Titel: | Das künstliche Alizarin. |
Fundstelle: | Band 213, Jahrgang 1874, Miszellen, S. 262 |
Das künstliche Alizarin.
In der letzten Sitzung der „Niederrheinischen Gesellschaft für Natur und
Heilkunde“ sprach Professor Kekulé
über das künstliche Alizarin, dessen Entdeckung auch weiteren Kreisen von Interesse
sein dürfte, weil es in schlagendster Weise den Beweis führt, daß die Lösung eines
rein wissenschaftlichen Problems im Verlaus weniger Jahre einen neuen und
großartigen Industriezweig hervorrufen kann. Der Vortragende gab zunächst eine kurze
Geschichte des Krapps, der schon seit den ältesten Zeiten seines Gehaltes an
Alizarin wegen zum Färben und namentlich zum Rothfärben verwendet worden ist; er
erwähnte, daß den zuverlässigsten Nachrichten zufolge, die jährliche Production
einen Werth von 15 bis 20 Millionen Thaler repräsentirt und daß etwa 3 bis 400000
Morgen Land durch Bau von Krapp in Anspruch genommen werden. Der rothe Farbstoff des
Krapps – das Alizarin – ist von der Chemie vielfach untersucht worden,
aber erst 1866 stellte Strecker die chemische Formel des Alizarins =
C₁₄H₆(OH)₂O₂ fest und sprach die Vermuthung aus,
es stehe zu einem im Steinkohlentheer in geringer Menge enthaltenen festen
Kohlenwasserstoff, dem Anthracen, in näherer Beziehung. Gelegentlich seiner schönen
Untersuchungen über das Chloranil und die Chinone wurde dann Gräbe zu der Ansicht geführt, das Alizarin sei ein dem Chinon ähnlicher
Körper; es gelang ihm, das Alizarin durch Erhitzen mit Zinkstaub in Anthracen
umzuwandeln und die von Strecker schon ausgesprochene
Vermuthung thatsächlich
zu begründen. Das weitere Problem, den bisher von der Natur durch Pflanzenthätigkeit
bereiteten Farbstoff künstlich auf chemischem Wege aus dem Anthracen zu erzeugen,
fand bald darauf durch Gräbe und Liebermann (dies Journal, 1870 Bd. CXCVI S. 359 und 585; Bd. CXCVII S.
285) seine Lösung. Da man hoffen durfte, die zunächst zu rein wissenschaftlichen
Zwecken im chemischen Laboratorium zur Anwendung gebrachten Methoden würden sich in
den Großbetrieb der chemischen Technik übertragen lassen, hielt man es für geeignet,
die Methode zur künstlichen Darstellung von Alizarin aus Anthracen durch ein Patent
zu sichern (18. November 1868). Zwei wesentliche Schwierigkeiten, die sich der
Einführung in die Praxis zu widersetzen schienen, wurden bald gehoben. Das Anthracen
war bislang nur selten und stets in kleiner Menge dargestellt worden, es war in den
wenigsten chemischen Sammlungen vertreten und ist nur in sehr geringer Menge, zu
etwa 1/2 Proc. in rohem Steinkohlentheer enthalten. Sobald es ein Gegenstand der
Nachfrage geworden war, fand die Technik geeignete Methoden zu seiner Darstellung,
und die Berechnung ergab, daß in den jährlich producirten etwa 5 Millionen Centner
Steinkohlentheer ein mehr als genügender Vorrath an Anthracen enthalten ist.
Andererseits hatten die ersten Vorschriften zur Darstellung des künstlichen
Alizarins Brom in Anwendung gebracht, einen Körper von beschränktem Vorkommen und
hohem Preise; da zeigten die Fabrikanten Meister, Lucius
und Brüning in Höchst (dies Journal, 1873 Bd. (NIX S. 238
und 1874 Bd. CCXII S. 444) durch eine am 15. Mai 1869 gerichtlich deponirte Methode,
daß das theure Brom, mit Vortheil sogar für der technischen Betrieb, durch die
billige Schwefelsäure ersetzt werden kann. Dadurch wurde, für Deutschland
wenigstens, die Fabrikation des künstlichen Alizarins vom Zwange des Patentes
befreit, während sie in Frankreich und England durch Patente geschützt ist. Außer
den Patentinhabern, der badischen Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen und
der schon genannten Höchster Firma, beschäftigten sich bald auch Gebrüder Gessert (dies Journal, 1871 Bd. CC S. 421) in
Elberfeld (jetzt Aktiengesellschaft für chemische Industrie) und F. Bayer und Comp. in Barmen mit
der Fabrikation von künstlichem Alizarin, und es schlossen sich rasch weitere
Fabrikanten an. Der technische Betrieb hatte im Jahre 1870 begonnen. Im Jahre 1873
sind etwa 900000 Kilogrm. einer 10procentigen Alizarinpaste producirt worden (von
der Höchster Firma allein 520000 Kilogrm.) im Werthe von 3 Millionen Thaler. In
letzter Zeit haben sich alle Fabriken vergrößert, das Etablissement in Ludwigshafen
in besonders hervorragender Weise; weitere Fabriken sind neu entstanden. Im
Augenblicke beträgt die monatliche Gesammtproduction etwa 200000 Kilogrm. im Werthe
von 600000 Thaler; schon jetzt wird also 1/3 des Krapps durch künstliches Alizarin
ersetzt. Für das Jahr 1874 dürfte der Werth des künstlich producirten Alizarins die
Summe von 6 bis 7 Millionen jedenfalls erreichen; im folgenden Jahre wird sie
voraussichtlich auf 10 bis 12 Mill. steigen, und man nimmt an, daß spätestens im
Jahre 1876 das künstlich fabricirte Alizarin für die Bedürfnisse der Färberei und
Druckerei ausreichen. Dann wird also alles Alizarin, welches vor wenigen Jahren noch
der Krapppflanze entnommen wurde, künstlich aus Steinkohlentheer dargestellt werden,
und alles Areal, welches jetzt durch Cultur von Krapp in Anspruch genommen wird, ist
für andere landwirthschaftliche Zwecke verwendbar. (Musterzeitung, 1874 S. 190.)