Titel: | Das moderne unterschwefligsaure Natron; von Rud. v. Wagner. |
Autor: | Rudolph Wagner |
Fundstelle: | Band 225, Jahrgang 1877, S. 382 |
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Das moderne unterschwefligsaure Natron; von
Rud. v. Wagner.
v. Wagner, über das moderne unterschwefligsaure Natron.
Die Verwirrung, die sich seit einiger Zeit in den technischen periodischen Schriften
in der Bezeichnung der Natriumverbindungen zweier Schwefelsauerstoffsäuren
einzuschleichen beginnt, veranlaßt mich zu nachstehender Notiz.
Unter unterschwefligsaurem Natron verstand man bis auf die
neueste Zeit das Natriumsalz der Säure H₂ S₂ O₃; man nannte
diese Verbindung auch Natriumdithionit, Natriumhyposulfit, und die Verfasser der im
J. 1872 publicirten Pharmacopoea germanica (pag. 238) bezeichnen dieselbe mit dem Namen Natrum subsulfurosum. Wegen ihrer Anwendung in den
Bleichereien und Papiermühlen zur Beseitigung des überschüssig angewendeten Chlores
führt das (alte) unterschwefligsaure Natron den Namen Antichlor, obgleich seit der Wiener Weltausstellung von 1873 mehrere
deutsche Fabriken ihr Natriumbisulfit unter dieser
Benennung in die Welt senden.
Durch die Entdeckung der Säure H₂SO₂ oder SO, H₂O durch P. Schützenberger
Comptes rendus, 1869 t. 69 p. 169. ist nun der Name unterschweflige Säure für die Verbindung H₂
S₂ O₃ unmöglich geworden. Dazu kommt noch der bedeutungsvolle Umstand,
daß die Säure H₂S₂O₃ nicht mehr als S₂O₂;
H₂O, d.h. als eine in der Reihe vor der schwefligen Säure kommende niedrigere
Oxydationsstufe des Schwefels aufzufassen ist, sondern als Schwefelsäure, in welcher
1 Atom Sauerstoff durch 1 At. Schwefel ersetzt ist; ihre Formel ist mithin
SO₂
OH,SH,
womit alle Zersetzungen der Säure und ihrer Salze im Einklang
stehen. Sie kann daher unmöglich noch den Namen unterschweflige Säure führen,
sondern muß, wie es hie und da schon geschieht, Thioschwefelsäure genannt werden. Das (alte) unterschwefligsaure Natron
hat daher in der Zukunft die Benennung Natriumthiosulfat
oder thioschwefelsaures
Natron zu erhalten. Ich möchte vorschlagen, in der
Fabrikindustrie und im Chemikalienhandel (in ähnlicher Weise wie man das
Natriumsulfat schlechtweg Sulfat nennt) das Natronsalz
Thiosulfat zu nennen und den Namen Antichlor, um
jeder Verwechslung bei der Bestellung und der Anwendung vorzubeugen, für das
Natriumsulfit zu reserviren. Der Name Natriumhyposulfit für das (alte)
unterschwefligsaure Natron ist selbstverständlich hinfällig, dagegen die Bezeichnung
Dithionit zulässig oder wenigstens nicht unrichtig.
Die Säure des modernen unterschwefligsauren Natrons reiht
sich den übrigen technisch wichtigern Säuren des Schwefels an und füllt eine bisher
bestehende Lücke aus, wie sich aus folgender Zusammenstellung ergibt:
SO
Schwefelmonoxyd
oder
SO, H₂O = H₂SO₂
SO₂
Schwefeldioxyd
„
SO₂, H₂O = H₂SO₃
SO₃
Schwefeltrioxyd
„
SO₃, H₂O = H₂SO₄.
Das erste Glied dieser Reihe ist die unterschweflige Säure Schützenberger's, welche der Entdecker hydroschweflige Säure (acide hydrosulfureux)
nannte und damit den Anstoß zu Irrungen und Verwechslungen gab.Wagner's Jahresbericht, 1873 S. 825. 1874 S. 891. K. Kraut
Gmelin-Kraut: Anorganische Chemie, 1872
Bd. 1 Abtheilung 2 S. 173. gab dieser Säure den Namen „wasserschweflige Säure“ .
Ohne allen Zweifel ist aber die neue Säure unterschweflige Säure. Dies erkennt auch
Berthelot
Annales de chimie et de physique, Mars 1877 t. 10 p. 390. in einer vor wenigen Monaten publicirten Arbeit über die thermischen
Eigenschaften der neuen Säure an, indem er sagt: „dans une nomenclature rigoureuse il conviendrait de réserver
à cet acide le nom d'acide hyposulfureux“ . Wie aus
dem kürzlich erschienenen Lehrbuch der Chemie von H. E. Roscoe und C. Schorlemmer
H. E. Roscoe und C. Schorlemmer: Ausführliches Lehrbuch der Chemie (Braunschweig
1877), Bd. 1 S. 261. (Professoren an Owen College in Manchester) zu ersehen, hat sich der Name
unterschweflige Säure für die von Schützenberger
entdeckte Säure bereits eingebürgert.
Es ist auffallend, daß die unterschweflige Säure so lange Zeit übersehen wurde,
obgleich viele Reactionen aus älterer und neuerer Zeit darauf hindeuten, daß die
Experimentatoren die neue Säure unter den Händen hatten und zwar dort, wo schweflige
Säure mit energisch wirkenden Reductionsmitteln zusammenkam. So machte bereits im J.
1789 Berthollet die Beobachtung, daß metallisches Eisen
in einer wässerigen Lösung von schwefliger Säure, ohne daß Gas sich entwickelt,
löse; 9 Jahre später nahmen Fourcroy und Vauquelin wahr, daß auch Zink und Zinn ohne
Gasausscheidung in schwefliger Säure sich lösen. Als
Schönbein 1850 eine wässerige Lösung von schwefliger
Säure mit phosphoriger Säure zusammenbrachte, erhielt er eine Flüssigkeit, die
Indigblau reducirte, wahrscheinlich weil die phosphorige Säure die schweflige Säure
zu Schwefelmonoxyd reducirt hatte; beim Erwärmen der phosphorigen Säure mit
schwefliger Säure entsteht keine unterschweflige Säure, sondern neben Phosphorsäure
Schwefelwasserstoff.
Wie bereits hervorgehoben, war P. Schützenberger 1873 der
Erste, welcher die (neue) unterschweflige Säure entdeckte und ihre kräftigen
reducirenden Eigenschaften für technische Zwecke zu verwerthen suchte. Sie wird
dargestellt, indem man granulirtes Zink (oder Zinkstaub) in einem verschlossenen
Gefäße mit einer kaltgesättigten Lösung von schwefliger Säure in Wasser digerirt.
Das Zink löst sich auf, ohne daß eine Gasentwicklung stattfindet, und in der Lösung
ist unterschwefliges Zink (Zinkhyposulfit) enthalten:
Textabbildung Bd. 225, S. 384
α); H₂SO₃ + Zn
= Zn SO₃ + H₂; β); ZnSO₃ + H = Zn SO₂ +
H₂ O; Zinksulfit; Zinkhyposulfit.
Zur Herstellung des Natriumsalzes (von der Formel NaHSO₂ das zweite Atom
Wasserstoff ist nicht durch Metall ersetzbar) digerirt man Zink mit kaltgehaltener
concentrirter saurer Natriumsulfitlösung und läßt die Lösung eine Nacht hindurch in
einem Eisschrank stehen, wobei sich ein Doppelsalz (ZnSO₃ +
Na₂SO₃) krystallinisch ausscheidet; die über den Krystallen
befindliche Flüssigkeit liefert bei weiterm Abkühlen und längerm Stehen einen aus
farblosen Nadeln bestehenden Krystallbrei, die nach dem Auspressen im Vacuum
getrocknet werden müssen. Aluminium gibt durch Digestion mit wässeriger schwefliger
Säure gleichfalls Hyposulfite. Das Verhalten der unterschwefligen Säure zu Magnesium
ist ein ganz eigenthümliches, insofern dieses Metall sich unter reichlicher
Gasentwicklung (Wasserstoff, aber kein Schwefelwasserstoff) löst; der hierbei
stattfindende Proceß, über welchen ich weitere Mittheilungen mir vorbehalte, scheint
ein complicirter zu sein.
Die wässerigen Lösungen der unterschwefligen Säure und ihrer Salze absorbiren aus der
Luft begierig Sauerstoff und gehen dadurch in saure Sulfite über (NaHSO₂ + O
= NaHSO₃). Durch längeres Aufbewahren geht eine Hyposulfitlösung zum Theil in
Thiosulfat über (2 NaHSO₂ = Na₂S₂O₃ + H₂O). Eine
wässerige Lösung der unterschwefligen Säure zersetzt sich ebenfalls nach einigen
Tagen schon unter Schwefelmilchbildung; jedenfalls entsteht zunächst
Thioschwefelsäure, die aber sofort in schweflige Säure und Schwefelmilch
zerfällt:
α)
2 H₂SO₂
= H₂S₂O₃ + H₂O
β)
H₂S₂O₃
= H₂SO₃ + S.
Von dem wichtigen Reductionsvermögen machten De Lalande
und P. Schützenberger zuerst Gebrauch zur Herstellung der
Hyposulfitküpe
Wagner's Jahresbericht, 1873 S. 825 und Dingler's polytech. Journal, 1873 209 446., indem sie eine Lösung von unterschwefligsaurem Natron mit einem Gemenge von
fein gemahlenem Indig und Natron zusammenbrachten:
Textabbildung Bd. 225, S. 385
C₁₆H₁₀N₂O₂ + NaHSO₂ + 2 Na
(OH) =; Indigblau; Natriumhyposulfit;
C₁₆H₁₂N₂O₂, Na₂O +
NaHSO₃; Indigweiß-Natron (Hyposulfitküpe); Natriumbisulfit.
Die Hyposulfitküpe findet an Stelle der Vitriolküpe sowohl in
der Färberei als auch beim Drucken mit Indig Anwendung.
Die unterschweflige Säure fällt aus Lösungen von Silber- und Quecksilbersalzen
Metall, z.B. bei Silbernitrat:
2 (AgNO₃) + H₂SO₂ + H₂O = Ag₂
+ H₂SO₃ + 2 HNO₃.
Chlorsilber (frisch gefällt) wird durch längere Digestion mit Natriumhyposulfit
ebenfalls zu Silber reducirt – eine Reaction, durch welche das Hyposulfit von
Thiosulfat sich unterscheidet. Die Angabe, daß auch aus Kupfersalzlösungen das
Kupfer durch Hyposulfit regulinisch ausgeschieden werde, kann ich nicht bestätigen;
der nach einiger Zeit sich bildende schwarze Niederschlag bestand aus
Schwefelkupfer.
Kaliumpermanganatlösung wird durch Hyposulfit sofort entfärbt.
Es ist vorauszusehen, daß die unterschweflige Säure und deren Alkalisalze noch manche
werthvolle Anwendung auf dem Gebiete der chemischen Technologie und der
chemisch-technischen Analyse finden werden.