Titel: | Ueber Boboeuf's Natronphenol; von Kuhlmann in Mülhausen. |
Fundstelle: | Band 182, Jahrgang 1866, Nr. LXXXVI., S. 311 |
Download: | XML |
LXXXVI.
Ueber Boboeuf's Natronphenol; von Kuhlmann in
Mülhausen.
Aus dem Bulletin de la Société industrielle de
Mulhouse, t. XXXVI p. 299; Juli 1866.
Boboeuf's Natronphenol.
Zu den Substanzen, welche nach ihrer Entdeckung sehr bald auch in weiteren als bloß
wissenschaftlichen Kreisen allgemeiner bekannt wurden, gehört vorzugsweise das Phenol oder die Phenylsäure.
Viele Stimmen erhoben sich zu Gunsten der therapeutischen Verwendbarkeit dieses
Körpers, während andere dieselbe bestritten.
Im Herbst vorigen Jahres übergab der Chemiker Boboeuf in
Paris, welcher sich mit dieser Substanz speciell beschäftigte, der
Industriegesellschaft in Mülhausen eine sehr eingehende Abhandlung über diese
Streitfrage. Der Verfasser weist in seiner Arbeit den bedeutenden Vortheil nach, der
sich aus dem Steinkohlentheer, diesem so lästigen Nebenproducte der Leuchtgasfabrication, ziehen
läßt; er verwirft in therapeutischer Hinsicht die ausschließliche Anwendung der
Phenylsäure, welche er für zu ätzend erklärt, und empfiehlt ein anderes Präparat,
das Natronphenol, welches dieselben Wirkungen wie die
freie Säure, jedoch ohne deren gefährliche Nebeneigenschaften, besitze.
Bei seinen Versuchen zur Auffindung eines billigen und vortheilhaften Verfahrens zur
fabrikmäßigen Darstellung der Benzine (Leichtöle) erkannte er an den übrigen
Bestandtheilen des Steinkohlentheeres verschiedene, denen der Phenylsäure analoge
Eigenschaften. Da nun dieser Theer nur 3 Proc. Benzin und 10 Proc. Phenylsäure
enthält, so bleiben über 80 Proc. Substanzen übrig, welche für die Industrie bisher
ohne Werth waren. Diese Körper, welche aus sauren wesentlichen
Oelen bestehen, besitzen in gleichem Grade wie die Phenylsäure die
Eigenschaft, thierische und pflanzliche Substanzen zu conserviren, die durch
Insecten hervorgebrachten Verwüstungen aufzuhalten, zu desinficiren, Eiweiß zu
coaguliren und die Gewebe des thierischen Organismus zusammenzuziehen, so daß sie
den Einwirkungen der Feuchtigkeit und der Fäulniß zu widerstehen vermögen.
Ebenso können diese Substanzen durch Salpetersäure in Pikrinsäure umgewandelt werden.
Das Ziel, welches sich Boboeuf bei seinen Versuchen
gestellt hatte, war die möglichst billige Abscheidung des gesammten Benzingehaltes,
und zwar ohne die übrigen Bestandtheile des Steinkohlentheers durch höhere
Temperatur zu verändern.
Der Steinkohlentheer ist bekanntlich ein Gemenge verschiedener empyreumatischer
Substanzen, deren chemische Beschaffenheit und Mengenverhältnisse nach der
Verschiedenheit der zu seiner Darstellung angewendeten Steinkohlensorten und des
dabei beobachteten Destillationsverfahrens variirt. Indessen lassen sich diese
Substanzen vom technischchemischen Standpunkte aus in zwei Gruppen theilen: in
Schweröle und Leichtöle.
Die letzteren, gewöhnlich unter der Benennung Benzine
zusammengefaßt, bilden den Ausgangspunkt zur Darstellung der Anilinfarben; sie
werden um so höher geschätzt, je weniger von den der ersten Gruppe angehörenden
Körpern sie enthalten. Wir haben uns mit denselben hier nicht weiter zu
befassen.
Die Schweröle, deren Siedepunkt über + 200° C. liegt, unterscheiden sich
außerdem durch ihre saure Reaction, sowie durch die Fähigkeit, mit den fixen
Alkalien Verbindungen einzugehen, während die Leichtöle (Benzin im weiteren Sinne) neutral sind.
Zum Typus haben sie die Phenylsäure, einen
krystallisirbaren Körper von bestimmter Zusammensetzung; sie bilden den
Ausgangspunkt zur Gewinnung der Pikrinsäure und einer
anderen Reihe von Farben.
Von diesen Thatsachen ausgehend, unterwirft der Verfasser den Steinkohlentheer einer
Behandlung mit Aetznatronlauge, und zwar bei gewöhnlicher Temperatur.
Die Schweröle lösen sich in der Lauge, das Benzin hingegen schwimmt auf dieser
Lösung; es wird decantirt und rectificirt. Auf diese Weise lassen sich die
flüchtigen von den weniger flüchtigen Substanzen in der Kälte und binnen wenigen
Stunden trennen, während bisher das Rohproduct der Gasfabriken direct der
Destillation unterworfen wurde – ein langwieriges, umständliches und mit
Gefahren verbundenes Verfahren, dessen Product zuweilen nicht einmal die
aufgewendeten Kosten bezahlt.
Die Abscheidung des Benzins geschieht demnach mit großer Ersparniß an Zeit und
Brennmaterial und mit weit weniger Gefahren. Ueberdieß gestattet dieses Verfahren
mittelst einer rasch auszuführenden Probe den technischen Werth eines
Steinkohlentheers zu bestimmen, indem diese zähflüssige, brennbare und caustische
Substanz durch dasselbe in eine mit Wasser mischbare und leichter zu handhabende
Flüssigkeit verwandelt wird.
Die durch die Behandlung des Theers mit Aetznatron erhaltene flüssige Theerseife
nennt der Verfasser Natronphenol (phenylsaures Natron)
und empfiehlt dieselbe sowohl zu arzneilichen Zwecken, als auch zur Anwendung in der
Industrie und Landwirthschaft.
Bereits im Jahre 1861 erhielt Boboeuf für sein (ihm in
Frankreich patentirtes) Verfahren von der (französischen) Akademie der
Wissenschaften einen der Monthyon'schen Preise.
Ich will nun über die Resultate der Versuche berichten, welche ich zu dem Zwecke
angestellt habe, mich zu überzeugen, ob das Natronphenol auch wirklich ein so
allgemein nutzbares Präparat ist, daß es so gut im Tornister des Feldsoldaten und im
Verbandkasten des Chirurgen, wie in der Waidtasche des Jägers, an Bord der
Seeschiffe, auf dem Toilettentische der Damen, in den Badeanstalten, in allen
Fabriken und Haushaltungen einen Platz verdient.
Der Verfasser stellte eine hinreichende Menge feiner Flüssigkeit zu meiner Verfügung;
einen Theil derselben übergab ich dem hiesigen Civilhospital, und auf mein Ersuchen
entschlossen sich mehrere Aerzte, die Wirkungen des Mittels in ihrer Privatpraxis zu
studieren.
Nach mehrmonatlichen Versuchen stellte sich heraus, daß das Natronphenol wirklich
alle die Eigenschaften besitzt, welche der Phenylsäure selbst einen so bedeutenden Ruf
verschafft haben; jedoch scheint es keineswegs mehr als die letztere eine wirkliche
Lücke im therapeutischen Apparate auszufüllen.
Die bisher bei Verwundungen, zur Stillung einer Blutung, zum Heilen einer Wunde, zur
Behandlung einer Verbrennung etc. angewendeten Mittel genügen in den meisten Fällen
vollständig; sie sind billig zu beschaffen, allgemein bekannt. Jedermann zugänglich
und leicht anzuwenden, und wenn das Natronphenol wirklich gleichzeitig blutstillend,
adstringirend und als Causticum wirkt, so ist seine Anwendung doch mit Gefahren
verknüpft, welche nur eine erfahrene Hand zu vermeiden im Stande ist, so daß sie
nicht dem Belieben eines Jeden überlassen werden kann.
Indessen scheint es vor der Phenylsäure den Vorzug zu verdienen zur Behandlung von
Insectenstichen, von Bissen giftiger Thiere und gewisser Hautkrankheiten, sowie zum
Verbande fauliger Wunden, überall wo der Theer gute Dienste leistet und die
Anwendung alkalischer Mittel zulässig ist.
Ferner ist das Natronphenol zu empfehlen zum Waschen des Körpers Gestorbener, zur
Desinfection von Krankenzimmern, anatomischen Sälen etc., kurz überall da, wo
organische Substanzen in Zersetzung übergehen.Kreosot-Natron wurde schon im Jahre 1861
von A. Wiesmann und Comp. in Beuel fabricirt (polytechn. Journal Bd. CLXI S. 237) und bereits im Jahre
1857 von Dr. H. Vohl
zum Conserviren der Nutzhölzer (Eisenbahnschwellen, Telegraphenstangen und
Schiffsbauholz) empfohlen. Er sagt (im polytechn. Journal Bd. CXLIV S. 449): „Eine
vorzügliche Methode, um Eisenbahnschwellen etc. zu kreosotiren, besteht
darin, daß man das Kreosot so lange mit einer Alkalilauge versetzt, bis
es ohne Zersetzung mit jeder beliebigen Menge Wasser gemischt werden
kann. Sollten bei dem Auflösen sich geringe Mengen Oel abgeschieden
haben, so werden dieselben durch Decantation getrennt. Die alkalische
Kreosotlösung, welche nach der Verdünnung ein spec. Gewicht von 1,05 hat
(Wasser = 1), wird durch Aufstreichen dem Holze applicirt. Nachdem die
Lösung in das Holz eingedrungen ist, welches sehr rasch geschieht, kann
man durch mehrmaliges Wiederholen dieser Operation das Holz beliebig
stark tränken. (Im Großen kann man das Holz mit dieser Flüssigkeit in
Behältern übergießen und durch Wasserdämpfe bis 100° C. erwärmen,
alsdann langsam erkalten lassen.) Würde man das Holz so präparirt den
Atmosphärilien aussetzen, so würde ein großer Theil des Kreosotgehalts
ausgewaschen und dem Holze entzogen werden. Zur Fixirung des Kreosots wende ich eine verdünnte Auflösung von
Eisenvitriol an. Die Schwefelsäure des Vitriols neutralisirt das
alkalische Lösungsmittel des Kreosots, und dieses, nun frei gemacht,
verbindet sich mit der Holzfasersubstanz. Das niedergeschlagene
Eisenoxydul, welches die Holzfaser gleichzeitig mit dem Kreosot erfüllt,
verwandelt sich allmählich in Eisenoxydhydrat, auf Kosten des im Holz
enthaltenen atmosphärischen Sauerstoffs. Das dabei gebildete Glaubersalz
wird allmählich durch die Bodenfeuchtigkeit ausgelaugt. Das Holz,
welches auf diese Art präparirt ist, hat sich während acht Jahren,
binnen welcher Zeit es den beständig wechselnden Einflüssen der
Atmosphärilien ausgesetzt war, ohne irgend eine Veränderung durch
Verwesung oder Schwammbildung zu erleiden, erhalten.“ A. d.
Red.
Hinsichtlich seiner Wirksamkeit bei der Behandlung verwundeter oder kranker Thiere
habe ich positive Nachrichten nicht erhalten können. Bei seinen fäulnißwidrigen
Eigenschaften und seinem billigen Preise würde es den Landwirthen bei contagiösen
Viehseuchen zur Reinigung der Stallungen etc. jedenfalls vortreffliche Dienste
leisten; doch fehlte es bei uns bisher glücklicherweise an Veranlassung, das
Präparat zu solchem Zwecke anzuwenden.
Hr. Boboeuf hat –
obgleich sein Natronphenol auf dem Gebiete der Therapie nicht alle von ihm gemachten
Versprechungen zu erfüllen vermag – der Zeugfärberei und Druckerei einen
bedeutenden Dienst insofern geleistet, als er durch sein Verfahren zu einer
bedeutenden Erniedrigung des Preises des Anilins und der
Pikrinsäure Veranlassung gab.