuen Erfindung Anspruch: und
als der englische Capitän Blakely und der Professor
Treadwell von Cambridge in Massachusetts die
Behauptung aufstellten, bereits früher als Parrott
gußeiserne Reifen-Kanonen erfunden und angefertigt zu haben, trat er in einer
von ihm selbst verfaßten und vor Jahresfrist veröffentlichten Broschüre,
betitelt: „Thatsachen in Betreff der Reifen-Kanone,“ der
Beeinträchtigung seines Verdienstes entgegen. Er beweist in derselben, daß
derartige Geschütze bereits vor Jahrhunderten angefertigt wurden, gibt auch zu,
daß das von ihm angewandte Princip „der Zusammenschrumpfung der
Reifen“ schon früher bekannt gewesen sey, nimmt aber die Art und
Weise wie er diese Zusammenschrumpfung bewirkt, als seine eigene Erfindung gegen
Blakely und Treadwell
in Schutz.
So viel bis jetzt bekannt geworden ist, besteht das Parrott'sche Verfahren darin, daß um das Bodenstück des gußeisernen
gezogenen Rohres ein geschmiedeter Ring, oder vielmehr ein schmiedeeiserner
hohler Cylinder, gelegt wird. Der Ring ist aus verschiedenen übereinander und
aneinander geschweißten und gewalzten Reifenbündeln von Schmiedeeisen als ein
besonderes Stück fabricirt und besitzt eine lichte Weite, die ihn befähigt, auf
das Bodenstück des Rohres geschoben zu werden. Seine Stärke ist gleich dem
halben Bohrungsdurchmesser des zugehörigen Geschützes, und seine Länge eben nur
so groß, daß er diejenige Stelle des Rohres umgibt, an welcher Geschoß und
Ladung liegen. Eine größere Länge hält Parrott für nachtheilig. Sobald
der Ring hergerichtet ist, wird er erhitzt und im glühenden Zustande auf die
gewünschte Stelle des Rohres geschoben. Letzteres liegt dabei fast
horizontal und nur so wenig nach vorn geneigt, daß der Strom kalten Wassers,
welcher während der ganzen Procedur ununterbrochen in das Rohr geleitet wird
und dasselbe beständig abkühlt, ungehindert abfließen kann. Unter dem
Einfluß des kalten Wassers ist der geschmiedete Ring genöthigt sich von
Innen nach Außen, anstatt von Außen nach Innen abzukühlen. Die zuerst
kalt werdenden inneren Theile ziehen sich zuerst zusammen und nehmen allmählich
die äußeren wärmeren Theile derartig mit, daß der ganze Ring in der für seine
eigene Haltbarkeit und die Festigkeit seiner Verbindung mit dem Lauf günstigsten
Weise zusammenschrumpft.
Parrott fertigt gegenwärtig 7 Kaliber, und zwar: 10
Pfünder, 20- (Feldgeschütze), 30-, 60-, 100-, 200-, und 300 Pfünder (Festungs-,
Marine- und Belagerungsgeschütze). Diese Kaliber sind nach dem wirklichen
Gewichte ihrer Vollgeschosse benannt, und es entsprechen also 10- und 20 Pfünder
Feldgeschütze dieses Systems hinsichtlich des Kaliberdurchmessers etwa den gezogenen 4- und 6
Pfündern der preußischen Artillerie.
Der Parrott'sche 10 Pfünder hat drei Züge; seine
Geschosse sind theils solide Vollgeschosse (10 Pfund), theils Granaten (8 Pfd.),
Schrapnels und Kartätschen; die Ladung beträgt 1 Pfd., die Totalschußweite 5000
Yards. Das Rohr ist 8 Ctr. 90 Pfund schwer, hat einen Durchmesser von 2,90 Zoll,
eine Seelenlänge von 70 Zoll und gestattet mit Rücksicht auf seine Laffetirung
eine Elevation von 12–13 Grad, wobei eine Schußweite von 3000 bis 3500
Yards erzielt wird (bei 20° 5000 Yards). Die
Geschosse bestehen aus einem Eisenkern mit einer Hülle aus weicherem
Metall; ihre nähere Einrichtung werde ich weiter unten mittheilen. Zur
Laffetirung des 10 Pfünders wird die frühere 6 Pfünder-Laffete, nachdem dieselbe
mit der 12 Pfünder-Achse versehen worden, benutzt.
Er wird als leichtes Geschütz, der 20 Pfünder dagegen als Positions-Geschütz nur
in der Reserve-Artillerie verwandt. Der 20 Pfünder hat 5 Züge, sein Vollgeschoß
wiegt 20 Pfund, seine Granate 18 Pfund. Die Ladung beträgt 2 Pfund, die
Totalschußweite 4400 Yards bei 15° Elevation. Das Rohr ist 17 1/2 Centner
schwer, hat einen Bohrungsdurchmesser von 3,67 Zoll, eine Seelenlänge von 79
Zoll und ist mit der Laffete des 12pfündigen Kanons versehen. – Der
30-Pfünder mit 4,2 Zoll Bohrungsdurchmesser, folglich dem 9pfündigen Kaliber
deutscher Artillerie entsprechend, hat 120 Zoll Seelenlänge, 42 Centner
Rohrgewicht, 3 1/4 Pfund Ladung, Elevationen von 3 1/4 bis 25° und 6700
Yards Totalschußweite. Der für die Marine bestimmte 30 Pfünder ist etwas kürzer
und leichter als der für die Festungs- und Belagerungs-Artillerie bestimmte.
60 Pfünder sind zwar bestellt, aber bis jetzt noch nicht gefertigt worden, da die
Gießerei zunächst mit Lieferung von Feldgeschützen und 200- und 300 Pfündern
(letztere für die Belagerung von Charleston) vollauf zu thun hat. Es können
daher auch die Abmessungen etc. des 60 Pfünders hier noch nicht angegeben
werden. – 100 Pfünder: Bohrungsdurchmesser 6,40 Zoll, Seelenlänge 130
Zoll, Gewicht des Rohres 97 Centner, Ladung 10 Pfd., Elevation von 3 1/4 bis
25°, Totalschußweite 8453 Yards (entspricht dem ehemaligen 32 Pfünder).
Das Vollgeschoß des 100 Pfünders wiegt 99 1/2 Pfd. bis 101 Pfd., die Granate 80
Pfd. – 200 Pfünder: Bohrungsdurchmesser 8 Zoll, Seelenlänge 136 Zoll,
Gewicht des Rohres 165 Ctr., Ladung 16 Pfd., Elevation 3 1/4 bis 45°,
Totalschußweite wenig mehr als die des 100 Pfünders, aber bedeutend größere
Percussionskraft, das Gewicht der Granate 150 Pfd. – 300 Pfünder:
Bohrungsdurchmesser 10 Zoll, Seelenlänge 144 Zoll, Gewicht des Rohres 260 Ctr.,
Ladung 25 Pfd., Elevation 3 1/4 bis 45°, Totalschußweite 9000 Yards; das
Gewicht der mit 17 Pfund Sprengladung versehenen Granate beträgt 260 Pfd., ihre
Länge ist 3 Fuß.
Bei Gelegenheit der ersten mit dem 300 Pfünder angestellten Versuche zerschlug
das Vollgeschoß eine 9 Zoll dicke schmiedeeiserne Platte und drang durch die
dahinter liegende 2 Fuß starke Eichenholzwand; in einem anderen Falle
durchbohrte sie eine 26 Fuß starke Brustwehr. Was die Laffetirung dieser
schweren Geschütze anbelangt, so wird für den 30 Pfünder die frühere 18pfündige
Feldlaffete verwendet, während für den 100-, 200- und 300 Pfünder besondere
eiserne und hölzerne Laffeten construirt werden mußten. Die Geschwindigkeit der
Parrott'schen Geschosse beträgt:
bei„„
Entfernungen„„
unter 4000
Yards „
6000 „über 6000 „
hinaus
= 900 Fuß= 800 „= 700
„
in der Secunde.
Die Construction der Geschosse beruht, mit Rücksicht auf
das in Anwendung kommende Vorderladungssystem, auf anderen Principien, als
die Construction der preußischen für das Hinterladungssystem berechneten
Geschosse. Bei letzteren gieng man von der Bedingung aus, daß der
Bleimantel auf dem Geschoßkern, während des Schusses weder innerhalb noch
außerhalb des Rohres eine Lockerung irgend einer Art erfahren sollte, eine
Bedingung, die in Verbindung mit der Rücksicht auf die zu seinem Hineintreiben
in die Züge erforderliche Gewalt, die Einrichtung des Ladens von hinten als eine
Nothwendigkeit erscheinen ließ. Die amerikanischen von vorn zu ladenden
Geschütze müssen dieser aus dem Hinterladungssystem erwachsenden Vortheile
entbehren. Sie bedürfen des Spielraums und werden in Folge dessen, selbst wenn
die Geschoßhülle vermittelst des Expansionssystems
theilweise in die Züge getrieben wird, sehr oft Veranlassungen zu einem
schlotternden Gange oder wohl gar zu plötzlichen Klemmungen geben. Daß hierdurch
nicht bloß die Präcision des Schusses, sondern auch die Haltbarkeit des Rohres
beeinträchtigt werden muß, liegt auf der Hand, und wenn auch Parrott behauptet, daß er durch die Construction
seiner Geschosse diesen Uebelständen vorgebeugt habe, so sprechen doch mehrfache
Vorkommnisse dafür, daß ihm dieß nicht in vollständig befriedigendem Grade
gelungen ist. Andererseits ist es allerdings nicht zu läugnen, daß die Anwendung
des Vorderladungssystems nicht bloß eine wesentliche Vereinfachung der
Rohrconstruction gestattet, sondern auch den Vortheil gewährt, ganz davon absehen zu
können, daß es bei den größeren oder vielmehr colossalen Kalibern und den ihnen
eigenthümlichen starken Ladungen sehr schwer seyn dürfte, einen Verschluß zu
construiren, welcher so gewaltigen Ladungen hinreichenden Widerstand
entgegenzustellen vermöchte.
Die kais. russische Regierung ist bei ihren schweren gezogenen Kalibern ebenfalls
dem Vorderladungssystem treu geblieben; wenigstens werden die 200 neunzölligen
Gußstahlrohre, welche sie zur Verstärkung der Armirung von Kronstadt und zur
Bewaffnung der im Bau begriffenen Monitors in der Gußstahlfabrik von Krupp in Bestellung gegeben hat, nach diesem System
gegossen.
Wie bereits erwähnt, sind die Parrott'schen Geschosse
auf das Expansionsgesetz basirt. Sie bestehen aus einem massiven oder hohlen 3
Kaliber langen Eisenkern (Vollgeschoß, Granate oder Schrapnel) und einem, an dem
unteren Theil desselben befestigten Mantel oder Ring von weicherem Metall.
Die Angaben über die Detail-Einrichtung der Geschosse sind sehr ungenau und
widersprechend; es läßt sich indeß aus denselben ersehen, daß der cylindrische Theil des Eisenkernes auf seiner äußeren
Fläche Falten oder Runzeln hat, welche zum Festhalten des aus einer
weicheren Metallcomposition bestehenden Mantels dienen. Dieser Mantel ist
jedoch nur dazu bestimmt, die Züge gegen Beschädigungen durch den Eisenkern
zu schützen; die eigentliche Führung des Geschosses übernimmt ein kupferner
napfförmiger (bei den schweren Kalibern
ringförmiger) Ansatz an der Basis des Geschosses,
dessen Ränder durch die Pulvergase aufgeweitet und in die Züge gedrückt
werden.
Sind diese Angaben richtig, dann liegt die Vermuthung nahe, daß die Führung viel
zu weit vom Schwerpunkt des Geschosses entfernt liegt, um eine sichere seyn zu
können.“
Werden aus den hier vorliegenden fünf Angaben nun zunächst die folgenden drei
Constructions-Principien:
1) Bodenverschluß des Kanonenrohres durch eine Schraube,
2) Bildung des inneren Rohrtheiles aus Gußeisen,
3) Verstärkung dieses inneren Rohrcylinders durch einen um dessen
Bodenstück gelegten Hohlcylinder von Schmiedeeisen, welcher in einem, durch
Erhitzung hervorgerufenen, ausgedehnten Zustande aufgetrieben und hiernach
möglichst rasch von Innen nach Außen abgekühlt wird,
zusammengefaßt und vergleicht man diese Constructions-Details
dann noch weiter mit dem Inhalte des Patentes, welches die HHrn. Whitworth und Hulse im August
v. J. in England genommen haben und dessen Uebersetzung in diesem Journal Bd. CLXXI
S. 33 mitgetheilt wurde, so ergibt sich daraus ziemlich deutlich daß mit dieser
Patentnahme annähernd eigentlich nur ein ausschließliches Vorrecht zur Anfertigung
der Parrott-Kanone in England erzielt worden ist und daß
die Erfolge dieses Geschützes in den dortigen wissenden Kreisen also doch wohl
imponirt haben müssen.
Was ferner die Einwendungen eines schon früher dagewesenen Vorschlages, das Rohr mit
schmiedeeisernen Reifen zu umgeben, anbelangt, so ist diese Methode der
Rohrverstärkung (cerclage) als solche allerdings schon
seit etwa 1382 angewendet worden, wie dieses die noch vorhandene „Dulle
Grete“ zu Gent beweistMan vergleiche Bd. CLXIX S. 94 dieses Journals.Anm. des Einsenders., dagegen aber ist die Art wie diese Verstärkungscylinder in Verbindung mit
der amerikanischen Methode des Geschützguß-Abkühlens von Innen nach Außen angewendet
werden, denn doch wohl eine Hrn. Parrott zuzuschreibende
Combination, und es wird diesem Theile seines Geschützsystemes deßhalb also
ebensowenig die Originalität abzusprechen seyn, als man es gerecht finden würde, das
Verdienst irgend einer anderen zweckmäßigen Verbesserung dadurch geschmälert
erblicken zu wollen, daß vielleicht schon von den Phöniziern etwas ähnliches bekannt
gewesen sey. Einem dringend hervortretenden Bedürfnisse mit den vorhandenen Mitteln
und zur rechten Zeit möglichst vollständig entsprochen zu haben, wird, trotz allen
Mäkelns daran, denn doch immer ein Verdienst bleiben, und dieses ist in dem
vorliegenden Falle dem Hrn. Parrott umsomehr zu
vindiciren, als er sein System von Vorderladungs-Geschützen außerdem noch mit einem
dahingehörigen Expansionsgeschoß versehen hat, welches, am meisten dem Müller'schen Geschosse des Schweizer-Geschützsystems
ähnelnd, und vielleicht wohl auch noch einer weiteren Verbesserung seiner Führung im
Rohre bedürftig, denn doch jedenfalls, mit verhältnißmäßig geringen Pulverladungen,
recht befriedigende Schießresultate hat erzielen lassen, und also den mit Spielraum
und größeren Ladungen abzufeuernden Warzen- und Leisten- etc. Geschossen der
Vorderladungsgeschütze europäischer Artillerien mindestens nicht nachstehen
dürfte.
Cassel, im April 1864.
Dy.,
Artillerie-Hauptmann.