Titel: | Ueber den gegenwärtigen Stand der Zuckerindustrie Frankreichs und einige Experimente mit Bezug auf die Rolle des Kalkes bei der Klärung; von Lamy. |
Fundstelle: | Band 221, Jahrgang 1876, S. 64 |
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Ueber den gegenwärtigen Stand der Zuckerindustrie
Frankreichs und einige Experimente mit Bezug auf die Rolle des Kalkes bei der Klärung;
von Lamy.
Lamy, über Zucker.
In einem im Bulletin de la Société
d'Encouragement, 1876 S. 184 abgedruckten Berichte beklagt sich Lamy zunächst darüber, daß die Zuckerproduction in
Frankreich übertriebene Dimensionen angenommen habe. Vor 15 Jahren noch producirte
es 150000t; 1873/74 400000, 1874/75 460000
und in der heurigen Campagne wird es 500000 erreichen. Da die Gesammtproduction
Europas im letzten Jahr 1054000t betrug, so
lieferte Frankreich fast die Hälfte davon. Der Consum aber ist weit entfernt, in
derselben Weise zu wachsen. Er betrug 1858 202220t und war letztes Jahr 259000t,
d.h. nur etwas mehr als die Hälfte der Gesammtproduction. Dazu kommt noch, daß die
Colonien in Folge einer schönen Ernte dieses Jahr 103000t Zucker nach Frankreich importirten oder
26000 mehr als 1874.
Andere Länder, wie Deutschland und Oesterreich, deren Zuckerindustrie eine analog
rapide Entwicklung genommen hat, machen uns auf den ausländischen Märkten scharfe
Concurrenz. Der Grund dieser Ueberproduction und der damit zusammenhängenden Misere
ist nur eine Folge des verhängnißvollen wirthschaftlichen Axioms, daß man, um
wohlfeil zu produciren, viel produciren müsse. Aber in der Ausführung ist dieses
Princip nur unter der Bedingung richtig, daß man auch zu gleicher Zeit neue
Absatzquellen erschließt oder die Entwicklung des Consums und Exportes in gleicher
Weise vermehrt.
In Bezug auf den Export darf Frankreich auf keine besondere Ausdehnung seines
Absatzes mehr rechnen. Sein Consum hingegen ist noch sehr beschränkt – 8k pro Kopf – und müßte geradezu
verdoppelt werden, um die Höhe des englischen Consums – 16k pro Kopf – zu erreichen.
Unglücklicherweise sind die erhöhten Steuern, womit der Staat die Zuckerindustrie
treffen zu müssen glaubte, nicht geeignet, diesen Consum zu begünstigen. Folglich
muß die Besserung in der Fabrikation selbst gesucht werden.
Nun besteht aber das Hauptmittel in der Verbesserung der Zuckerrübe. Die
französischen Rüben gaben nur 5 bis 6 Proc. von ihrem Gewichte Zucker, während man
in Deutschland und Oesterreich 7 bis 8 Proc. erhält. Die Erfahrung hat bereits
genügend gezeigt, daß man bei der gehörigen Sorgfalt in Frankreich fast ebenso
reiche Zuckerrüben wie in Deutschland ernten und hierdurch das Erträgniß bedeutend
steigern könnte. Aber
was bis jetzt nur Ausnahme war, muß zur Regel werden. Zu diesem Zwecke bedarf es des
Zusammenwirkens von Fabrikanten und Rübenbauer, deren Interesse solidarisch ist.
Leider haben bisher die Fabrikanten ihren Bedarf an Rüben dem Gewichte nach gekauft,
ohne deren Gehalt in Rechnung zu ziehen. Hieraus ergab sich, daß viele Landwirthe,
um das Gewicht ihrer Ernte zu vermehren, Samen nahmen, die einer starken
Wurzelbildung günstig waren, und auch zu viel Mist oder chemische Dünger
verwendeten. So kam es vor, daß es im Departement Nord einem Landwirth gelang,
100t Zuckerrüben auf 1ha zu erzeugen. In Deutschland hingegen
veranlaßt die Gesetzgebung den Landwirth, nicht nach einem großen Volum, sondern
nach einem starken Zuckergehalte bei möglichst geringer Wurzelbildung zu streben.
Die Steuer trifft nicht das Fabrikat, wie in Frankreich, sondern die Wurzel bei
ihrem Eintritt in die Fabrik.
Die Verbesserung der Zuckerrübe durch eine richtige Auswahl des Samens, eine
rationelle Düngung sowie die Anwendung der speciellen Culturvortheile, welche
Wissenschaft und Praxis vorschreiben, das scheint dem Verfasser die erste Bedingung
zu sein, welche sich den Landwirthen, sowie den Fabrikanten aufdrängt. Als zweite
Bedingung erachtet er nothwendig eine Aenderung der Extraction des Saftes. Bei
Anwendung der continuirlichen Pressen, welche zum Ersatze der hydraulischen bestimmt
sind, hat man noch nicht so reine Säfte erhalten als wie mit jenen, und man kann
sagen, daß zur Zeit noch gar keine vollständig zufriedenstellende Resultate
geliefert wurden. Der letzte Punkt aber, welcher die Aufmerksamkeit der Gelehrten
und Fabrikanten erregen soll, ist die chemische Reinigung des Saftes. In dieser
Beziehung liegt eine bemerkenswerthe Arbeit von M. Pésier
La Chimie dans l'industrie sucrière.
Vortrag gehalten im Congreß zur Beförderung der Wissenschaften, Lille
1874. vor, der selbst früher Zuckerfabrikant war. Er polemisirt hauptsächlich
gegen die übermäßige Anwendung von Kalk bei der Klärung. Die bedeutende Vermehrung
des Schaumgewichtes, in welchem 50 Proc. Saft stecken, zieht einen Zuckerverlust
nach sich, der sich bei einer Fabrikation von 100000k Zuckerrüben täglich auf 200k beläuft. Um dieses Uebermaß von Kalk zu
rechtfertigen, beruft man sich auf die Regelmäßigkeit der Arbeit, welche derselben
gestattet, auf die bemerkenswerthe Entfärbung des Saftes, besondere Ersparung von
Spodium, die Schönheit der weißen Zucker erster Krystallisation und endlich die
Nothwendigkeit, mit dem conservirenden Elemente, dem Kalke, die Gesammtmenge des
Zuckers in Form eines Saccharates zu binden. Uebrigens ist die Existenz eines
Kalksaccharates bei einer Temperatur von 35° oder darüber zwar allgemein angenommen, aber niemals
bewiesen, und könnte nach den Versuchen Peligot's (1851
120 302) a priori
bestritten werden.
Nun behauptet Pésier, sehr viele alkalimetrische
Bestimmungen mit Läuterungsproben durchgeführt und constatirt zu haben, daß bei
einer Temperatur von 35° und also noch weniger bei 60° oder
70°, bei welcher die Kalkmilch in die Scheidepfannen geschüttet wird, ein
Saccharat gar nicht existirt, noch mehr, daß der auf den Titer wirkende Kalk in dem
geläuterten Saft so ziemlich nur aus dem besteht, womit sich das reine Wasser
sättigt; auf alle Fälle aber, daß er nicht einmal den zehnten Theil von dem
ausmacht, welcher zur Bildung eines einbasischen Saccharates nothwendig wäre.
Um diese Widersprüche aufzuklären, stellte nun Lamy selbst
folgende Versuche an. Zunächst bestimmte er die Kalkmenge, welche 100 Th. einer 10
proc. Zuckerlösung bei 30, 50, 60, 70 und 100° aufzulösen vermöchten, wenn
man ihnen 1 bis 2 Proc. Kalk zusetzen würde, – ein Verhältniß, wie es gerade
in der Praxis gewöhnlich genommen wird. Der gelöschte Kalk und die Zuckerlösung
wurden bei der Versuchstemperatur gemischt und 3 Stunden unter häufigem Schütteln in
Berührung gelassen. Dann fügte er dieselben Kalkmengen bei 50, 60 und 70° zu,
ließ die Temperatur allmälig bis 100° steigen, wie man es auch beim
gewöhnlichen Scheidungsverfahren macht; endlich wurde die Flüssigkeit rasch bei
100° filtrirt und der in Lösung bleibende Kalk titrirt. Folgende Tabelle gibt
die Resultate dieser Versuche.
Löslichkeit des Kalkes in 10proc. Zuckerlösungen bei Anwendung
von 2g Kalk auf 100 Th. Lösung.
Temperaturgrade
Kalk gelöstin 10000gder Zuckerlösung.
Kalk gelöstin 10000greinemWasser.
Differenzausdrückendden an
ZuckergebundenenKalk.
Kalknöthig
füreinbasischesSaccharat.
Ueberschuß des zurSaccharatbildungnöthigen
Kalkes überden an Zuckergebundenen.
g
g
g
g
g
100
15,5
6
9,5
149
+ 139,5
70
23,0
7,9
15,1
„
+ 133,9
50
53,0
9,6
43,4
„
+ 105,6
30
120,0
11,7
118,3
„
+ 80,7
15Die den Temperaturen von 15 und 0° entsprechenden Ziffern
wurden erhalten durch Sättigen der Zuckerlösungen mittels eines
Ueberschusses von Kalk.
215,0
13,0
202,2
„
– 53,0
0
250,0
14,0
236,0
„
– 87,0
50 bis 100
18,5
6,0
12,5
„
+ 136,5
60 „ 100
17,0
6,0
11,0
„
+ 138,0
70 „ 100
16,0
6,0
10,0
„
+ 139,0
Aus dieser Tabelle lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:
1) Die Menge des in der Zuckerlösung aufgelösten Kalkes vermehrt sich in demselben
Maße, als die Temperatur sinkt, wie dies auch für die Auflösung des Kalkes in reinem
Wasser gilt.
2) Zieht man von den in Zuckerwasser aufgelösten Kalkmengen (2. Spalte der Tabelle)
diejenigen ab, welche von reinem Wasser bei derselben Temperatur aufgelöst werden
(3. Spalte), so erhält man die Ziffern, welche der Absorption des Kalkes durch den
Zucker allein entsprechen. Nun ist es bemerkenswerth, daß diese Ziffern mit der
Temperatur variiren, und daß sie bedeutend höher sind als diejenigen, welche der
Auflösung des Kalkes in reinem Wasser entsprechen.
3) Vergleicht man dieselben Zahlen (4. Spalte) mit der Ziffer 149 der 5.
Tabellenspalte, welche ausdrückt, wie viel Kalk aufgelöst sein müßte, um ein
einbasisches Saccharat zu bilden, so findet man, daß sie niedriger sind als diese
– und zwar um so viel mehr, als die Temperatur höher ist wie 30°. Bei
100°, unter den Bedingungen des gewöhnlichen Fabrikverfahrens, ist die
Quantität des wirklich durch den Zucker aufgelösten Kalkes sogar niedriger als der
zehnte Theil der nothwendigen Ziffer 149. Die kleinen Differenzen, welche die Zahlen
der 6. Tabellenspalte ergeben, entsprechend den Temperaturen 100°, 50°
bis 100°, 70° bis 100° erklären sich genügend durch den
Unterschied an Zeit, während welcher die Lösungen bei 100° standen, sowie
durch die Schwierigkeit, bei dieser Temperatur eine Sättigung zu erlangen.
So wurde die Ziffer 15,5, entsprechend der Kalkmenge, die bei 100° gelöst
wurde, nach einer Berührung von ca. 3 Stunden erhalten, während die Ziffern 18,5, 17
und 16 den Kalkmengen entsprechen, welche in dem Augenblicke in Lösung blieben, wo
die gezuckerten Flüssigkeiten die Temperatur 100° erreichten.
4) Schließlich bemerkt Lamy, daß die von 10proc.
Zuckerlösungen absorbirte Kalkmenge mit dem Sinken der Temperatur so groß werden
kann, daß sie bei 0° z.B. die für ein basisches Saccharat nöthige Menge um
mehr als 50 Proc. übersteigt. Handelt es sich also um reine Zuckerlösungen, so ist
die Quantität des gebundenen Kalkes größer als diejenige, welche reines Wasser bei
derselben Temperatur lösen kann, selbst bei 100°; aber sie ist noch viel
geringer als diejenige, welche zur Bildung eines einbasischen Saccharates zwischen
30 bis 70° nothwendig wäre.
Gleichzeitig berichtete Lamy im Auftrage des chemischen
Ausschusses der Société d'Encouragement
über ein neues Läuterungsverfahren von Marot. Dieses
Verfahren gründet sich auf die Idee, daß es nicht die eigentlichen Mineralsalze
sind, welche sich der Zuckerfabrikation hindernd in den Weg stellen, sondern
vielmehr alle Salze mit mineralischer Base, die an organische Säuren und zugleich cm
neutrale Körper gebunden sind (a. a. O. S. 215).
Der Prüfungsausschuß kann dieses Princip jedoch nicht zulassen, welches im
Widerspruch stünde zu dem wohl constatirten, nachtheiligen Einflusse des
Natrium- und Kaliumnitrates, zu der Krystallisation des Zuckers, der aus
Melassen durch Osmose gewonnen wird, sowie zu andern bekannten Thatsachen (vgl. 1876
219 363).
Die organischen Stoffe, welche durch fehlerhafte Läuterung im Zucker bleiben, haben
Marot veranlaßt, die Anwendung von Kalk und
Baritsalzen aufzugeben, um die Läuterung mit einem Minimum von Kalk (1/3 Proc.)
durchzuführen. Nach mäßigem Erkalten und Klären fügt er nun Kalk zu, der theilweise
an Kohlensäure gebunden ist, und siedet so lange, bis die Masse auf den fünften
Theil ihres Volums eingedampft ist. Dieses Sieden hat den Zweck, die
stickstoffhaltigen Substanzen zu zersetzen und das hieraus resultirende Ammoniak in
Freiheit zu setzen.
Werden diese verschiedenen Operationen wirklich den Zweck erreichen, welchen sich Marot setzt? Lösliche Kalksalze sowie milchsaure Salze
müssen nach der Läuterung zurückbleiben; auch wird durch nichts bewiesen, daß aller
Stickstoff durch das Sieden entfernt wird. Werden nun die verschiedenen Producte,
die beim Sieden mit überschüssigem Kalke entstehen, durch die Kohlenfilter
absorbirt? Umfassende Analysen der behandelten Säfte und der gekochten Massen sind
das einzige Mittel, um zu beurtheilen, ob hierbei der Ertrag steigt, und ob die
vorgeschlagene Methode der gewöhnlichen vorzuziehen ist.
V. G.