Titel: | Untersuchungen über das Toluol und über die Entstehung der von demselben abstammenden Alkaloide; von A. Rosenstiehl. |
Fundstelle: | Band 193, Jahrgang 1869, Nr. LXXXV., S. 315 |
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LXXXV.
Untersuchungen über das Toluol und über die
Entstehung der von demselben abstammenden Alkaloide; von A. Rosenstiehl.
Aus dem Bulletin de la
Société industrielle de Mulhouse, t. XXXIX p. 194; April und Mai
1869.
Rosenstiehl, Untersuchungen über das Toluol und über die Entstehung
der von ihm abstammenden Alkaloide.
Das aus Steinkohlentheer gewonnene Benzol gibt nur ein
einziges Alkaloid: das Anilin. Das aus demselben
Rohmaterial dargestellte Toluol (Toluen) dagegen gibt
zwei Alkaloide: das Toluidin und das Pseudotoluidin, beide von gleicher chemischer
Zusammensetzung, aber von sehr verschiedenen Eigenschaften.
Welchen Ursprung haben diese beiden Alkaloide? Sind sie Abkömmlinge eines und
desselben Hydrocarbürs? Oder ist das Toluol selbst ein Gemenge von zwei isomeren
Substanzen? Diese Fragen beabsichtigte ich durch die im Nachstehenden mitgetheilte
Arbeit zu lösen.
Um zu ermitteln, ob es zwei isomere Toluole gibt, verwandelte ich vorerst jedes der
beiden Alkaloide (Toluidin und Pseudotoluidin) für sich in Toluol und unterwarf die
erhaltenen beiden Kohlenwasserstoffe (Hydrocarbüre) einer vergleichenden
Untersuchung, um ihre charakteristischen Eigenschaften festzustellen. Die Relation,
welche das Toluol mit dem Toluidin verknüpft, ist ziemlich einfach, wie aus der
nachstehenden Formel hervorgeht:
C⁷H⁷NH²
H+H
C⁷H⁷=H
NH²+H
Toluidin
+ Wasserstoff
= Toluol
+ Ammoniak.
Demnach handelt es sich darum, zwei Atome Wasserstoff an das Toluidin zu binden, um
es in Ammoniak und Toluol zu spalten. – Diese Umwandlung, in der Theorie so
einfach, bietet bei ihrer Realisirung Schwierigkeiten dar. Zu der Zeit wo ich diese
Arbeit begann, bot die Wissenschaft nur eine langwierige und sehr umständliche
Methode zur Erreichung dieses Zweckes dar, welche wir Hofmann verdanken; da dieser Chemiker die Hauptresultate, welche er mit
dem Toluidin erhielt, veröffentlicht hat, so will ich hier nur meine mit dem
Pseudotoluidin gemachten Beobachtungen erwähnen. Dasselbe wurde mit Formylsäure
(Ameisensäure) verbunden und das erhaltene Formylsäuresalz der trockenen
Destillation unterworfen; eines der Producte dieser Reaction ist das Pseudotoluylformamid:
N
CHOC⁷H⁷H²(HO)
= H²O + N
CHOC⁷H⁷H
Formylsaures Toluidin
= Wasser + Pseudotoluylformamid.
Dieses letztere krystallisirt in perlmutterglänzenden Blättchen, welche in Wasser nur
schwierig, besser in der Lösung von formylsaurem Pseudotoluidin löslich sind. Es
schmilzt bei ungefähr 50°C. und erstarrt bei 30°. Seine Analyse führt
zu der Formel:
N
C H OC⁷ H⁷H
wie die Elementaranlyse erweist.
Gefunden:
Berechnet:
C
71,4
71,1
H
6,7
6,7
N
10,5
10,4
Mit rauchender Chlorwasserstoffsäure destillirt, erleidet diese Verbindung zwei
verschiedene Zersetzungen. Der größte Theil derselben spaltet sich in Kohlenoxyd und
Pseudotoluidin.
N
C⁷H⁷CHOH
= CO + N
C⁷H⁷HH
Pseudotoluylformamid
= Kohlenoxyd + Pseudotoluidin.
Ein geringer Antheil spaltet sich in Wasser und Pseudotoluylcyanür.
N
CHOC⁷H⁷H
= H²O + N
CC⁷H⁷
Pseudotoluylformamid
= Wasser + Pseudotoluylcyanür.
Dieses Cyanür siedet zwischen 205 und 210°, und besitzt den charakteristischen
Geruch der Cyanüre. Wird es mit einer alkoholischen Kalilösung erhitzt, so spaltet
es sich unter Aufnahme der Bestandtheile des Wassers in Ammoniak und Toluylsäure.
N
CC⁷H⁷ + KO + H²O
=
NH³ +
C⁷H⁷CO(HO)
Cyanür + Kali + Wasser
= Ammoniak + Toluylsäure.
Durch trockene Destillation der Toluylsäure in Gegenwart von überschüssiger Basis
glaubte ich Toluol darstellen zu können, denn:
C⁷H⁷CO(HO)
=
CO² +
C⁷H⁷H
Toluylsäure
= Kohlensäure +
Toluol.
Meine Bemühungen waren erfolglos; die formulirten Reactionen treten nur bei einem
kleinen Bruchtheile der in Angriff genommenen Substanz ein; in Folge der secundären
Reactionen finden große Verluste statt, so daß ich die Darstellung von Toluol auf
diesem Wege aufgeben mußte.
Ich hatte mein Vorhaben, die beiden Toluidine in Toluol umzuwandeln, vorläufig
aufgegeben, als Berthelot mich um eine Probe von meinem
reinen Pseudotoluidin hatbat. Kurz zuvor hatte dieser berühmte Chemiker ein sehr elegantes Verfahren
zur Bindung des Wasserstoffes an zusammengesetzte Körper und somit zur Zerlegung
derselben in ihre Erzeugenden entdeckt, und ich habe bekanntlich das Toluidin nach
dieser Methode einer Spaltung zu unterwerfen gesucht. – Die Reductionsmethode
wendete ich bei meinen Untersuchungen über die Zusammensetzung der Fuchsinsorten
an.Polytechn. Journal Bd. CXCI S. 483.
Berthelot behandelte die beiden Toluidine mit
Jodwasserstoffsäure und war so gütig, die von ihm erhaltenen entscheidenden
Resultate zu meiner Verfügung zu stellen. Er schrieb mit am 5. December 1868
Folgendes:
„Das mit von Ihnen übersendete Pseudotoluidin, mit der sechzigfachen
Gewichtsmenge Jodwasserstoffsäure (specif. Gew. = 2) bis 270°C. erhitzt,
verwandelt sich fast vollständig in Heptylenhydrür
und Ammoniak:
C¹⁴ H⁹ N + 5 H² = C¹⁴
H¹⁶ + N H³;
es verhält sich also wie das Toluidin, unterscheidet sich dagegen durch dieses
Verhalten vom Methylanilin.“
„Mit 20 Th. Jodwasserstoffsäure behandelt, verwandelt sich das
Pseudotoluidin hauptsächlich und fast ausschließlich in Toluol:
C¹⁴ H⁹ N + H² = C¹⁴
H⁸ + N H³,
und gibt außerdem eine Spur von Benzol und von einem dichteren
Kohlenwasserstoffe.“
„Mit 40 Th. Jodwasserstoffsäure erhielt ich ein Gemisch von Toluol und
Heptylenhydrür, welche sich durch rauchende Salpetersäure leicht von einander
trennen lassen.“
„Demnach verhalten sich Toluidin und Pseudotoluidin gegen
Jodwasserstoffsäure in gleicher Weise.“
„Ich habe einige vergleichende Versuche mit dem aus Pseudotoluidin und dem
aus Toluidin mittelst Jodwasserstoffsäure regenerirten Toluol angestellt.
Obschon die dazu angewendete Menge der beiden Kohlenwasserstoffe sehr gering
war, konnte ich doch mit Hülfe der von Ihnen entdeckten eleganten
Farbenreactionen einige Resultate beobachten.“
„Das Toluol aus Pseudotoluidin lieferte eine zum großen Theile
krystallisirte Nitroverbindung; das regenerirte Alkaloid enthielt eine Spur von
Anilin, woraus ich auf die Gegenwart einer Spur von Benzol schloß; es enthielt
auch Pseudotoluidin. Bei der Behandlung mit Schwefelsäurebihydrat entstand eine
rothe Färbung, welche unter dem Einfluß salpetrigsaurer Dämpfe in eine
(flüchtige) violette überging (Gemisch von Toluidin und
Pseudotoluidin).“
„Das Toluol aus krystallisirtem Toluidin lieferte ein flüssiges
Nitroderivat. Das regenerirte Alkaloid enthielt keine wahrnehmbare Spur von
Anilin, dagegen Pseudotoluidin, wie die successiv mit Chlorkalk, Aether und
verdünnter Schwefelsäure erhaltenen Reactionen zeigten. Bei der Behandlung
desselben mit Schwefelsäurebihydrat beobachtete ich dieselben Erscheinungen,
welche vorhin angegeben wurden. Die in beiden Fällen auftretende Färbung
entspricht einem Gemisch von Toluidin und Pseudotoluidin.“
„Die blaue Färbung des reinen Toluidins läßt sich bei fast unendlich
kleinen Mengen dieses Alkaloids beobachten, wenn man folgenden Kunstgriff
anwendet. Man schüttelt eine wässerige Toluidinlösung mit Aether, verdampft den
letzteren in einer kleinen Schale zur Trockne, gießt in dieselbe 2 bis 3 Kub.
Centim. Schwefelsäurebihydrat und setzt dann das Ganze den Dämpfen von
rauchender Salpetersäure aus. Sofort zeigt sich die von Ihnen entdeckte schöne
blaue Färbung.“
„Die beiden Toluidine scheinen mit daher dasselbe Toluol geliefert zu
haben, welches wiederum beide Alkaloide zu regeneriren vermag. Demnach dürfte
die Isomerie nicht in dem Kohlenwasserstoffe liegen. Das Pseudotoluidin hat
überdieß eine geringe Menge Benzol und einen dichteren complementären
Kohlenwasserstoff reproducirt.“
––––––––––
Diese innerhalb weniger Tage und mit einer geringen Menge von Material erhaltenen
Resultate zeigen, was man von dieser Reductionsmethode, welche bei künftigen
Untersuchungen eine bedeutende Rolle zu spielen berufen ist, erwarten kann.
Noch habe ich Berthelot's Briefe bezüglich der von ihm
beobachteten Bildung von Benzol einige Worte hinzuzufügen. Das zu den Reductionsversuchen verwendete
Pseudotoluidin konnte kein Anilin enthalten; wenn unter
den Reactionsproducten Benzol auftritt, so kann dasselbe nur von einer Spaltung des
Alkaloids herrühren. In einer früheren Abhandlung habe ich bemerkt, daß die
Oxydationsmittel (Arsensäure) die Bildung einer geringen Menge von Anilin, auf
Kosten des Pseudotoluidins, veranlassen; die Bildung von Rosanilin und von
Pseudorosanilin, mit Coupier's flüssigem Toluidin, gehört
zu derselben Classe von Thatsachen.
Da das Pseudotoluidin einen Abkömmling von C⁶ H⁶ gibt, so muß es
nothwendig auch ein anderes kohlenstoffreicheres Derivat liefern, welches ich aber
noch nicht erhalten konnte (ein Derivat des Xylols oder des Naphtalins).
Für meine Anschauungsweise sprechen Berthelot's
Beobachtungen und in einem Briefe vom 9. December 1868 schreibt mit dieser Chemiker:
„Das regenerirte Toluol wird von einer geringen, aber nachweisbaren
Spur von dichteren und bei 200°C. und darüber flüchtigen
Kohlenwasserstoffen begleitet.“
Ich komme jetzt auf das Toluol zurück. Die Thatsache der Bildung von zwei isomeren,
mit demselben Kohlenwasserstoffe erhaltenen Abkömmlingen bedurfte der Bestätigung
durch eine größere Anzahl von Versuchen. Berthelot
untersuchte unter demselben Gesichtspunkt: 1) Toluol, welches der Einwirkung der
Rothglühhitze entgangen war; 2) Toluol, welches sich bei der auf trockenem Wege
bewirkten Zersetzung von Xylol gebildet hatte. In beiden Fällen konnte er durch
Reduction der Nitroderivate die Bildung von Toluidin und Pseudotoluidin constatiren.
Es erschien mit nothwendig, diese Versuche auch mit dem nach der Methode von Fittig und Tollens auf
synthetischem Wege dargestellten Toluol anzustellen. Nach der Angabe dieser Chemiker
ist ihr Toluol mit dem aus Steinkohlentheer dargestellten identisch, weil es das Toluidin von Muspratt und Hofmann erzeugt. Den soeben
citirten Versuchen zufolge mußte das Fittig-Tollens'sche Präparat, sollte es wirklich mit dem
Steinkohlen-Toluol ganz identisch seyn, nicht allein Toluidin, sondern auch
die demselben isomere Verbindung liefern können. Ich stellte mittelst Bromphenyl und
Jodmethyl Toluol dar; mittelst dieses Kohlenwasserstoffes erhielt ich gleichzeitig
beide Toluidine und zwar gelang es mit nicht nur ihre Reactionen zu constatiren,
sondern auch sie zu isoliren.
Ein gleiches Resultat erhielt ich mit dem aus Tolubalsam dargestellten Toluol.
Nunmehr ist die gleichzeitige Bildung der beiden isomeren Alkaloide nachgewiesen:
a) durch Berthelot's Versuche
mit:
1.
Toluol,
welches
aus
Toluidin regenerirt worden;
2
„
„
„
Pseudotoluidin regenerirt worden;
3.
„
„
sich
in der Rothglühhitze nicht zersetzt hatte;
4.
„
„
durch
trockene Destillation von Xylol dargestellt war;
b) durch meine eigenen Versuche
mit:
5.
Toluol,
welches
auf synthetischem Wege dargestellt worden;
6.
„
„
aus Tolubalsam dargestellt worden;
7.
„
„
aus Steinkohlentheer dargestellt worden.
Da alle diese Kohlenwasserstoffe ein dem Toluidin entsprechendes krystallisirtes
Nitrotoluol, sowie ein dem Pseudotoluidin entsprechendes flüssiges Nitroderivat
gegeben haben, so ist man zu dem Schlusse berechtigt: daß es
nur ein einziges Toluol gibt. Zur Beseitigung aller Zweifel fehlt aber noch
ein Beleg, welcher gleichfalls beigebracht werden muß: es fragt sich nämlich, ob
diese verschiedenen Toluole nicht sämmtlich ein Gemenge von zwei isomeren Substanzen
seyn können? Zur Entkräftigung dieses Einwurfes unterzog ich mich einer langwierigen
Arbeit mit einem einzigen und demselben Toluol, um zu ermitteln ob dieses
Hydrocarbür die beiden Nitroderivate in constanten Verhältnissen gibt, oder ob diese
Verhältnisse mit den physikalischen Umständen des Versuches variiren. Es wurden über
vierzig Versuche mit Steinkohlentheer-Toluol angestellt, mit welchem mich Coupier reichlich versehen hatte. Dieselben ergaben: 1)
daß die relativen Mengen der beiden Toluidine schwanken; 2) daß diese Schwankungen
in folgenden Grenzen stattfinden:
66
Toluidin,
34
Pseudotoluidin;
33
„
67
„
In der Praxis erhält man Verhältnisse mit vorwaltendem Toluidin. Nach meinen
Untersuchungen über die von den beiden Toluidinen abstammenden Farbstoffe besitzt
das Pseudotoluidin den größeren Werth, weil es reichlichere Erträge gibt. Es war
somit von praktischem Interesse, ein Mittel zur Verhütung der Bildung von Toluidin
aufzufinden. Wie man aus den vorstehenden Resultaten ersieht, ist mit dieß nicht
gelungen; es bildet sich im Minimum immer ein Drittel von diesem Alkaloide.
––––––––––
Aus sämmtlichen, von mit über diesen Gegenstand veröffentlichten Arbeiten ergibt sich
Folgendes: Das Toluol ist ein besonderer Kohlenwasserstoff, welcher bei der
Behandlung mit Salpetersäure gleichzeitig zwei Nitroderivate gibt. (Der Fabrikant,
welcher dieselben zur Erzeugung von Alkaloiden für die Farbstoff-Fabrication
darstellt, muß bestrebt seyn, möglichst wenig krystallisirtes Nitrotoluol zu
erzeugen.) Die nach der Einwirkung der Salpetersäure auftretende Isomerie zeigt sich
auch bei den gefärbten Abkömmlingen; die beiden, in ihren chemischen Eigenschaften
so verschiedenen Toluidine geben Farbstoffe, welche in ihren physikalischen
Eigenschaften identisch, in ihren chemischen Eigenschaften aber verschieden sind
(Verhalten gegen Jodwasserstoffsäure, polytechn. Journal Bd. CXCI. S. 483). Die
Nachweisung der Isomerie bei den künstlichen Farbstoffen erklärt die große
Mannichfaltigkeit der blauen und violetten Substanzen, welche man aus den
Fuchsinsorten erhält und läßt die Existenz einer ziemlich großen Anzahl von isomeren
Körpern derselben Farbe voraussehen; auf diesen Punkt werde ich später
zurückkommen.