Titel: | Ueber die chemische Constitution des Chlorkalkes; von C. Stahlschmidt. |
Autor: | C. Stahlschmidt |
Fundstelle: | Band 221, Jahrgang 1876, S. 243 |
Download: | XML |
Ueber die chemische Constitution des Chlorkalkes;
von C. Stahlschmidt.
Stahlschmidt, über die chemische Constitution des
Chlorkalkes.
Schon früher habe ich die Ansicht ausgesprochen (vgl. 1875 217 150), daß der Chlorkalk als ein Kalkhydrat zu betrachten sei, in
welchem 1 Atom Wasserstoff durch Chlor vertreten ist, daß ferner bei der Bildung des
Chlorkalkes Chlorcalcium und Wasser entsteht, und daß endlich in demselben beim
Zusammenkommen mit Wasser die chlorhaltende Verbindung in unterchlorigsauren Kalk
und in Kalkhydrat zerfällt:
1) 3 CaH₂O₂ + 4 Cl = 2 CaHClO₂ + CaCl₂
+ 2 H₂O
2) 2 CaHClO₂ + Wasser = CaCl₂O₂ +
CaH₂O₂.
Das zu meinen Versuchen benützte Kalkhydrat wurde theils aus gebranntem reinen
Marmor, zum größten Theil jedoch aus reinem kohlensauren Kalk bereitet, welcher
durch Fällen von Chlorcalcium mit kohlensaurem Ammoniak dargestellt wurde. Das
gelöschte Kalkhydrat wurde in einem kohlensäurefreien trocknen Luftstrome bei
100° so lange getrocknet, bis das Gewicht constant blieb und eine Analyse den
richtigen Wassergehalt anzeigte. Ingleichem wurde über Schwefelsäure bis zum
constanten Gewichte getrocknetes Kalkhydrat zur Chlorkalkdarstellung benützt.
In Betreff der Befähigung der verschieden dargestellten Kalkhydrate, Chlor
aufzunehmen, sind vielseitige Versuche angestellt worden; merkwürdiger Weise jedoch
sind die gewonnenen Resultate ungemein abweichend. Besonders sind die Beobachtungen
von Graham und Bolley
interessant, nach denen
ein bei 100° getrocknetes Kalkhydrat fast gar kein Chlor aufnimmt, während
das über Schwefelsäure getrocknete Hydrat diese Fähigkeit in hohem Maße besitzt. Die
neuesten Untersuchungen, welche diese Frage betreffen, sind von Tschigianjanz, Fricke und Reimer (1869 192 297) veröffentlicht worden.
Nach denselben wurde bei vielen Versuchen das bei 100° getrocknete Kalkhydrat
von Chlor durchaus nicht angegriffen, während unter denselben Umständen bei andern
Versuchen ein 32,5 und 37,8 procentiger Chlorkalk erhalten wurde.
Ingleichem wurde das Chlor von einem Kalkhydrat, welches über Schwefelsäure
getrocknet war, aufgenommen, während dasselbe Hydrat bei 100° getrocknet, nur
unbedeutende Menge Chlor absorbirte. Tschigianjanz etc.
sind also zu denselben widersprechenden Resultaten gelangt, wie Bolley und Graham und erklären
diese auffallende Erscheinung theilweise durch einen kleinen Wassergehalt des
Kalkhydrates, der zur Einleitung der Chlorkalkbildung nöthig sei, theilweise durch
eine niedrige Temperatur, welche der Bildung des Chlorkalkes hindernd in den Weg
trete. Nach denselben wird absolut trockenes Kalkhydrat bei 0° nicht
wesentlich verändert, Kalkhydrat mit Spuren von Feuchtigkeit aber bei dieser
Temperatur in Chlorkalk verwandelt. Ein Gehalt von 0,4 Proc. Wasser und darüber
bedingt bei jeder Temperatur die Bildung des Chlorkalkes; ein bei 100 bis
130° getrocknetes Hydrat wird jedoch bei 0° nur dann in Chlorkalk
verwandelt, wenn es sich erwärmen kann; es wird jedoch von Chlor nicht angegriffen,
wenn es auf die gewöhnliche Temperatur oder auf 0° abgekühlt wird.
Die von mir in derselben Richtung angestellten Versuche bestätigen im Allgemeinen die
Beobachtungen von Tschigianjanz etc. Nicht allein liefert
ein absolut trocknes Kalkhydrat Chlorkalk, sondern ein noch Aetzkalk haltendes
Hydrat nimmt im Verhältniß des Hydratgehaltes, Chlor auf und bildet Chlorkalk, wie
dies Kopfer
Liebig's Annalen der Chemie, Bd. 177 S. 314. ebenfalls gefunden hat.
Das bei meinen Operationen benützte Chlor wurde durch Waschen mit Kupfervitriollösung
und durch calcinirten Kupfervitriol von der Salzsäure, hierauf durch concentrirte
Schwefelsäure und Chlorcalcium vom Wasser befreit, ehe es dem Kalkhydrat dargeboten
wurde.
Während nun ein Kalkhydrat mit der größten Leichtigkeit Chlor aufnahm, ging bei einem
auf dieselbe Weise dargestellten Hydrat die Absorption nur sehr langsam von Statten
und hörte endlich ganz auf, bevor die Sättigung mit Chlor eingetreten war. Auch bei
gewöhnlicher Temperatur, wenn eine künstliche Kühlung unterlassen wurde trat die
Absorptionsfähigkeit dieses Hydrates nicht merklicher hervor; es besaß mit einem Worte die Fähigkeit
nicht, Chlorkalk zu bilden; das Absorptionsgefäß, in welchem sich das Kalkhydrat
befand, wurde gewöhnlich mit Wasser gekühlt, meistens aber mit Hilfe von Watte, die
mit Aether befeuchtet wurde. In beiden Fällen verlief die Absorption ganz glatt und
ohne merklichen Unterschied. Selbst in dem Falle, wenn das Gefäß mit Eis gekühlt
wurde, lieferte ein bei 100° getrocknetes Hydrat mit Leichtigkeit Chorkalk
von 33 bis 36 Proc. wirksamen Chlor; nur ging, besonders bei fortschreitender
Sättigung, die Absorption des Chlors immer langsamer von Statten.
Obgleich daraus hervorgeht, daß eine niedere Temperatur der Chlorkalkbildung nicht
günstig ist, dieselbe vielmehr verlangsamt, so möchte ich nach meinen Beobachtungen
darin doch den Grund nicht erkennen, warum gewisse Kalkhydrate der Aufnahme von
Chlor so hartnäckig widerstehen; ich glaube vielmehr, daß kleine unwillkürlich
stattfindende Veränderungen in der Bereitung des Hydrates einen für die
Chlorkalkbildung ungünstigen Agregatzustand herbeiführen, mögen diese Veränderungen
nun hervorgerufen werden durch das Brennen des kohlensauren Kalkes, durch das
Löschen des Aetzkalkes oder durch das Trocknen der Kalkhydrate bei 100°. Ich
glaube, daß die Art und Weise des Trocknens des Hydrates am Meisten hier ins Gewicht
fällt, da ein über Schwefelsäure vollständig getrocknetes Hydrat die beregten
Uebelstände nur unerheblich zeigt. Daß aber auch die andern beiden genannten
Zwischenoperationen bei der Bereitung des Hydrates von Einfluß sind, scheint mir aus
Folgendem hervorzugehen.
Ein vollständig bei 100° getrocknetes Kalkhydrat lieferte nach der Behandlung
mit Chlor und zwar bei unabhängig von einander angestellten Versuchen: Chlorkalk von
35,5, 35, 36 und 35,4 Proc. wirksames Chlor.
Als dasselbe Kalkhydrat einige Stunden über Wasser gestellt und dann dem Chlor
dargeboten wurde, entstand ein Chlorkalk von 34,3 Proc. Im letztern Falle hatte das
Kalkhydrat einen Ueberschuß von freiem Wasser; trotzdem aber wurde kein stärkerer
Chlorkalk erzielt als mit dem wasserfreien Hydrat, welches, wie weiter unten gezeigt
werden wird, bei günstiger Präparation leicht in einen Chlorkalk von 39 Proc.
wirksamen Chlors umgewandelt werden kann. Nach meinen Versuchen scheint ferner ein
Aetzkalk, welcher sich träge löscht, weniger zur Chlorkalkdarstellung geeignet zu
sein als ein sich rasch löschender Kalk; ein solches Kalkhydrat nahm das Chlor viel
langsamer auf und gab Chlorkalke von nur 31 bis 35 Proc. wirksamen Chlor.
Von vornherein läßt sich nach den von mir gemachten Erfahrungen nicht sagen, ob sich ein
Kalkhydrat zur Darstellung von Chlorkalk eignet; die Art und Weise der Bildung und
der ganze Verlauf des Processes jedoch zeigt bei einiger Uebung, ob man mit einem
geeigneten Hydrat operirt. Selbstverständlich ist hier von der technischen Bereitung
des Chlorkalkes im Großen und den dabei auftretenden Erscheinungen nicht die
Rede.
Bei der Darstellung der von mir benützten Chlorkalke wurde mit Hilfe eines
Gabelrohres, welches den Ueberschuß des Chlors fortleitete, dafür gesorgt, daß das
Chlorgas äußerst langsam zu dem gekühlten Kalkhydrate treten konnte, wodurch jede
Erwärmung und die dadurch bedingte Zersetzung oder Umsetzung des gebildeten
Chlorkalkes vermieden wurde. Operirt man auf diese Weise, so sieht man an der
Eintrittstelle des Chlors Wassertröpfchen, wenngleich in sehr geringer Menge,
auftreten, ein Beweis dafür, daß bei der Umwandlung des vollständig trockenen
Kalkhydrates in Chlorkalk Wasser gebildet wird. In dem Maße, als das Chlor zutritt,
wird es von dem Kalkhydrat absorbirt, anfangs ohne sichtbare Veränderung des
letztern. Nach längerm Durchleiten schwillt das Kalkhydrat an und bekommt statt des
pulverigen ein krümeliges, lockeres Ansehen. Wenn auf diese Weise unter öfterm
Umschütteln der Masse der Proceß mehrere Stunden gedauert hat, dann tritt plötzlich
der Sättigungspunkt ein, daran zu erkennen, daß das Absorptionsrohr sich mit
Chlorgas füllt, welches nun nicht weiter von dem Kalkhydrate aufgenommen wird. Bei
gut und vorsichtig geleiteter Operation ist sämmtlich aufgenommenes Chlor in dem
durch meine Ansicht angedeuteten Sinne als wirksames Chlor in dem Chlorkalke
enthalten, während bei zu raschem Zuführen des Chlors, bei welchem sich die Masse
erhitzt, das wirksame Chlor um viele Procente zurückbleibt. – So zeigte z.B.
ein schnell bereiteter Chlorkalk, der 39,2 Proc. Gesammtchlor enthielt, nur 35 Proc.
wirksames Chlor.
0g,772 Kalkhydrat nahmen
0g,494 Chlor auf unter Bildung von 1g,266 Chlorkalk. Der Chlorgehalt betrug
demnach 39,02 Proc. Der gebildete Chlorkalk gab mit arseniger Säure filtrirt 39,06
Proc. wirksames Chlor; 100 Kalkhydrat gaben demnach 163,99 Chlorkalk.
0g,965 Kalkhydrat gaben
1g,592 Chlorkalk = 39,37 Proc.
aufgenommenes Chlor. Wirksames Chlor wurde gefunden 38,91 Proc.; 100 Kalkhydrat
daher = 164,9 Chlorkalk.
4g,166 Kalkhydrat gaben
6g,844 Chlorkalk = 39,12 Proc.
aufgenommenes Chlor. Gehalt an wirksamem Chlor = 38,85 Proc.; 100 Kalkhydrat daher =
164,28 Chlorkalk.
Aus diesen Versuchen, denen ich noch eine ganze Reihe gleichlautender an die Seite
stellen könnte, geht unzweideutig die Richtigkeit der eben ausgesprochenen Ansicht
hervor. Auf der andern Seite kann diese Thatsache als Beweis dafür dienen, ob man bei der
Darstellung des Chlorkalkes mit der nöthigen Sorgfalt und Vorsicht operirt hat, und
schließlich kann ein solches Präparat als reiner Chlorkalk angesehen werden, welches
gestattet, die Frage nach der Constitution desselben zu erörtern.
Nach den Beobachtungen von Tschigianjanz etc. verliert das
Kalkhydrat bei der Ueberführung in Chlorkalk geringe Mengen Wasser: 0,8 bis 1,2
Proc. vom Kalkhydrat. – Eigene Versuche haben einen Verlust von 0,2 bis 0,08
und 0 Proc. vom Kalkhydrat ergeben. 4,804, 1,014 und 0g,698 Kalkhydrat verloren nämlich 0,004
0,002 und 0g,00 Wasser, d.h. diese Größe
betrug die Gewichtsdifferenz des Chlorcalciumrohres. Hieraus folgt, daß das Wasser
des Kalkhydrates bei der Ueberführung desselben in Chlorkalk nicht entweicht,
sondern in dem letztern dem ganzen ursprünglichen Gewichte nach enthalten sein
muß.
Nach der von mir aufgestellten Formel für die Bildung des Chlorkalkes:
3 CaH₂O₂ + 4 Cl = 2 CaHClO₂ + CaCl₂ +
2 H₂O
müssen 100 Gew. Th. Kalkhydrat 163,96 Gew. Th. Chlorkalk
geben, oder in 100 Gew. Th. Chlorkalk müssen 39,01 Gew. Th. wirksames Chlor
enthalten sein. Die vorhin angegebenen Zahlen stimmen damit vollständig überein.
In einigen seltenen Fällen erhält man bei der Darstellung einen Chlorkalk mit einem
größern Gehalt an wirksamem Chlor, als 39,01 Proc., und zwar habe ich einen solchen
erhalten von 40,59 Proc. wirksamem Chlor. Göpner (1873
209 204), welcher das Chlor durch warmes Wasser von
40 bis 50° und bei einem zweiten Versuche durch solches von 60 bis 70°
leitete, erhielt Chlorkalk von 40,2 und resp. 42,84 Proc. wirksamem Chlor.
Nach meiner Anschauungsweise zersetzt sich der trockne reine Chlorkalk beim
Hinzutreten von Wasser unter Bildung von unterchlorigsaurem Kalk und Kalkhydrat,
welches letztere dann durch ein weiteres Hinzutreten von Chlor wieder Chlorkalk nach
der eingangs angegebenen Formel bildet. Wird demgemäß feuchtes Chlor wie in dem Göpner'schen Falle zur Darstellung des Chlorkalkes
benützt, oder solches über bereits fertigen Chlorkalk geleitet, so muß ein Theil der
Verbindung 2CaHClO₂ in CaCl₂O₂ und CaH₂O₂ zerlegt
werden und gleichzeitig hinterher das Kalkhydrat wieder in CaHClO₂
übergeführt werden.
Da ich bereits hervorgehoben habe, daß bei der normalen Darstellung des Chlorkalkes
in dem Chlorzuleitungsrohre äußerst geringe Mengen Wasser sich in Form kleiner
Tröpfchen abscheiden, die Hauptquantität der frei gewordenen zwei Molecüle Wasser
von dem Kalkhydrate und besonders von dem gebildeten Chlorcalcium zurückgehalten werden, so ist
einleichtend, daß auch unter den gewöhnlichen Verhältnissen im bescheidenen Maße
durch das bei der Chlorkalkbildung aus dem Kalkhydrate frei werdende Wasser die
wirksame Verbindung im Chlorkalke zersetzt werden kann, um dann aus dem
abgeschiedenen Kalkhydrate wieder neu gebildet zu werden. Würde man den Proceß mit
der ganzen Masse des fertigen Chlorkalkes vor sich gehen lassen können, so würde
schließlich nach der Formel:
2 CaH₂O₂ + 4 Cl = CaCl₂O₂ +
CaCl₂ + 2 H₂O
ein Gemenge von gleichen Molecülen unterchlorigsaurem Kalk und
Chlorcalcium resultiren, welches unter Abrechnung des aus dem feuchten Chlor
aufgenommenen Wassers 48,96 Proc. wirksames Chlor enthielte. Bis zu diesem
Procentgehalt ist es theoretisch möglich, eine bleichende Kalkverbindung
darzustellen, über diesen Gehalt an wirksamem Chlor hinaus nicht. Daß in dem Maße,
als eine solche Umsetzung während der Bildung des Chlorkalkes stattfindet, der
Gehalt an wirksamem Chlor steigt, leuchtet hiernach ein. Hätten sich z.B. die
Verbindungen 2CaHClO₂ + CaCl + 2H₂O und CaCl₂ + 2H₂O zu
gleichen Theilen gebildet, so würde der Chlorkalk 43,5 Proc. wirksames Chlor
aufweisen, bei dem Verhältniß 5 : 1 = 40,5 Proc. und bei dem Verhältniß 10 : 1 =
40,0 Proc. wirksames Chlor.
Nimmt man auf der andern Seite an, daß bei der Verwendung von ganz feuchtem Chlor,
wie es z.B. bei Göpner in dem oben angeführten Versuche
geschehen ist, die Bildung des Chlorkalkes schließlich vollständig nach der Formel
2CaH₂O₂ + 4Cl = CaCl₂O₂ + CaC₂ + 2H₂O
verlaufen wäre, und daß die Verbindung 15 Proc. Wasser absorbirt hätte, so würde
dieselbe 42,6 Proc. wirksames Chlor aufweisen, bei 10 Proc. Wassergehalt = 44,5
Proc. wirksames Chlor. Ich ziehe hieraus den Schluß, daß sowohl mit Hilfe des aus
dem trockenen Kalkhydrate frei werdenden Wassers und zwar dann, wenn die Zuführung
des Chlors rasch erfolgt, besonders aber durch das Wasser des feuchten Chlors die
angegebenen Umsetzungen des Chlorkalkes stattfinden können, wodurch dann die Menge
des wirksamen Chlors im Chlorkalke steigt. Gestützt hierauf bin ich ferner der
Ansicht, daß in dem fabrikmäßig dargestellten Chlorkalke, der aus einem Kalkhydrate
bereitet wird, welches beiläufig 8 Proc. überschüssiges Wasser enthält, außer der
Verbindung CaClHO₂ auch noch fertiger unterchlorigsaurer Kalk in wechselnden
Mengen vorkommt.
Es findet also hier in gewissem Grade unter Beihilfe des Wasserdampfes bei dem festen
Kalkhydrate ganz dasselbe wie bei dem Kalkhydrate statt, wenn dasselbe in Wasser
suspendirt mit reinem Chlorwasser zusammen kommt. In diesem Falle bildet sich auf ein
Molecül unterchlorigsauren Kalk ein Molecül Chlorcalcium und zwar ganz in derselben
Weise, wie dieses nach Gay-Lussac bei der
Einwirkung des Chlors auf ein Alkali stattfindet. Zu meiner eigenen Instruction habe
ich diese Versuche wiederholt und zu reinem, in Wasser suspendirtem Kalkhydrat so
lange frisch bereitetes Chlorwasser gesetzt, bis eben die alkalische Reaction
verschwand und sämmtliches Kalkhydrat gelöst war. In gleichen Volumen der so
erhaltenen Flüssigkeit wurde einerseits das wirksame Chlor, anderseits der Kalk
bestimmt.
100 Vol. derselben gaben 0g,274 wirksames Chlor und 0g,216
Calciumoxyd.
Nach der Formel 2CaH₂O₂ + 4Cl = CaCl₂O₂ + CaCl₂ +
2H₂O verlangen 0g,274 Chlor = 0g,2161 Aetzkalk, was also mit den
gefundenen Zahlen ganz genau übereinstimmt.
Dieser Versuch bestätigt also wiederum die altgewohnte Gay-Lussac'sche Ansicht, daß in einer so bereiteten wässerigen
Lösung von Chlorkalk unterchlorigsaurer Kalk enthalten sei, und ließ mich umsomehr
von fernern Experimenten zur weitern Beweisführung von dem Vorhandensein dieser
Verbindung absehen, als Schorlemmer
Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft, 1873 S. 1509. und ebenso Kopfer
Liebig's Annalen der Chemie, Bd. 177 S. 314. das Vorhandensein dieser Verbindung auf das unzweideutigste nachgewiesen
haben. Letzterer hat durch seine Versuche gezeigt, daß sowohl aus einer wässerigen
Chlorkalklösung als auch aus dem trocknen Chlorkalk durch eine verdünnte
Mineralsäure unterchlorige Säure in Freiheit gesetzt wird, die durch Destillation in
nahezu chemisch reiner Form gewonnen werden kann, und deren Menge im günstigsten
Falle 92 Proc. von der in dem Chlorkalke enthaltenen unterchlorigen Säure beträgt.
Gleich interessant und bedeutungsvoll für die Existenz der unterchlorigen Säure in
einer wässerigen Lösung des Chlorkalkes ist die von Kopfer mitgetheilte Beobachtung von Kingzett,
nach welcher eine kalt gesättigte Chlorkalklösung durch Abkühlen unter 0°
oder beim Verdunsten über concentrirter Schwefelsäure im Vacuum farblose
nadelförmige Krystalle von unterchlorigsaurem Kalk abscheidet.
Nach J. Kolb (1668 187 55) wird
der feuchte Chlorkalk auch durch Kohlensäure zersetzt unter Entwicklung von
unterchloriger Säure. Diese Beobachtung, die von andern Seiten angegriffen und als
nicht zutreffend bezeichnet wird, hat durch die Praxis ihre volle Bestätigung
gefunden, indem bei der Darstellung des Chlorkalkes nach dem Deacon'schen Verfahren
häufig diese Zersetzung im großartigsten Maßstabe unter Entwicklung von massenhaften
Mengen von unterchloriger Säure stattgefunden hat.
In diesem Falle geht der Chlorgehalt des in den Absorptionskammern befindlichen
Chlorkalkes rapid zurück, während in gleichem Maße der Gehalt an kohlensaurem Kalk
zunimmt. Ich habe derartige Chlorkalke in Händen gehabt, die von 25 Proc. wirksamem
Chlor auf 7 Proc. zurückgegangen waren, und deren Gehalt an kohlensaurem Kalk über
40 Proc. betrug. Das bei dieser Zersetzung aus den Chlorkalkkammern entweichende Gas
ist unterchlorige Säure; es wird selbst von den Arbeitern als ein durch seinen
Geruch und seine Wirkungen auf die Lungen und Augen sich von dem reinen Chlor
unterscheidendes Gas erkannt, welches beim Einathmen nicht momentan wirkt, wie das
Chlor, sondern langsam und allmälig und im Munde einen süßlichen Geschmack
erzeugt.
(Schluß folgt.)