Titel: Ueber die Anwendung des Gegendampfes bei Locomotiven.
Fundstelle: Band 195, Jahrgang 1870, Nr. III., S. 9
Download: XML
III. Ueber die Anwendung des Gegendampfes bei Locomotiven.Denkschrift von L. Le Chatelier, in's Deutsche übersetzt von August Bochkoltz.(Eine Notiz über die Benutzung des Gegendampfes zum Bremsen der Eisenbahnzüge auf starken Gefällen von Le Chatelier und Ricour befindet sich in diesem Journal Bd. CLXXXI S. 73.) Aus den Mittheilungen des Architekten- und Ingenieur-Vereines in Böhmen, Jahrg. 1869, Heft 4. Mit Abbildungen auf Tab. I. Ueber die Anwendung des Gegendampfes bei Locomotiven. Es ist allgemein bekannt, daß die Reversirung des Dampfes beim Locomotivbetrieb nur auf Fälle dringender Nothwendigkeit beschränkt werden muß, denn durch das Umsteuern des Steuerungsmechanismus, während der Zug in Folge seiner Trägheit den Vorwärtsgang fortsetzt, wirken die Dampfcylinder als Pumpen, welche die Verbrennungsgase aus dem Schornstein ansaugen, und selbe sammt dem in den Cylinder getretenen Kesseldampf durch den Schieberkasten und geöffneten Regulator in den Kessel hinein pressen. Hierbei werden die angesaugten Gase von dem Dampfkolben zuerst comprimirt, und durch die Compression in dem Maaße erhitzt, daß schon nach 3 bis 4 Minuten (Seite 9) die Maschine dienstuntauglich werden kann, indem die Packungen zu verbrennen anfangen, die Schmiere sich zersetzt und die sich reibenden Flächen sich rasch abnutzen. Außerdem versagen die Giffard'schen Apparate ihren Dienst, weil die in den Kessel eingedrungenen Gase sich nicht in Berührung mit dem vom Apparat angesaugten Wasser condensiren, und auf der Condensationsfähigkeit allein die Wirksamkeit des Apparates beruht. Aus diesem Grunde ist es auch nicht zulässig, bei anhaltenden starken Gefällen sich des Gegendampfes statt der Bremse zu bedienen, sondern der Maschinist begnügt sich in diesem Falle den Regulator zu schließen, den Umsteuerungshebel an das Ende des Vorwärtsganges zu stellen, und wenn es nöthig ist das Zeichen zum Bremsen zu geben. Da aber hierbei gewöhnlich zu stark gebremst wird, so muß er mit der Pfeife abwechselnd das Zeichen „Bremsen auf“ und „Bremsen zu“ geben, wodurch die Geschwindigkeit statt etwa constant 4 Meilen pro Stunde zu bleiben, zwischen 2 bis 6 Meilen variiren kann. Außer diesem bedeutenden Uebelstand findet aber bei geschlossenem Regulator, wobei der in der Dampfkammer vorhandene nasse Dampf schnell verbraucht und nicht ersetzt wird, ebenfalls eine bedeutende Temperaturerhöhung der Cylinder und Abnutzung der reibenden Flächen, besonders der Kolbenringe statt, indem auch hierbei in der letzten Periode des Kolbenweges statt der vorzeitigen Dampfausströmung ein Ansaugen der Verbrennungsgase aus dem Rauchkasten eintritt (Seite 65). Um nun ohne Nachtheil für die Maschine reversiren, ferner auf anhallenden starken Gefällen mit Gegendampf abwärts fahren, und somit die Anwendung der für die Bandagen und Schienen nachtheiligen Bremse sehr reduciren zu können, endlich auch um bei mäßigerem Gefälle mit geschlossenem Regulator und Stellung des Hebels auf Vorwärtsgang fahren zu können, ohne die vorbesprochenen Nachtheile zu erleiden, hat Le Chatelier im September 1865 vorgeschlagen, einen Dampfstrahl nach dem unteren Theil des Dampfausströmungsrohres, möglichst nahe und symmetrisch an jedem Cylinder hinzuleiten, und er hat im Februar 1866 jenes Programm dahin ergänzt, daß auch eine Einspritzung von Kesselwasser in jeden Ausströmungscanal möglich gemacht werden müsse. Hr. Marié, Oberingenieur der Bahn von Paris nach Lyon und dem mittelländischen Meere, hat bereits zu Anfang des Jahres 1867 das neue System des Gegendampfes mit Dampf- und Wassereinströmung auf 450 Maschinen in Anwendung gebracht, und im Jahre 1869 waren auf allen französischen Bahnen bereits 1800 Maschinen mit dem Apparate versehen (S. 64), welche bei 1/83 bis 1/66 Gefälle in der Richtung nach abwärts mit Anwendung des Gegendampfes und ohne Beihülfe der Bremsen fahren, wodurch die Radbandagen der Tender und Bremswagen und die Schienen sehr geschont werden, und die Schmierungskosten sich verringern (S. 13), während dagegen der Brennmaterial-Aufwand sich nur unerheblich steigert. Zu Ende des Jahres 1868 erkannte Le Chatelier, daß nur allein die Einspritzung von Kesselwasser wesentlich sey, hingegen jene von Dampf zwar ganz entbehrt werden kann, ihre Benutzung jedoch dem Maschinisten Bequemlichkeiten darbietet, sowohl beim Uebergang von einer horizontalen Strecke auf ein starkes Gefälle, wie auch beim Einfahren in eine Station, wobei der Gegendampf in Frankreich mehr und mehr in Gebrauch kommt, dagegen die Tenderbremse nur eine sehr wirksame Reserve abgibt. „Es gibt Maschinenführer, welche bei gründlichem Verständniß des zu ihrer Verfügung gestellten Apparates, mit oder ohne Zuhülfenahme der Zugsbremsen, mit voller Geschwindigkeit bis zur Einfahrt der Station anlangen, und dennoch den Zug mit Genauigkeit und nach Durchlaufung eines nur kurzen Weges anhalten.“ „Man ist zu der Annahme berechtigt, daß der Gegendampf bei Einspritzung von Wasser ebenso allgemein zum Anhalten in den Stationen in Anwendung kommen wird, wie beim Abwärtsfahren auf Gefällen, und daß in Folge dessen die Zeitverluste durch die Stationen sich sehr wesentlich vermindern werden.“ (S. 14). Um eine klare Einsicht in die Wirksamkeit des Gegendampfes zu erhalten, denken wir uns, der Steuerungshebel sey auf jene Rast gestellt, wobei der Schieber 40 Proc. Füllung gibt, und werde sodann auf die symmetrische Stellung reversirt. Die Schieberbewegung erfolgt hierbei so, als würde der Schieber direct durch ein Excenter bethätigt, dessen Excentricität r bedeutend kleiner, dessen Voreilungswinkel δ aber bedeutend größer ist, als jene Größen am wirklichen Excenter. Nehmen wir bezogen auf die Dampfcanalweite a jene idealen Größen r = a und δ = 60° an, ferner die äußere Deckung e = 2/3 a und die innere i = 0,1 a, so ergibt sich die Abweichung des Schiebers aus seiner Mittelstellung für jeden Kurbelwinkel ω vom todten Punkt aus, oder der Schieberweg ξ = r sin (ω + δ) = a sin (ω + δ) und man erhält den Kurbelwinkel ω für die verschiedenen Phasen der Dampfvertheilung, indem man: für Beginn der Expansion hinter dem Kolben ξ = e, sin (ω + δ) = 2/3  „       „        „   Compression vor   „         „ ξ = i, sin (ω + δ) = 0,1  „       „        „   Ausströmung hinter         „ ξ = – i, sin (ω + δ) = – 0,1 f. Beginn des Gegendampfes vor dem Kolben ξ = – e, sin (ω + δ) = – 2/3 setzt, woraus sich sodann die zugehörige Kolbenstellung im Mittel des Hin- und Herganges in Procenten des Kolbenweges s = 50 (1 – cos ω) ergibt. Man findet für: ξ = e ξ = i ξ = – i            ξ = – e s = 40       s = 70       s = 79 s = 97 1/2 Proc. Das die Dampfspannung hinter und vor dem Kolben darstellende Diagramm würde sich also in der Art wie Fig. 5 ergeben, wobei die Differenz der Ordinaten den wirksamen Ueberdruck darstellt, also ersichtlich ist, daß die dem Kreuzungspunkt K entsprechende Kolbenstellung, bei welcher der Druck in den Führungsgleitstücken auf einen Augenblick seine Richtung ändert, ganz nahe dem Ende des Kolbenlaufes liegt. Zeichnet man die Curve des Vorderdampfdruckes in entgegengesetzter Lage, nämlich für den Kolbenrückgang (die punktirte Linie), so entsteht das geschlossene Diagramm, welches dem Mittel der zwei Indicator-Diagramme entspricht, die man an beiden Cylinderenden abnehmen könnte, und dessen mittlere Ordinate y die zur Berechnung der indicirten (oder absoluten) Pferdstärke nöthige Spannung angibt. Denken wir uns nun den Steuerungshebel symmetrisch umgelegt, somit die Stephenson'sche Coulisse aus der theilweise gesenkten in die eben so viel gehobene Lage gebracht, während die Kurbel ihre Bewegungsrichtung unverändert beibehält, so ist nicht mehr das um 90° + δ vorgestellte ideale Excenter mit r = a wirksam, sondern die Schieberbewegung erfolgt so, wie durch ein ideales Excenter mit r = a, welches aber um 90° + δ her Maschinenkurbel nacheilt. Der Schieberweg in demselben Sinne wie früher gemessen, wird daher jetzt: ξ = r sin (δω) oder ξ = – r sin (ωδ) Wenn die Kurbel im ersten todten Punkt steht, so ist ξ = r sin δ wie früher, es findet also hinter dem Kolben Dampfeinströmung durch das lineare Voreilen v = r sin δ – e = 0,2 a statt, und erst wenn der Schieber gegen seine Mittellage zurückgegangen ist bis zu ξ = e, d. i. nach 2 1/2 Proc. des Kolbenweges, entsprechend der früheren Gegendampfperiode, findet die Absperrung des förderlich wirkenden Gegendampfes statt. Vor dem Kolben werden die im Cylinder befindlichen Gase wieder in das Ausströmungsrohr hinausgedrängt, bis der zurückgehende Schieber in die Phase ξ = i kommt, wobei die Ausströmung der Gase abgeschnitten wird, und die Compression derselben beginnt. Dieß erfolgt nach 21 Proc. des Kolbenweges, entsprechend der früheren Dampfausströmung. Hinter dem Kolben expandirt der in den Cylinder und in den schädlichen Raum eingetretene Dampf bis zu der Phase ξ = – i, wo derselbe in das Ausströmungsrohr auspufft. Die zugehörige Kolbenstellung = 30 Proc. entspricht dem früheren Beginn der Compression. Während der Dampf ausströmt, bewegt sich der Kolben fort, und es beginnt sehr bald das Ansaugen der Verbrennungsgase aus der Rauchkammer, welches nun bis zu Ende des Kolbenlaufes, während der Schieber die Phase ξ = – e, – (e + v), – r und wieder – (e + v) durchläuft, ununterbrochen anhält. Vor dem Kolben dauert die Compression der (Gase fort, bis bei ξ = – e oder bei 60 Proc. des Kolbenweges, entsprechend der Absperrung bei normalem Gang, die Communication mit der Dampfkammer hergestellt wird. Der eindringende Gegendampf vertreibt die Gase, und wird sodann mit dem Rest derselben in den Kessel zurückgedrängt, wobei natürlich eine etwas höhere als die Kesselspannung entsteht, die am Schlusse des Kolbenweges wieder auf die Kesselspannung herabsinkt. Das die Spannung darstellende Diagramm zeigt Figur 6. Der Durchschnittspunkt K¹ der beiden Spannungscurven liegt hier näher der Mitte des Kolbenweges. Durch symmetrische Uebertragung der Curve des Vorderdampfdruckes erhält man wieder ein geschlossenes Indicator-Diagramm, dessen mittlere Spannung y¹ etwa 52 Proc. des y bei normalem Gang beträgt. Tritt nun mittelst eines einzölligen Rohres und eines sehr eng gestellten Hahnes oder Schiebers Kesselwasser in das Auspuffrohr, so verdampft dasselbe jenseits der Hahnöffnung unter dem geringen Druck größtentheils sofort; ein Theil dieses wässerigen Dampfes strömt beim Schornstein heraus und gibt dem Maschinisten zu erkennen, daß er hinreichend viel Wasser zugelassen habe, um ein Ansaugen von Verbrennungsgasen unmöglich zu machen; der andere Theil tritt statt der Gase in den Cylinder, kühlt denselben durch die Verdampfung des Wassers ab und wird sodann in den Kessel hineingedrückt, ohne die Wirksamkeit des Giffard'schen Injectors im Mindesten zu beeinträchtigen. Das aufgenommene Indicatordiagramm ist jenem in Fig. 6 ganz ähnlich, nur entfällt das Sinken der Spannung unter die atmosphärische Linie in der Ansaugperiode. Die mittlere Spannung y¹ beträgt bei der Rast des Hebels auf 67 Proc. Füllung nur 60 Proc. der mittleren Spannung y des normalen Diagrammes, kann bei ganz ausgelegtem Hebel auf 70 Procent kommen, sinkt jedoch bei der Stellung auf 15 Proc. Füllung schon beinahe auf Null. Wenn man daher bei der Thalfahrt mit Gegendampf ohne Bremsung den Hebel in einer Zwischenlage hält, in welcher y¹ = 0,5 y ist, so hat man durch das volle Auslegen desselben und Benutzung der Bremsen noch immer ein wirksames Mittel im Falle einer Gefahr. Der Verbrauch an Kesselwasser beträgt für jeden Cylinder höchstens 25–30 Kilogramme (circa 1 Kubikfuß) pro Minute, und es darf der Hahn nur eine Oeffnung von 6 bis 10 Quadratmillimeter oder 1 1/2 bis 2 1/2 Quadratlinien darbieten. Die Regulirung desselben bietet daher eine erhebliche Schwierigkeit, welche der Verfasser ausführlich bespricht. Ich glaube, daß man derselben sehr einfach dadurch abhelfen könnte, daß das einzöllige Zuleitungsrohr an einer Stelle vor der Theilung zu beiden Cylindern noch einen Hahn erhält, durch welchen der vom Kessel kommende Druck beliebig abgeschwächt werden kann, zufolge dessen die beiden Regulirungshähne nächst den Cylindern viel weiter geöffnet, also sicherer gehandhabt werden können. Ist die eingespritzte Wassermenge zu reichlich, so fällt Wasser in den Rauchkasten nieder, oder wird sogar aus dem Schornstein ausgeworfen. Ein Uebelstand des Reversirens ist durch das neue System nicht gehoben. Wenn nämlich die Stephenson'sche Coulisse mit offenen Stangen montirt ist (positive Montirung), so ist sie bei normalem Gang in gesenkter Lage. Die am Umfange der Excenter wirkende Reibung sucht beim Vorwärtsgang die Excenterringe im Sinne der Bewegung, rechts herum mitzunehmen, also den Reversirhebel in der ausgelegten Stellung zu erhalten. Wird nun reversirt und legt der Maschinist in der Hast den Riegel am Hebel nicht ganz fest ein, so daß er sich durch den Stoß zurückziehen kann, so führt, die in demselben Sinn wie früher wirkende Excenter-Reibung die Excenterringe sammt Stange und der gehobenen Coulisse wieder nach abwärts, und schleudert den Reversirhebel auf die andere Seite, was besonders dann für den Maschinisten tödtlich werden kann, wenn der Hebel bei normalem Gang nicht vorgelegt, sondern zurückgelegt ist, wie dieß in Frankreich seit einer Reihe von Jahren üblich ist (S. 11). Diesem Uebelstand wird vorgebeugt durch Anwendung einer Gooch'schen statt der Stephenson'schen Coulisse, oder durch Anwendung der Umsteuerung mittelst Schraube, welche Hr. Marié zugleich mit der Benutzung des Gegendampfes einführte. Eine andere Methode den Gegendampf zu benutzen, welche meines Erachtens noch zweckmäßiger ist, wurde von Hrn. Bourson, Ingenieur der spanischen Nordbahn, versucht. Derselbe spritzt Kesselwasser in den Schieberkasten. „Die Versuche haben sehr befriedigt, der Umsteuerungshebel ist leicht zu handhaben, die Cylinder sind weniger warm als im Gange mit Gegendampf bei Anwendung des anderen Apparates, es entweicht kein Wasser mehr aus dem Rauchfang, und man vermeidet jeden Rücktritt der Luft, ohne daß man genöthigt ist, fortwährend mit dem Einspritzhahn zu manövriren. Der Wasserverbrauch (pro Cylinder) schwankt zwischen 16 und 24 Kilogram. in der Minute je nach der Rastlage und bei einer Geschwindigkeit von 30 Kilometer (4 Meilen) in der Stunde. Die Stöße der Dampfausströmung sind ebenso markirt, wie beim directen Gang.“ (S. 45.) Schließlich heben wir hervor, daß der Herr Verfasser ausdrücklich berichtet, daß der Maschinist ohne den Regulator zu schließen in 2 oder höchstens 3 Secunden reversirt (S. 59); bei unserer jetzigen Einrichtung muß derselbe erst den Regulator schließen, damit der Schieber keinen zu großen Widerstand bietet und erst nach erfolgter Umlegung des Hebels öffnet er wieder den Regulator, wenn es nöthig ist den Gegendampf zu geben. Ein geschickter Maschinist weiß jedoch mit dem gelösten Hebel in der Hand den Moment abzupassen, wo die Kurbel in der todten Lage ist, und bei sehr rascher Verstellung des Hebels der Schieber gar nicht bewegt wird, also kein Hinderniß darbietet. – Das Studium der in der Brochüre enthaltenen Rechnungen wird dem Leser von Interesse seyn, doch glauben wir nicht darauf eingehen zu sollen. Prof. Gustav Schmidt.

Tafeln

Tafel Tab.
                                    I
Tab. I