Titel: | Die Kesselexplosion in Remscheid, ein Beweis für die Gefährlichkeit sehr vieler anderer Anlagen; von H. v. Reiche, Ingenieur des sächsisch-anhaltinischen Vereines zur Prüfung und Ueberwachung von Dampfkesseln. |
Fundstelle: | Band 203, Jahrgang 1872, Nr. XX., S. 85 |
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XX.
Die Kesselexplosion in Remscheid, ein Beweis für
die Gefährlichkeit sehr vieler anderer Anlagen; von H. v. Reiche, Ingenieur des sächsisch-anhaltinischen Vereines zur Prüfung und
Ueberwachung von Dampfkesseln.
Aus der Zeitschrift des Vereines deutscher
Ingenieure, 1871, Bd. XV S. 673.
v. Reiche, über die Kesselexplosion in Remscheid.
Ueber die am 9. Juni 1871 auf der Gußstahlfabrik des Hrn. v. d. Rahmer in Remscheid erfolgte Kesselexplosion ist folgendes Wesentliche
bekannt geworden.
Der explodirte Kessel war ein stehender Cylinder von 4 Fuß (1,25 Met.) Durchmesser
und 24 Fuß (7,53 Met.) Höhe. Der mittlere Wasserstand lag in 18 Fuß (5,65 Met.)
Höhe, und über dem Wasserspiegel befand sich also noch ein Dampfraum von 6 Fuß (1,88
Met.) Höhe. Im Wasserstandsniveau war ein horizontaler Wasserstandsdom von 2 1/2 Fuß
(0,78 Met.) Durchmesser und 2 1/2 Fuß (0,78 Met.) Länge angebracht und mit einem
Wasserstandsglase, zwei Probirhähnen und einem Schwimmer armirt.
Die Heizung geschah durch die abziehenden sehr heißen Gase eines in etwa 4 Fuß (1,25
Met.) Entfernung belegenen Schmelzofens für Gußstahl mit acht Tiegeln.
Erste Veranlassung zur Katastrophe war das Platzen eines Dichtungsringes in der
Dampfleitung, welchem bald darauf das Zerspringen des Wasserstandsglases folgte. Man
sperrte nun das Dampfventil ab, in Folge dessen das Sicherheitsventil stark abblies,
und war 5 bis 6 Minuten nicht im Stande, die Hähne am Wasserstandsglase zu
schließen. Gleich darauf, d.h. 6 bis 8 Minuten nach Abschluß des Dampfventiles,
explodirte der Kessel, und zwar an Wassermangel, welcher bis auf 2 1/2 Fuß (0,78
Met.) unter dem Normalwasserstande nachgewiesen ist. Zur Zeit der Absperrung des
Dampfventiles soll dagegen der Kessel noch genügend mit Wasser versehen gewesen
seyn; er muß sich also innerhalb 6 bis 8 Minuten sehr rasch von Wasser entleert
haben, und die Ursache dieser Entleerung ist offenbar auch die Ursache der
Explosion.
Die Entleerung hat nun erwiesenermaßen stattgefunden:
1) durch Ausblasen von Wasser aus dem unteren
Wasserstandshahn,
2) durch Abblasen des Sicherheitsventils und des oberen
Wasserstandshahnes.
Wäre der Kessel während dieser Vorgange im Beharrungszustande gewesen, hätte also in seinem Inneren nicht
Außergewöhnliches stattgefunden, so konnte ein gefährlicher Wassermangel gar nicht
eintreten; durch das Sicherheitsventil nicht, weil ein solches dann nicht mehr
Wasser entfernen kann, als gleichzeitig verdampft wird, und das ist außerordentlich
wenig; und durch den unteren Wasserstandshahn nicht, weil dessen Thätigkeit aufhört
gefährlich zu seyn in dem Augenblicke, in welchem der Wasserspiegel unter seine
Mündung sinkt.
Demnach ist klar, daß im Kessel Ungewöhnliches der
Explosion voranging, und es entstehen die Fragen:
1) ist dieses Ungewöhnliche so selten, daß darauf bei Anlage und Betrieb der Kessel
Rücksicht zu nehmen sich nicht lohnt, oder aber
2) ist dieses Ungewöhnliche in seinen Ursachen und Folgen so unbekannt, daß man
seinen verderblichen Folgen nicht vorbeugen kann, und
3) bietet die Befolgung der bestehenden gesetzlichen Vorschriften Schutz gegen seine
Folgen?
Die ersten beiden Fragen müssen verneint, die letztere muß
bejaht, und um dieß zu begründen, mag Folgendes
angeführt werden:
Eine ganz bekannte, durchaus nicht selten auftretende außergewöhnliche Erscheinung
ist, daß die Sicherheitsventile nicht (wie gewöhnlich)
Dampf, sondern ein Gemische von Wasser und Dampf
auswerfen.
Die Erscheinung ist sehr häufig, sowohl an stationären wie
an Schiffskesseln beobachtet worden, und oft einer
Explosion unmittelbar vorher und in sie übergegangen.
Ich bin, ehe ich mich specieller mit Dampfkesseln beschäftigte, häufig von
Schiffs-Ingenieuren um den Grund dieser Erscheinung befragt worden, ohne ihn
angeben zu können. Man stellte mir gewöhnlich die Sache so vor, daß aus
räthselhafter Ursache plötzlich sich das Füllungsverhältniß im Dampfkessel umkehre,
so daß das Wasser den oberen und der Dampf den unteren Theil des Kessels ausfülle.
Für Wahrheit halte ich Folgendes:
Entsteht plötzlich eine größere Oeffnung, und durch sie eine beträchtlich geringere
Spannung im Dampfraum, so muß kurz darauf der ganze Kessel mit einem Gemisch von
Wasser und Dampf erfüllt seyn, weil die im Wasser sich plötzlich bildende
außerordentlich große Dampfmasse nicht die Zeit findet, sich einen Weg durch das
Wasser zu bahnen, letzteres also mit in die Höhe reißt.
Diesen Vorgang kann man mit Hülfe jeder Selters- oder Champagnerflasche
herbeiführen: Man ziehe den Kork rasch heraus und wird sehen, daß nicht reine
Kohlensäure, sondern Schaum, also ein Gemisch von Flüssigkeit und Gas in so großer
Menge entweicht, daß in kurzer Zeit die Flasche beträchtlich von Flüssigkeit
entleert ist.
Jedermann ist aber auch bekannt, wie man dem vorbeugt:
Lüftet man den Kork so successive, daß die Spannung in der Flasche sich allmählich verringert, so behält man alle Flüssigkeit in
der Flasche, und zwar deßhalb, weil die Gasentwickelung nun so langsam vor sich geht, daß die Bläschen Zeit
haben nach oben zu steigen, ohne Flüssigkeit mit sich zu
reißen.
Vergleicht man nun einen Dampfkessel mit einer Seltersflasche, so ist sofort klar,
daß bei ersterem unter Umständen die Entleerung viel vollständiger werden kann, als
bei der Flasche, denn im Dumpffessel wird nicht, wie in der Flasche, nur das im Wasser gelöste Gas frei, sondern es entwickelt
sich auch noch neues Wassergas, wenn dem Kessel fortgesetzt Wärme zugeführt wird.
Der größte Uebelstand aber ist der folgende:
Die Kraft, mit welcher die Dampfblasen das Wasser zu durchbrechen streben, ist nichts
Anderes als der Auftrieb. Diese Kraft, und also das
Bestreben des Wassers, sich von dem Dampf zu trennen, ist nun desto geringer, je specifisch
leichter die Flüssigkeit ist, und ihr Erfolg verzögert sich desto mehr, einen je
längeren Weg die Dampfblasen bis zur Oberfläche zurückgelegt haben.
Erwägt man dabei, daß unter allen Umständen das Wasserniveau durch die
Dampfentwickelung (um wie viel, ist ganz gleichgültig) gehoben wird, so leuchtet
ein, daß in einem bis oben einmal mit Schaum gefüllten Kessel eine Trennung des
Dampfes vom Wasser absolut nicht eintreten kann, es sey denn,
daß durch das Sicherheitsventil ein Volumen abgeführt werde, welches kleiner ist
als das Volumen der stets neu sich bildenden Dämpfe.
Das Letztere kann man nun bei einem Dampfkessel nur durch Schließen des
Sicherheitsventils, und diesen Schluß (mit Erfolg) auf nur zweierlei Weise
erreichen:
Entweder nämlich, man belastet das Sicherheitsventil stärker, oder aber man entzieht
den Kessel der Einwirkung des Feuers, und kühlt ihn (wenn nöthig) noch durch einen
kalten Luftstrom ab, so daß also die Dampfentwickelung unterbrochen, und durch
fortgesetztes Abblasen die Spannung im Kessel bis zu dem Grade verringert wird, bei
welchem sich das Ventil von selbst schließt.
Das erste Mittel ist ungesetzlich, und seine Anwendung
könnte bei dennoch eintretendem Unglück die handelnde Person als die Ursache der
Katastrophe erscheinen lassen. Wäre dem aber auch nicht so, so würde ich dennoch nie
zu seiner Anwendung schreiten, weil es immer sehr mißlich ist, den Dampfdruck auf
unbekannte Höhe zu steigern.
Das zweite Mittel dagegen, die Aufhebung der Feuerwirkung
auf den Kessel, ist gänzlich ungefährlich und führt allemal zum Ziel, die
Katastrophe zu vermeiden, weil selbst eine bedeutende Entleerung des Kessels keine
Gefahr mehr einschließt, wenn dem Kessel keine neue Wärme mehr zugeführt wird, wenn
also seine Bleche nicht überhitzt werden können. Dieß Mittel wird auch fast jedesmal
und mit Erfolg vom Heizer (durch Aufreißen der Heizthüren etc.) angewendet, sobald
die Sicherheitsventile Wasser abblasen, und wo es nicht angewendet werden kann,
steht man der nahenden Katastrophe sehr machtlos gegenüber.
Mit Recht wird daher vom Gesetz verlangt, daß der Dampfkessel jederzeit der
Feuerwirkung leicht soll entzogen werden können.
Zurückblickend erkennen wir nun den Vorgang bei der Katastrophe zu Remscheid als den
folgenden:
Durch das Platzen des Gummiringes in der Rohrleitung entstand eine so große
Dampfabflußöffnung, daß kurze Zeit darauf der Kessel vollständig mit Schaum angefüllt
war, welcher anfänglich vielleicht schon zwischen den getrennten Flantschen, nach
Abschluß des Dampfventiles aber aus dem Sicherheitsventil austrat.
Da nun der Kessel (den vorliegenden Berichten zu Folge) dem Feuer nicht entzogen wurde (wahrscheinlich weil solches bei der
vorhandenen Einrichtung nicht möglich war), so mußte sich
der Kessel bedeutend von Wasser entleeren. Die Katastrophe war also fast mit
Sicherheit zu erwarten, herbeigeführt dadurch, daß die Kesselbleche glühend wurden,
entweder indem sich Wasser und Dampf zu spät im Kessel trennten, nachdem also schon
zu viel Wasser herausgeschleudert war, oder nachdem der Schaum im oberen Theil des
Kessels bereits so dampfhaltig, also ein so schlechter Wärmeleiter war, daß er die
den Blechen zugeführte Wärmemenge nicht mehr absorbiren konnte.
Hieraus folgt nun:
1) Die Katastrophe in Remscheid ist keine von denen, welche nicht erklärt oder
vermieden werden können; sie hat vielmehr ihren Grund in der Außerachtlassung längst bekannter Thatsachen und in der Nichtbefolgung der
gesetzlichen Vorschriften.
2) Alle die Kessel (und es gibt deren namentlich in den Eisen- und Stahlwerken
außerordentlich viele), welche der Einwirkung des Feuers nicht rasch entzogen werden
können, sind im höchsten Grade explosionsgefährlich.
3) Nur dadurch daß man die Kesselanlage so einrichtet, daß
man den Kessel rasch dem Feuer entziehen kann, und nur
dadurch daß man Kesselwärter anstellt, welche intelligent und gewissenhaft genug
sind, diese Operation erforderlichen Falles auch auszuführen, kann man ähnlichem
Unglück für die Folge vorbeugen.
Für eine Vermeidung gelegentlicher Schaumbildung im Kessel wird man dagegen nie
einstehen können, weil der Ursachen (Bruch einer Dichtung, einer Rohrflantsche,
einer Rohr- oder Ventilwandung etc., ferner zu rasches Oeffnen eines Ventiles
etc.) zu viele sind, aus denen eine plötzliche sehr große Dampfentweichung aus dem
Kessel stattfinden kann.