Titel: | Die Atmosphäre der Londoner Eisenbahntunnels. |
Fundstelle: | Band 187, Jahrgang 1868, Nr. LXXIII., S. 307 |
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LXXIII.
Die Atmosphäre der Londoner
Eisenbahntunnels.
Im Auszuge aus der Chemical News, vol. XVI p. 235; November
1867.
Ueber die Atmosphäre der Londoner Eisenbahntunnels.
Am 28. August 1867 starb beim Durchgange des Abendzuges der (unterirdischen)
Metropolitan-Eisenbahn in London auf der Station Kings Cross eine junge Dame
ganz plötzlich. Da bei der gerichtlichen Leichenschau die Vermuthung ausgesprochen
worden war, daß die in den Tunnels der Linie herrschende unreine Luft diesen
Todesfall verursacht, oder wenigstens – da die Gestorbene, wie sich bei der
Section zeigte, an einer Affection des Herzens gelitten hatte – beschleunigt
haben möge (obschon es sich herausstellte, daß die Dame sich ungewöhnlich fest
geschnürt hatte und ihr Magen mit Speise ganz angefüllt war), so hatte sowohl der
Coroner, als auch die Bahndirection genaue chemische Untersuchungen der Atmosphäre
jenes Tunnels angeordnet, deren Resultate der Jury am 30. October vorgelegt wurden.
Von Seite des Gerichtshofes war der Professor der gerichtlichen Medicin und
Toxicologie am
London Hospital College, Rodgers, von Seite der Bahndirection dagegen eine aus den Chemikern Dr. G. H. Bachhoffner, Dr. Letheby, Professor der
Chemie am Hospital College, und Dr. Whitmore, Mitglied des Londoner
Sanitätsrathes und Gasinspector, bestehende Commission mit der Ausführung dieser
Analysen beauftragt worden.
Rodgers gelangte zu folgenden Resultaten. In 17 Kubikzoll
Luft aus jedem einzelnen der fünf, zwischen Bishops' Road und Kings' Cross gelegenen
Tunnels fand er nur geringe Spuren von Kohlensäure. Der Sauerstoffgehalt (in
normaler, ganz reiner Luft, bekanntlich = 20,81 Volum-Proc.) betrug in diesen
Proben am 4. September zwischen 3 und 5 Uhr Nachmittags:
im Bishops' Road-Tunnel
20,48 Proc.
„ Edgware
Road-Tunnel
20,60 „
„ Bakerstreet-Tunnel
20,30 „
„ Portland
Road-Tunnel
20,10 „
„ Tunnel zwischen Gowerstreet
und King's Cross
18,70 „
Am 10. September zwischen 10 und 11 Uhr Abends enthielt die Luft dieser fünf Tunnels
im Durchschnitte 13 Vol. Kohlensäure in 10000 Vol. und 1 Vol. Schwefligsäure in
40789 Vol. bei einem Sauerstoffgehalte von 20,10 Volum-Proc. Am 2. October
enthielt die Luft des Gowerstreet-Tunnels 18,7 Kohlensäure in 10000 und 1
Schwefligsäure in 23913 Vol.; am 28. October, zwischen 8 und 9 Uhr Abends, war der
Sauerstoffgehalt der Luft:
im Bishops' Road-Tunnel
20,50 Proc.
„ Edgware Road-Tunnel
20,20 „
„ Bakerstreet-Tunnel
20,50 „
„ Portland
Road-Tunnel
20,00 „
„ Gowerstreet-Tunnel
20,40 „
Zur Vergleichung mögen hier die Resultate der von Rodgers
ausgeführten Bestimmungen des Sauerstoffgehaltes der Luft verschiedener anderer
englischer Eisenbahntunnels Platz finden:
Blackheath-Tunnel (28. Septbr. 1867)
20,0
Tunnel des Krystallpalastes (2. October), während
der Zeit des lebhaftesten Verkehrs
bestimmt
19,7
King's Cross- und Finchley-Tunnel
20,5
Box-Tunnel
20,3
Birkenhead-Tunnel
20,1
Wolverhampton-Tunnel
20,3
Freie Luft in Pimlico, auf der S.-W.-Bahn vom
Battersea-Park ab (21.
Septbr.)
20,9
Die aus den oben genannten drei Mitgliedern bestehende Untersuchungscommission
sammelte die zu prüfende Luft zu drei verschiedenen Zeiten, nämlich unmittelbar nach
dem Durchgange des ersten Nachtzuges, dann vor dem Abgange des ersten Morgenzuges
und drittens zwischen 4 und 5 Uhr Nachmittags, zu welcher Zeit der Verkehr am
lebhaftesten ist. In jedem Tunnel wurden an verschiedenen Punkten und in
verschiedener Höhe – nämlich an der Spitze des Gewölbes, dann nahe über dem
Erdboden und auch in Kopfhöhe der Passagiere – achtundzwanzig verschiedene
Proben genommen und auf Schwefligsäure, Kohlensäure, Kohlenoxyd, Kohlenwasserstoff
und Sauerstoff geprüft. Zur Ermittelung der Schwefligsäure wurde das empfindlichste
aller bekannten Reagentien auf diese Substanz angewendet, nämlich ein Gemisch von
Jodsäure und Amylumkleister, mittelst dessen sich in der Atmosphäre noch ein
Hunderttausendstel Schwefligsäure nachweisen läßt; die oben genannten Chemiker waren
aber nicht im Stande mittelst desselben die Gegenwart dieser Säure zu erkennen,
woraus sie schließen, daß ihre Menge in der Tunnelluft weniger beträgt als
0,00001.
Letheby hat die Menge der bei der Verbrennung der jetzt
in den Locomotiven der Metropolitanbahn gebrauchten Kohks sich entwickelnden Schwefligsäure berechnet und gefunden, daß wenn die
Tunnels an beiden Enden dicht verschlossen würden, das bei achtzehnstündigem
Betriebe verzehrte Brennmaterial eine so geringe Menge jener Säure geben würde, daß
die Luft selbst für die empfindlichsten und schwächlichsten Individuen nicht
nachtheilig seyn kann; als Desinfectionsmittel wird Schwefligsäure in weit größeren
Mengen angewendet, ohne daß jemals schädliche Folgen dieser Anwendung bekannt
geworden sind. Es werden nämlich täglich – den Tag zu 18 Betriebsstunden
gerechnet – 2 Tonnen Kohks verbraucht. Diese Kohks enthalten 0,261 Proc.
Schwefel. In den Tunnels und auf den Stationen werden per (engl.) Meile 6 Pfd. Kohks verbraucht. Die Gesammtlänge der Tunnels
und Stationen beträgt 11056 Fuß, also 2,09 engl. Meilen. Der Kubikinhalt der
Tunnels, ohne die Stationen, ist gleich 4606792 Kubikfuß. Die Anzahl der in dem
achtzehnstündigen Betriebstage hin und her fahrenden Züge beträgt 358. Aus diesen
Anhaltspunkten ergibt sich das Resultat, daß – vorausgesetzt, der ganze Raum
sey hermetisch verschlossen und die ganze Schwefelmenge verbrenne in einer für sich
abgeschlossenen Atmosphäre – die Menge der durch die Verbrennung des in den
Kohks enthaltenen Schwefels erzeugten Schwefligsäure in dem gedachten Raume nur 2,95
in 100000 Volum-Theilen betragen kann. In den 18 Stunden verbrennen nämlich
11,717 Pfd. Schwefel zu beinahe 136 Kubikf. Schwefligsäure; dieß gibt bei einem Volum von
4606792 Kubikfuß Luft 2,95 Thle. Schwefligsäure in 100000 Vol. Luft.
Den Kohlensäuregehalt der Luft der verschiedenen Stationen
und Tunnels bestimmte die Commission dem Volum nach in 100000 Thlen. Luft als den
nachstehenden:
Maximum.
Minimum.
Durchschnitt.
im Bishop's Road-Tunnel,
3. Sept., 2 U. Morg.
4,1
4,1
4,1
„ Edgware-Tunnel
3. „ zw. 1 u. 3 U.
Morg.6.
„ „ 2 u. 4
U. „7.
„ 4 U. Nachm.
5,25,4–
4,34,7–
4,85,05,7
„ Bakerstreet-Station
10. „ 4 U. „
–
–
6,2
„ Bakerstreet-Tunnel
3. „ zw. 1 u. 3 U.
Morg.6.
„ „ 2 u. 4
U. „7.
„ 4 U. Nachm
6,04,5–
4,64,2–
5,14,46,9
„ Portland
Road-Tunnel
3. „ zw. 1 u. 3 U.
Morg.6.
„ „ 2 u. 4
U. „7.
„ 4 U. Nachm.
6,06,1–
5,14,5–
5,55,112,7
„ Gowerstreet-Station
7. „ 4
U. „
–
–
5,7
„ Gowerstreet-Tunnel
3. „ zw. 1 u. 3 U.
Morg.6.
„ „ 2 u. 4
U. „7.
„ 4 U. Nachm.
5,45,2–
4,44,3–
4,94,6 9,1.
Die Menge des vorhandenen Kohlenwasserstoffs und Kohlenoxyds war so gering, daß sich mittelst der
empfindlichsten Reagentien kaum Spuren dieser Gase nachweisen ließen. Schließlich
überzeugte sich die Commission davon, daß in der Atmosphäre der Tunnels und der
Stationen stets eine genügende Sauerstoffmenge enthalten ist.
Aus diesen Resultaten ergibt sich, daß die untersuchte Luft in keinem der
untersuchten Fälle in wahrnehmbarem Grade verdorben gewesen ist, wenn gleich die
Atmosphäre Nachmittags weniger rein war als Nachts.
Die Untersuchungen von Regnault, Bunsen und anderen
ausgezeichneten Chemikern, namentlich auch die neueren von Dr. Angus Smith zeigen, daß in großen Städten
die Luft, welche man als „normale atmosphärische
Luft“ bezeichnen kann, in 10000 Volumtheilen enthält:
Sauerstoff
2096
Stickstoff
7900
Kohlensäure
4
––––––––––––––
10000 Vol.-Thle.
Der letztere dieser Bestandtheile ist es, welcher, wenn er in größerer Menge
vorhanden ist, die Luft unrein und selbst für die Respiration untauglich macht.
Versuche von Bernays und Angus Smith haben bewiesen, daß in mehreren Londoner Theatern, Abends 10 Uhr, sowie an verschiedenen
anderen öffentlichen Orten, namentlich in manchen Gerichtssitzungssälen, die
Atmosphäre einen von 10 bis 32 in 10000 Volum-Theilen schwankenden
Kohlensäuregehalt besitzt. Ebenso ergibt sich aus dem Armee-Berichte (Army Report. vol. V p. 272),
daß in mehreren sehr gut ventilirten Casernen zu Aldershot der Kohlensäuregehalt der
Atmosphäre um Mitternacht in 10000 Theilen Luft 6,42 Thle. betrug und um 5 Uhr
Nachmittags auf 7,59, in der Wellington-Caserne sogar von 11,89 auf 14,18
Volum-Theile stieg. Selbst in den Straßen von Manchester enthielt die
Atmosphäre bei nebeligem Wetter bis 8 Zehntausendstel Kohlensäure.
Auch die Commission untersuchte zur Vergleichung die Luft der Tunnels anderer
Eisenbahnlinien in der Nähe von London und erhielt dabei nachstehende Resultate:
Tunnel
Nr. 1.
In 10000 Volum-Theilen Luft waren enthalten
4,7 Kohlensäure
„
Nr. 2.
„
„
„ „
„ „
12,1 „
„
Nr. 3.
„
„
„ „
„ „
4,6
„
„
Nr. 4.
„
„
„ „
„ „
4,3
„
„
Nr. 5.
„
„
„ „
„ „
7,8
„
„
Nr. 6.
„
„
„ „
„ „
4,5
„
„
Nr. 7.
„
„
„ „
„ „
5,3
„
„
Nr. 8.
„
„
„ „
„ „
4,3
„
„
Nr. 9.
„
„
„ „
„ „
4,2
„
„
Nr. 10.
„
„
„ „
„ „
5,1
„
„
Nr. 11.
„
„
„ „
„ „
4,3
„
„
Nr. 12.
„
„
„ „
„ „
4,2
„
„
Nr. 13.
„
„
„ „
„ „
4,6
„
Die nachfolgende Tabelle gibt eine Uebersicht über die in 10000 Volum-Theilen
atmosphärischer Luft in verschiedenen Localitäten enthaltene Kohlensäuremenge.
Städte.
Minimum.
Maximum.
Mittelwerth.
London
2,8
4,3
3,4
Manchester
4,9
15,0
5,4
München
–
–
5,0
Paris
3,6
5,1
4,9
Madrid
3,0
8,0
5,2
Oertlichkeiten verschiedener
Art.
Kanzleigerichtshof in London (bei
geschlossenen Thüren)
–
–
19,8
Daselbst (bei geöffneten Thüren)
–
–
4,8
Deputirtenkammer in Paris
–
–
25,0
Oertlichkeiten verschiedener
Art.
Minimum.
Maximum.
Mittelwerth.
Theater in London
7,6
32,0
14,9
„
„ Manchester
10,2
27,3
14,8
„
„ Paris
23,0
43,0
33,0
Privatwohnungen, am Tage
5,4
12,7
7,8
„
Arbeitszimmer, in der Höhe des Schreibtisches
–
–
11,8
„
Arbeitszimmer, dicht unter der Decke, Nachts
–
–
15,6
„
Schlafzimmer, Nachts
–
–
28,0
„ „
„ bei geöffneten
Fenstern
–
–
8,0
Schlafsaal in der Salpetrière in Paris
–
–
80,0
Anderer
„
„
„ „
–
–
58,0
Saal im Londoner Workhouse
–
–
125,0
Schlafzimmer eines Lodging House in der Londoner City
–
–
100,0
Verschiedene Schulen in Frankreich
27,0
47,0
36,0
„ „ „ Deutschland
20,0
56,0
39,2
„ „ „ England
9,7
31,0
21,5
Spinnereien und Werkstätten
28,3
30,0
29,1
Casernen (des Nachts)
11,9
14,2
12,8
Cornwalliser Gruben bei guter Wetterhaltung
–
–
8,0
„
„ bei schlechter
Wetterhalt.
–
–
190,9
Ausgeathmete Luft
350
500
425,0
Zimmer mit brennender Kohlenpfanne
–
–
1400,0.
Der zur Bestimmung des Kohlensäuregehaltes der Luft benutzte Apparat ist von Angus
Smith erfunden und speciell für Untersuchungen in
Gruben und an belebten Plätzen bestimmt, wo complicirtere chemische Apparate nicht
wohl benutzt werden können. Dieser Apparat, welcher direct quantitative Resultate
gibt, besteht in einer hohlen Kautschukkugel von bekanntem Rauminhalte, mittelst
deren die zu prüfende Luft in ein bekanntes Volum Barytwasser geblasen wird. Eine
berechnete Tabelle gibt die Menge der Kohlensäure an.
Die Commission überzeugte sich auch, daß der allgemeine Gesundheitszustand der
Bahnbeamten einen unwiderleglichen Beweis für die Zuträglichkeit der Tunnelluft
liefert. Aus dem Berichte eines der Oberbeamten ergibt sich, daß die Anzahl der
Kranken und Todten bei dieser Bahn weit geringer ist als bei den Beamten der
Great-Western-Bahn, was durch die persönlichen Untersuchungen der
Commissionsmitglieder volle Bestätigung gefunden hat.
Diesen sämmtlichen Thatsachen gegenüber erklärte die Commission in völliger
Uebereinstimmung mit Professor Rodgers, daß die Atmosphäre der Tunnels der
Metropolitan-Eisenbahn für die Gesundheit durchaus nicht schädlich
ist.