Titel: | Bergeron's pneumatisches Eisenbahnsystem. |
Fundstelle: | Band 177, Jahrgang 1865, Nr. II., S. 13 |
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II.
Bergeron's
pneumatisches Eisenbahnsystem.
Bergeron's pneumatisches Eisenbahnsystem.
Ein interessantes Project ist in der letzten Zeit der Waadtländer Regierung zur
Ertheilung einer Concession eingereicht worden.
Die Stadt Lausanne liegt auf einem Hügel, welcher sich mit einem mittleren Gefäll von
10 Procent gegen die Ufer des Genfer-See's neigt. Die Höhendifferenz zwischen
dem Seespiegel und dem Hauptplatze und Ausgangspunkte der Stadt beträgt circa 400 Schweizer Fuß oder 120 Meter. Auf zwei
Drittelshöhe, d. i. ungefähr 250 Fuß über dem See und 150 Fuß unter der Stadt, liegt
der Bahnhof, in welchen vier Linien, von Genf, Neuenburg, Bern und Sitten (gegen
Italien) münden.
Die Verbindung zwischen der Stadt und dem Bahnhofe findet jetzt durch sehr steile und
unbequeme Straßen statt. Die Anlage von besseren Verbindungsadern nebst Vergrößerung
der Stadt gegen den Bahnhof zu und auf dem reizenden Hügel von Ouchy hat schon zu
vielen Projecten Anlaß gegeben, welche theilweise an Sonderinteressen, theilweise an
den topographischen Schwierigkeiten und dem Kostenpunkte gescheitert sind.
Herr Bergeron, ehemaliger Oberingenieur der französischen
Westbahnen, derzeit Betriebspächter der Bahnen der Westschweiz, hat nun ein
Concessionsbegehren zur Errichtung einer pneumatischen Bahn zwischen der Stadt und
dem Bahnhofe eingereicht. Diese Bahn soll nach ähnlichem System wie die
Sydenham-Arsenal Eisenbahn angelegt werden. Der ganze Zug geht durch einen
Tunnel aus Cementbacksteinwerk oder Metall, füllt denselben durch einen Kolben aus,
welcher an einem der Waggons angebracht wird und dessen Rand der Reibung wegen mit
Bürsten versehen ist. Um diesen Zug im Innern des Tunnels in Bewegung zu setzen,
wird das eine Ende des Tunnels geschlossen. Je nach der Richtung, in welcher der Zug
gehen soll, bewirkt ein großer Ventilator eine Aspiration oder ein Gebläse, wodurch
die Luft etwa um 1/100 Atmosphäre verdichtet oder verdünnt wird.
Der Vorschlag des Herrn Bergeron ist von dem erwähnten
Systeme dadurch verschieden, daß die Bewegung des Zugs bloß nach einer Richtung hin und zwar durch
Gebläse vorgesehen ist, indem die abwärts gehenden Züge auf der außerordentlichen
Steigung (15 Procent) durch die Schwere allein in Bewegung gesetzt und nebst
speciellen Bremsapparaten hauptsächlich durch die comprimirte Luft zurückgehalten
würden. Ferner findet das Gebläse, mittelst welchem die Luft hinter den aufwärts
gehenden Zügen auf 1/20 Atmosphäre verdichtet werden soll, nicht mit Hülfe der
Ventilatoren statt, sondern zu diesem Zwecke dient ein Luftgasometer mit
Wasserverschluß von 150000 Kilogrammen Gewicht, welcher in hydraulischen
Verticalröhren vermittelst Kolben aufliegt und durch Dampfmaschinen vermittelst
hydraulischer Pressen mit Doppeleffect je um 10 Meter gehoben wird. Soll der Zug im
Tunnel nun aufwärts bewegt werden, so wird die Thüre hinter demselben, am unteren
Ende des Tunnels geschlossen und durch einen Seitencanal die Verbindung mit dem
Luftgasometer hergestellt, welcher 2500–3000 Kubikmeter Luft nach Maaßgabe
des Tunnelvolumens enthält. Der Gasometer sinkt nun mehr oder weniger schnell, je
nachdem man die Entleerung der hydraulischen Röhren unter den Stützkolben der Glocke
rasch bewerkstelligt. Zuerst wird die Luft um ein Zwanzigstel ihres Volumens
verdichtet, dann fängt sie an einen Zug von gewöhnlicher Schwere (30 Tonnen) in
Bewegung zu setzen, indem sie den Raum hinter dem Kolben desselben ausfüllt.
Die schöne Grundidee bei dieser Anwendung des Gasometers (d. i. der Seiler'schen aero-hydrostatischen Waage) liegt im
gegebenen Falle darin, daß der Gasometer nach Belieben sehr schnell fallen, mithin
den Zug sehr schnell befördern kann, und daß es hier möglich wird, einen großen
momentanen Effect mit einer verhältnißmäßig schwächeren aber
stetig arbeitenden Maschine zu erzielen. Beim gewöhnlichen Seilsystem z.B.
bedürfte es, um einen Zug von 30000 Kilogrammen während einer Minute um 50 Meter auf
einer Steigung von 15 Proc. zu heben, eines Kraftaufwandes von fast 1,550,000
Kilogr.-Metern, also einer Maschinenkraft von 1550000/(60 × 75) = 345
Pferden. Läßt man dagegen eine Maschine während 10 Minuten den Gasometer heben, so
erzielt man mit 35 Pferdekräften den gleichen Effect. Der Gasometer bildet also
hauptsächlich einen sogen. Accumulator, d. i. ein Magazin von aufgehäufter Kraft,
welche in einem gegebenen Augenblicke beliebig schnell verwendet werden kann. Es
entspricht dieser Umstand den Bedürfnissen einer Bahn, auf welcher in kurzen
Zeit-Intervallen Züge abgehen und möglichst schnell befördert werden
sollen.
Die Untersuchung der Vorschläge und Pläne des Herrn Bergeron
ist von dem Staatsrathe
des Cantons Waadt an eine Commission von fünf Mitgliedern gewiesen worden, in
welcher wir in erster Linie den berühmten Genfer Professor und Ingenieur Colladon antreffen, welcher zuerst die Anwendung
comprimirter Luft zur Entfernung des Wassers aus Fundirungen in Vorschlag brachte,
und dessen Bemühungen es gelang, die piemontesische Regierung im J. 1857 zur
Anwendung der comprimirten Luft bei den Mont-Cenis-Arbeiten zu
bewegen. Die anderen Mitglieder sind die Professoren Dufour und Margnet, und die Ingenieure Gonin und Lommel.
Das Project des Herrn Bergeron ist in seinen Einzelheiten
sehr schön und mit großer praktischer Sachkenntniß ausgearbeitet. Kein Zweifel, daß
es aus den Händen der Kommission zwar mit manchen Aenderungen und Zusätzen, aber als
ein desto vollkommeneres Studium hervorgehen werde. Die Einzelheiten, die
Detailvorrichtungen und Sicherheitsmaßregeln spielen hier eine sehr bedeutende
Rolle. Elektrische Signale, welche mit einem Zeigerapparat den Stand des Zugs im
Tunnel dem den Gang des Gasometers leitenden Mechaniker mittheilen –
Automobilthüren – und andere Vorrichtungen sind im Interesse der Sicherheit
geboten.
In Bezug auf allgemein rationellen Charakter und im Vergleich mit anderen Systemen
dürfte jedoch die Idee des Herrn Bergeron auf bedeutende
Einwände stoßen. Der Luftverlust durch den unentbehrlichen Spielraum zwischen Kolben
und Tunnel bildet einen noch wenig bekannten Factor und stellt sich nach einigen
Rechnungen über die Versuche in Sydenham so ungünstig, daß man in Bezug auf
Kraftaufwand und erzielten Effect auf ein Verhältniß wie 3 : 1 kommt. Für locale und
äußerst kurze Bahnen ergibt sich ferner noch der Uebelstand, daß die Waare oder der
Reisende nie an Ort und Stelle geliefert werden können, mithin also für dieselben
noch ein specieller Fahrten-Dienst erstellt werden muß. – Noch größere
Schwierigkeiten stellen sich der von Herrn Bergeron in
Aussicht gestellten Ueberschreitung der Alpen mittelst des pneumatischen Systems
entgegen. Man kann annehmen, daß bei größeren commerciellen Linien solche
complicirte Systeme dem Zwecke gar nicht entsprechen und zu schweren Enttäuschungen
führen würden.
Es ist jedenfalls für die Technik interessant und von Vortheil, daß solche Systeme in
kleinerem Maaßstabe probirt werden. Deßhalb würde es uns freuen, wenn der Vorschlag
des Herrn Ingenieur Bergeron zur Ausführung käme, und
wünschen wir gerne in diesem Falle dem Erfinder einen Erfolg, welcher unsere jetzige
Meinung beeinträchtigen würde.