Titel: | Die Verarbeitung der Rübenmelasse nach C. Vincent's Verfahren. Pariser Ausstellungsnotiz von Rudolf v. Wagner. |
Autor: | Rud. v. Wagner |
Fundstelle: | Band 230, Jahrgang 1878, S. 263 |
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Die Verarbeitung der Rübenmelasse nach C.
Vincent's Verfahren. Pariser Ausstellungsnotiz von Rudolf v. Wagner.
v. Wagner, über die Verarbeitung der Rübenmelasse.
Unter den chemischen Producten, welche die diesjährige Industrieausstellung in Paris
zur Anschauung brachte, nahmen sicher die von C.
Vincent in Paris (28, boulevard Saint Germain) in der französischen
Abtheilung ausgestellten Producte von der Verarbeitung der Rübenmelasse, insofern
sie dem Beschauer eine durchaus neue Industrie vor
Augen führten, einen hervorragenden Rang ein.
Da die technische Literatur Deutschlands über Vincent's
Verfahren bisher nur wenige und noch dazu unvollständige Mittheilungen brachte, so
bedarf es keiner Motivirung, wenn ich dasselbe nach meinen in Paris gesammelten
Notizen mit Berücksichtigung der seit Beginn der Ausstellung erschienenen
französischen Berichte eingehend beschreibe.
Die Rübenmelasse, der letzte Syrup der Rübenzucker-Fabrikation, enthält im groſsen
Durchschnitte in 100 Theilen:
Saccharose
50
Th.
Nichtzucker
30
„
Wasser
20
„
Von diesen 30 Th. Nichtzucker werden 10 Theile durch
anorganische Substanzen mit vorherrschendem Kali (darunter stets Salpeter) gebildet,
während die übrigen 20 Theile aus organischen Körpern, Säuren verschiedener Art,
z.B. Arabinsäure, welche mit Kali und anderen anorganischen Basen, sowie mit Betaïn
zu Salzen verbunden sind, aus stickstoffhaltigen Körpern, Derivaten und
Zersetzungsproducten des Albumins, des Protoplasmas, der Rübenzelle, des Betaïns und
zahlreichen anderen zum Theil noch nicht isolirten Substanzen bestehen. Die bisher
angestellten Untersuchungen zeigen, daſs unter den 30 Th. Nichtzucker 5,5 Proc. Kali
und 1,8 bis 2,0 Proc. Stickstoff vorhanden sind.
Die Menge der jährlich producirten Melasse ist eine sehr bedeutende. Nach
Berechnungen von F. Stohmann (1878) beläuft sich
dieselbe auf 100 Millionen Kilogramm (= 2 Mill. Ctr.); nach den Schätzungen von H. Schwarz in Graz beträgt die Production an Melasse in
Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Ruſsland, Belgien und Frankreich zusammen 250 Mill.
Kilogramm (= 5 Mill. Ctr.). Das innerhalb der letzten 6 Jahre im Deutschen Reiche
erzeugte Melassenquantum enthielt an:
Saccharose
50
Mill.
Kilogramm
Kali
5,5
„
„
Stickstoff
1,8 bis
2,0
„
„
Wie bekannt, gab es bis auf die neueste Zeit kein rationelles Verfahren, die
Saccharose aus der Melasse krystallinisch abzuscheiden, und man war genöthigt, die
Melassen auf Spiritus zu verarbeiten. Zu dem Ende verdünnt man die Rübenmelasse,
welche im Durchschnitt eine Dichte von 40 bis 42° B. hat (entsprechend 72 bis 76
Sacharometergraden), mit Wasser bis auf etwa 12° B. (auf 50k Melasse nimmt man 150 bis 175l Wasser). Das Mischen der dickflüssigen Melasse
mit dem Wasser wird gegenwärtig durch die Anwendung eines Körting'schen Dampfstrahlgebläses bewirkt. Zuweilen verdünnt man die
Melasse nicht mit Wasser, sondern mit Schlempe. Da in Folge der Anwendung von
Aetzkalk bei der Scheidung des Rübensaftes die Rübenmelasse eine mehr oder minder
ausgesprochene alkalische Reaction besitzt, die jedoch nicht vom Kalk, sondern von
kohlensauren Alkalien herrührt, welche durch die Einwirkung des Kalkes auf die
Alkalisalze des Rübensaftes sich bildeten, so wird die Alkalinität der Melasse durch
Zusatz einer Säure (Schwefelsäure oder Salzsäure) aufgehoben. Es liegt auf der Hand,
daſs die Anwendung einer Mineralsäure den Werth der Alkalisalze in der Asche die
Melasserückstände beeinträchtigt, da die zugesetzte Schwefelsäure zum Theil als
Sulfat in der Asche erscheint, wodurch die Ausbeute als Kaliumcarbonat verringert
wird. Bei Anwendung von Salzsäure treten diese Uebelstände noch greller hervor, da
die Salzsäure fast vollständig in dem Aschenrückstand als Chlorkalium sich
wiederfindet, während, wenn man mit Schwefelsäure die Alkalinität der Melasse
aufhebt, ein Theil dieser Säure vor dem Einäschern als Gyps abgeschieden, ein anderer
Theil davon nach Analogie des Leblanc-Processes als unlösliches Schwefelcalcium in
den Auslaugerückständen bleibt. Es ist sogar mehr als wahrscheinlich, daſs man beim
Einäschern der Rückstände (nach dem älteren, nicht nach Vincent's Verfahren) durch einen mäſsigen Kalkzusatz die Nachtheile des
Schwefelsäurezusatzes wird compensiren können. Wenn es der Preis gestattete, so
würde unter allen Umständen einer organischen Säure, möglicherweise der Oxalsäure
oder auch roher Milchsäure der Vorzug vor einer Mineralsäure zu geben sein. Ob die
von Camichel und Henriot
(1877 224 438) gemachten Vorschläge, anstatt einer Säure Kastanienextra et zum
Neutralisiren der Melassen anzuwenden, erfolgreich sein werden, muſs dahin gestellt
bleiben. Bei mit Salin aus der Umgegend von Lille angestellten Versuchen fand sich
in der Asche bei Anwendung von Schwefelsäure (a) und von Kastanienextract (b) in 100
Theilen:
a
b
Kaliumcarbonat
36,93
47,03
Kaliumsulfat
16,02
6,37.
Das Ergebniſs dieser Versuche scheint allerdings für das Kastanienextract zu
sprechen, doch sind hierbei selbstverständlich nur fortgesetzte Versuche in der
Fabrik und die Preisverhältnisse des Kastanienextractes entscheidend. Ein gröſserer
Ueberschuſs an Säure ist nach der Meinung der Melassespiritus-Fabrikanten zu
vermeiden. Die der Alkalinität beraubte verdünnte Melasse wird angewärmt, oder auch
bis zum Sieden erhitzt. Letztere Arbeit, welche nach der landläufigen Ansicht die
Ueberführung der nicht gährungsfähigen Saccharose der Melasse in intervertirten
Zucker (ein Gemenge gleicher Molecüle von Dextrose und Levulose) bewirken soll,
scheint angesichts der Arbeiten von M. Märker u.a.,
nach welchen die Hefe selbst ein intervertirendes Element enthält, überflüssig. Die
Gährung wird möglichst schnell eingeleitet und dabei am zweckmäſsigsten Darrmalz-
oder Schrothefe verwendet, damit die zugegebene Hefe sich fortpflanzen und vermehren
kann. Die Vergährung der Maische, mit 12° B. angestellt, verläuft höchstens bis auf
4° B., wenn man die Spindelprobe in der entgeisteten Maische vornimmt. 100k Melasse geben im Durchschnitte 2600 bis 3000
Literprocent Alkoholausbeute.
Die nach dem Abdestilliren des Alkohols (Melassenspiritus) zurückbleibende Schlempe
wird (nach dem älteren Verfahren) in Pfannen abgedampft und die bis zur
Breiconsistenz abgedampfte Masse in einem Flammofen erhitzt, bis alles Wasser
ausgetrieben und die organischen Substanzen verkohlt sind. Durch die Einwirkung der
Alkalien auf die stickstoffhaltigen Bestandtheile bildet sich, wie H. Schwarz (1857) gezeigt, stets etwas Cyankalium,
welches später beim Auslaugen der Salzmasse in eisernen Auslaugebottichen zur
Entstehung von etwas Ferrocyankalium Veranlassung gibt. Die durch Verkohlung
erhaltene schwarze Salzmasse heiſst „Schlempekohle,“ die weiſs calcinirte Masse
„Salin.“ Durch Auslaugen dieser Aschen gewinnt
man durch die bekannten und wiederholt beschriebenen MethodenDie besten und zuverlässigsten Schilderungen der Verarbeitung der
Rübenmelasse sind von Fr. Kuhlmann (vgl. A. W. Hofmann: Reports by the Juries. London
1863, S. 55) und von E. Pfeiffer (vgl. Wagner's Jahresbericht, 1872 S.
282). die darin enthaltenen Salze, namentlich das kohlensaure
Kali.
Die Fabrikation von Potasche und Rübenmelasse wird besonders schwunghaft betrieben im
Norddepartement von Frankreich, ferner in Pasde-Calais, Somme und AisneIm Ganzen sollen in Frankreich 18 Fabriken sich mit der Verarbeitung von
Salin (Melassenasche) abgeben. (W.)
[auf dem Marsfelde hatten auſser Vincent ausgestellt
Lefebvre in Corbehem (Pas-de-Calais), Dècle und Comp. in Rocourt, Nugues in Valenciennes, Savary und Comp. in
Nesle (Somme) und Porion in Wardrecques
(Pas-de-Calais)], in Belgien, in Oesterreich (insbesondere in der Umgegend von
Brunn) und in Deutschland (in den Provinzen Sachsen, Schlesien, Pommern,
Brandenburg, in den Rheinprovinzen und in Waghäusel in Baden). Die Gesammtproduction
an Rübenpotasche belief sich i. J. 1875 nach H.
Grüneberg auf etwa 12000000k (= 240000
Ctr.); davon kommen:
auf
Frankreich
64
Proc.Nach einer anderen ziemlich zuverlässigen Angabe verarbeitet man
gegenwärtig im Norden und Nordwesten Frankreichs jährlich 25000t Melassenasche, was beinahe
10000t (= 200000 Ctr.)
raffinirter Potasche entspräche. (W.)
„
das Deutsche Reich
24
„
„
Belgien
4
„
„
Oesterreich-Ungarn
8
„
–––––––––––
100
Proc.
Die Herstellung der Potasche aus der Melasse, die vor 20 Jahren noch als groſser
Fortschritt auf dem Gebiete der chemischen Groſsindustrie angesehen werden durfte,
ist im Lichte der Gegenwart betrachtet, technologisch nicht rationell, da mit der
Möglichkeit ihrer Gewinnung die Entwerthung der Saccharose zu Spiritus verknüpft
ist, eine Substanz, die man weit vortheilhafter und billiger aus der Kartoffelstärke
darstellt. Dazu kommt noch der wichtige Umstand, daſs mit dem Aufblühen der
Mineralpotasche-Fabrikation aus den Carnalliten und Kainiten von
Leopoldshall-Staſsfurt, die Gewinnung von Kalisalzen aus der Rübenmelasse für
technische Zwecke ganz überflüssig ist.
Welche Summen der deutschen Zuckerindustrie durch den Verlust von Saccharose
entgehen, ergibt sich aus einer jüngst von F. Stohmann
in seinem vortrefflichen Handbuch der Zuckerfabrikation
(Berlin 1878, S. 399) gegebenen Berechnung. Der Preis für 100k Melasse beträgt im Durchschnitte 8 M., so daſs
für den Ertrag an Melasse jährlich 8 Mill. Mark gelöst werden. Da nun das innerhalb
der letzten 6 Jahre erzeugte Melassequantum 50 Mill. Ctr. Zucker, ferner 1,9 bis 2,0
Mill. Ctr. Stickstoff und 5,5 Mill. Ctr. Kali enthält, so ergibt sich für den Werth
der Hauptbestandtheile der Melasse, wenn man für den Zucker den Preis von 60 M. für 100k, den Stickstoff mit 2 M. für 1k das Kali mit 0,40 M. für 1k veranschlagt, 30 Mill. Mark für den Zucker, 3,8
Mill. Mark für den Stickstoff und 2,2 Mill. Mark für das Kali, im Ganzen mithin 36
Mill. Mark. Zieht man nun davon den Erlös von 8 Mill. Mark für die Melasse ab, so
bleibt die Summe von 28 Mill. Mark zurück, um welche die Rübenzuckerfabrikation des
Deutschen Reiches in Folge der nicht rationellen Verwerthung der Melasse geschädigt
wird.
Betrachtungen solcher und ähnlicher Art gaben seit der Zeit, als man weiſs, daſs der
Zucker in der Melasse Saccharose ist, Veranlassung zu Vorschlägen, diesen Zucker zu
gewinnen. Von den in dieser Hinsicht vorgeschlagenen Methoden haben sich bekanntlich
nur zwei über dem Wasser zu erhalten vermocht, nämlich 1) die Osmose von Dubrunfaut und
2) die Elution von Scheibler,
Seyfferth und Bodenbender.
Die Osmose ist ein auf Diffussion beruhender Proceſs, der für die Gewinnung der
Saccharose aus der Melasse deshalb von Bedeutung geworden ist, weil die Melasse eine
Anzahl von Bestandtheilen enthält, welche ein sehr verschiedenes Diffusionsvermögen
besitzen. Die Salze der Melasse diffundiren äuſserst rasch, die Saccharose weit
langsamer, die übrigen Stoffe in der Melasse entweder nicht oder überaus schwierig.
Wäre die Differenz in der Diffusionsgeschwindigkeit der Salze und der Saccharose
eine sehr bedeutende, so lieſsen sich auf dem Wege der Diffusion die
Hauptbestandtheile der Melasse mit Leichtigkeit in drei Gruppen trennen, in die
Salze, welche zuerst durch die Zellenwand gingen, in die Saccharose, die, von den
die Krystallisation hemmenden Stoffen befreit, in einer Lösung sich vorfände, aus
welcher ohne Schwierigkeit der Zucker krystallinisch abgeschieden werden könnte, und
endlich in den Rest, aus den nicht oder nur schwerfällig diffundirenden
Melassebestandtheilen zusammengesetzt. Die Differenz in der Schnelligkeit der
Diffusionsbewegung ist jedoch nicht bedeutend genug, um eine für den praktischen
Betrieb brauchbare Methode der Trennung der Melassensalze von der Saccharose, oder
mit anderen Worten eine Entsalzung der Melasse darauf
basiren zu können. In der Praxis nimmt man wahr, daſs bei Beginn der Osmose groſse
Mengen von Melassensalzen und geringe Mengen von Zucker durch die Membran
(Pergamentpapier) gehen, während später das Umgekehrte der Fall ist. Der osmotische
Proceſs wird daher unterbrochen, wenn ein Theil der Salze entfernt ist, so daſs ein
Theil der Saccharose beim Verdampfen krystallinisch sich ausscheidet; die von den
Zuckerkrystallen in der Centrifuge getrennte Melasse hat annähernd die nämliche
Zusammensetzung wie die gewöhnliche Melasse. Diese zweite Melasse wird abermals
durch Osmose entsalzt u.s.f., bis endlich durch Vorhandensein der dialytisch nicht
zu trennenden Substanzen eine mit Colloïden dergestalt verunreinigte Melasse
resultirt, daſs von einer weiteren Verarbeitung derselben abgesehen werden muſs. Da
das osmotische Verfahren
keine sehr bedeutenden Anlagekosten erheischt, so ist der Gewinn, welcher durch die
Verwerthung der Melasse in dieser Form sich ergibt, ein nicht unbeträchtlicher.
Allerdings gehen durch die Osmose die in der Melasse enthaltenen werthvollen
stickstoffhaltigen Bestandtheile verloren, ebenso auch die Kalisalze; auch kann
unter Umständen die Beseitigung der Abfallwässer in hygienischer Hinsicht Bedenken
erregen.
Das zweite Verfahren, welches die Saccharose aus der Melasse zu extrahiren bezweckt,
ist die von C. Scheibler bereits im J. 1865 entdeckte
Elution (von cluere, auswaschen). Dieser so wichtig
gewordene Proceſs beruht im Wesentlichen auf der Bildung eines dreibasischen
Calciumsaccharates und der Auslaugung mit Alkohol von etwa 30 Proc. in welchem der
gröſste Theil des Nichtzuckers sich löst, so daſs ein ziemlich reines Saccharat
zurückbleibt. Das Verfahren, in allen seinen Theilen von dem Urheber auf das
gründlichste durchgearbeitet, scheiterte anfangs an der technischen Schwierigkeit,
trockenen Melassenkalk zu erzeugen; denn es hatte
sich bald herausgestellt, daſs derselbe nur im vollständig getrockneten Zustande in
Alkohol von der angegebenen Stärke unlöslich genug sei, um zu keinen erheblichen
Saccharoseverlusten Anlaſs zu geben. Die Schwierigkeiten, die sich der erfolgreichen
Einführung der Elution entgegenstellten, sind nun, wie bekannt, durch die Bemühungen
von A. Seyfferth in Braunschweig vollständig gehoben.
Er bringt die Melasse nicht, wie es C. Scheibler that,
mit gelöschtem Kalk, sondern mit fein gepulvertem frisch gebranntem Kalk zusammen
und wählt eine möglichst concentrirte Melasse von 43° B. (auf 1 Molecul Saccharose
in der Melasse fügt er 3 bis 4 Mol. Aetzkalk zu). Durch das Löschen des Kalkes auf
Kosten eines Theiles des Wassers der Melasse und durch die dabei stattfindende
Wärmeentwicklung wird nicht nur das Präparat vollständig getrocknet, sondern auch in
Folge der in der Masse sich bildenden Wasserdämpfe so porös gemacht, daſs der
Alkohol die Masse mit Leichtigkeit durchdringen und vollständig eluiren kann. In
dieser Weise aus- und durchgebildet kam die Elution in der Champagne 1875/76 unter
der Direction von H. Bodenbender in der Zuckerfabrik
von E. Henneberg und Comp. in Wassersleben bei
Wernigerode (Prov. Sachsen) in Anwendung und verbreitete sich von da aus in immer
weitere Kreise. Die Elution liefert etwa 80 Procent von der in der Melasse
enthaltenen Saccharose in Gestalt von Saccharat, welches mit bestem Erfolge zur
Scheidung von Zuckersäften verwendet wird.
Die Frage, ob die Osmose oder die Elution den Vorzug verdiene, ist nicht absolut zu
beantworten, da locale Factoren oft in erster Linie maſsgebend sind, wenn es sich um
die Wahl eines neu einzuführenden Verfahrens handelt. Im groſsen Ganzen wird man
jedoch behaupten können, daſs seit dem Bekanntwerden der Erfolge der letzten Jahre bezüglich der
Melassenverarbeitung das Zünglein der Wage zu Gunsten der Elution ausschlägt. Sind
auch die Anlagekosten bei der Einrichtung der Elution sehr bedeutend, so hat
letzteres Verfahren gegenüber der Osmose den groſsen Vortheil, daſs nach der
Wiedergewinnung des Alkoholes aus der Auslaugeflüssigkeit die in der ursprünglichen
Melasse enthaltenen Kalisalze und stickstoffhaltigen Bestandtheile in so
concentrirter Form erhalten werden, daſs man sie ohne weiteres dem Rübenboden
zuführen und somit dem Acker im wesentlichen das wiedergeben kann, was durch den
Rübenbau dem Boden entzogen wurde. Nach den Angaben von R.
v. Kaufmann (Die Zucker Industrie, Berlin
1878, S. 207) bezog das Deutsche Reich zur Düngung seiner Rübenfelder 249000 Ctr.
schwefelsaures Ammoniak im Werthe von 4,7 Mill. Mark. Der durch die Elution
gewonnene Stickstoff der Melasse genügt, um diese ganze Menge von Ammoniaksalz
überflüssig zu machen. Um das Kali der Melasse zu ersetzen, sind 300000 Ctr.
Kalisalze aus den Leopoldshall-Staſsfurter Fabriken erforderlich. Der im J. 1862 von
J. v. Liebig ausgesprochene Satz: „Daſs es
vernünftiger sei, die Kalisalze der Melasse den Rübenfeldern zurückzuerstatten,
als sie in Form von Potasche in den Handel zu bringen“, ist vielfach und mit
völligem Rechte angefochten worden. Als die Staſsfurter Kalischätze zu Tage traten
und kein finanzwirthschaftliches Heilmittel gegen die Vergeudung der Saccharose in
der Melasse vorhanden war, verkaufte der Zuckerfabrikant im wohlerwogenen Interesse
der Fabrik die Potasche aus den Kalisalzen der Rübe und ersetzte dem Boden in Form
von wohlfeilen Kalidüngerpräparaten das durch den Rübenbau entzogene Kali. Bei
seiner Wanderung durch den Organismus der Rübe erfuhr das Kalipräparat im
technologischen Sinne eine Veredlung, d.h. es fand eine namhafte Wertherhöhung
statt. Seitdem es nun durch die Elution gelungen ist, die Saccharose aus der Masse
in Form von verkäuflichem Zucker auszuscheiden und die Mineralpotasche-Fabriken
Potasche in jeder gewünschten Menge zu liefern im Stande sind, gilt der Spruch v. Liebig's in seiner ganzen Schärfe und zwar durchaus
zu Gunsten der Elution. Der einzige Nachtheil der Einführung der Elution sei – so
sagt man – daſs die Melasse aufhöre, ein Rohstoff für die Spiritusindustrie zu sein.
Nun aus vorstehenden Erörterungen folgt zur Genüge, daſs bei den im Deutschen Reiche
(d.h. in Norddeutschland) obwaltenden Verhältnissen der Spiritusfabrikation und
Besteuerung ein groſser Fortschritt vorliegt, wenn man die Saccharose besser
verwerthen kann, als dieselbe auf Spiritus zu verarbeiten. Durch die Elution wird
ohne Zweifel für den Kartoffelbau eine bessere Conjunctur herbeigeführt, und nicht
zu unterschätzen möchte die Thatsache sein, daſs die Spiritusindustrie in der
Elution eine neue Absatzquelle von ziemlicher Bedeutung gefunden hat. Die Produktion
an Melassenspiritus will übrigens gegenüber der Kartoffelspiritus-Erzeugung
nicht viel bedeuten. Im J. 1875 (also vor der Einführung der Osmose und der Elution
in die Zuckerfabrikation) war der Materialverbrauch sämmtlicher Brennereien im
deutschen Zollgebiete:
Kartoffeln
77,8
Proc.
Cerealien
15,8
„
Wein, Hefe und Treber
2,0
„
Rübenmelasse
2,3
„
u.s.w.
In Hektoliter ausgedrückt betrug die im J. 1875 in den
Brennereien verwendete Melasse in Deutschland 767951.
Sieht man von neuen und im praktischen Betriebe noch nicht hinreichend erprobten
Vorschlägen der Verarbeitung der Melasse nach Sebor,
Manoury u.a. ab, so läſst sich die Elution als das rationellste und der deutschen Zuckerindustrie am besten entsprechende
Verfahren der Extraction der Saccharose aus der Rübenmelasse bezeichnen, selbst dann
wahrscheinlich noch, wenn das Reich den bereits wiederholt ventilirten Gedanken
verwirklichen sollte, dem aus der Melasse gewonnenen Zucker eine Steuer
aufzuerlegen.
In Frankreich sind in dieser Hinsicht die Verhältnisse
ganz anders gelagert als in Deutschland; in Frankreich hat der Rübenzucker an dem
französischen Colonialzucker einen Concurrenten, hier ist die Spiritusfabrikation
und die Besteuerung des Spiritus eine andere, und nicht alle Verbesserungen in der
Verarbeitung der Melasse, welche wir in Deutschland als fortschrittliche bezeichnen,
werden jenseits der Vogesen im gleichen Sinne aufgefaſst. Auch die Fabrikation der
Kalisalze ist in Frankreich eine andere und minder günstige als in Deutschland, und
nirgends finden sich auf französischem Boden Kalisalzmineralien, welche die
Bereitung von Mineralpotasche in einer solchen Ausdehnung ermöglichten, daſs der
Bedarf an Kali im Inlande gedeckt werden könnte. Frankreich ist auf bedeutende
Einfuhr von Potasche angewiesen, und diese Einfuhr würde sich beträchtlich
vergröſsern, wenn durch Adoption rationeller Methoden zur Verarbeitung der
Rübenmelasse der französischen Melassenpotaschen-Industrie der Todesstoſs versetzt
würde. Es darf daher nicht überraschen, wenn französische Techniker das
althergebrachte Verfahren der Verwerthung der Melasse in der Spiritusbrennerei
dadurch zu verbessern trachten, daſs sie die Nichtzuckerbestandtheile der Melasse in
möglichst hochwerthige Producte überführen.
An der Spitze Derjenigen, die reale Verbesserungen in die Verarbeitung der
Melassenschlempe einführten, steht der schon oben genannte C. Vincent. Nach dem älteren Verfahren der Herstellung der Schlempekohle
durch Eindampfen der Melassenschlempe und Verkohlen des Rückstandes gehen alle
organischen Stoffe der Melasse, insbesondere die werthvollen stickstoffhaltigen
Bestandtheile durchaus verloren. Vincent hat es nun
unternommen, diese Stoffe so weit als technisch ausführbar zu verwerthen, indem
er die Herstellung der Schlempekohle in geschlossenen Räumen ausführt, oder mit
anderen Worten die Abdampfungsproducte der Melassenschlempe in eisernen Retorten der
trockenen Destillation unterwirft in ähnlicher Weise, wie es mit dem Holz bei der
Bereitung von Essigsäure, Methylalkohol, Aceton, Kreosot u.s.w. geschieht. Die
Producte der trockenen Destillation sind:
1) Eine lockere und sehr poröse Schlempekohle, welche alle Mineralsalze der Melasse
enthält und mit Leichtigkeit durch Auslaugen erschöpft werden kann; die aus solcher
Kohle erhaltene Potasche soll sich durch groſse Reinheit auszeichnen und namentlich
von Sulfat und Sulfuret frei sein. Zur Herstellung der Potasche dient ein von E. Porion construirter Calcinirofen, der in mehreren
Potaschefabriken Frankreichs eingeführt ist (vgl. *1868 188 23. 1875 218 490) und in
letzter Zeit durch Werotte in Lüttich (*1874 212 196)
einige Verbesserungen erfuhr.
2) Eine wässerige Flüssigkeit, die neben kleinen Mengen Theer in
Condensationsapparaten, ähnlich den in den Gasfabriken zum Auffangen des Gas- oder
Ammoniakwassers benutzten, sich verdichtet. Der Theer enthält neben etwas Phenol,
Glieder aus der Reihe der Chinolinbasen, dagegen weder Benzol noch Toluol. Das
Condensationswasser enthält zahlreiche Bestandtheile, nämlich Ammoniak in Form von
Carbonat, Sulfhydrat und Cyanammon, ferner Methylsulfuret, Methylalkohol, namhafte
Mengen von Trimethylamin und endlich eine Anzahl von Gliedern der Reihe der
einbasischen fetten Säuren (von der Ameisensäure an bis zur Amylcarbonsäure).
3) Gase, im Mittel aus 46 Proc. Kohlensäure, 12 Proc. Kohlenoxyd, 34 Proc.
Wasserstoffgas und 8 Proc. Grubengas bestehend, welche zu Leucht- und Heizzwecken
und wegen des hohen Kohlensäuregehaltes auch noch anderweitig (z.B. zur Entfernung
des Schwefelkaliums aus der Potasche während des Calcinirens) verwendet werden
können.
Nur die wässerige Flüssigkeit (das Condensationswasser) von der trockenen
Destillation des Productes des Abdampfens der Rübenschlempe bietet technologisches
Interesse. Nach den Mittheilungen Lamy's (des seitdem
leider verstorbenen Schwiegersohnes Fr. Kuhlmann's in
Lille) wurde aus dieser Flüssigkeit, weiche gelblich aussieht, durch darin
suspendirte Theerpartikelchen getrübt ist und eine Dichte von etwa 5° B. besitzt,
durch methodische, auf einander folgende Abscheidung der einzelnen Bestandtheile
Methylalkohol, Ammonsulfat und aus den letzten Mutterlaugen Trimethylamin (nach A. Henninger höchst wahrscheinlich ein
Zersetzungsproduct des Betaïns, welches als dreifach methylirtes Glycocoll C2H2 (CH3)3NO2 aufgefaſst werden kann) in namhaften Mengen
dargestellt. Nach den damaligen Angaben Vincent's
(1877) sollte bei der Verarbeitung der Rübenmelasse der von 100k Melasse erhaltene Rückstand 2k Ammonsulfat, fast ein 1l,5 reinen Methylalkohol und 1k,8
nicht krystallisirende Mutterlauge liefern, welche zum gröſsten Theile aus
schwefelsaurem Trimethylammon besteht.
Seit jener Zeit (nicht viel mehr als einem Jahre) sind nun die Arbeiten C. Vincent's in den Groſsbetrieb übertragen worden, und
wie die chemische Abtheilung auf dem Marsfelde zeigte, wird das neue Verfahren in
der Fabrik von Tilloy, Delaune und Comp. in Courrières
im gröſsten Maſsstabe betrieben. Nach den Angaben der Fabrik stellt man täglich aus
dem Condensationswasser 1600k Ammonsulfat, 100k Methylalkohol und 1800k rohe Trimethylaminsalze dar (bei 300
Arbeitstagen würde die Fabrik jährlich 9600 Ctr. Ammonsulfat und 600 Ctr.
Methylalkohol liefern können). Der Methylalkohol aus Courrières ist für die
Theerfarbenfabrikation sehr beliebt.
Bisher gab es jedoch in der Verwerthung der Producte der trockenen Destillation der
Melassenrückstände eine Lücke, nämlich die Verwendung der Trimethylaminsalze, von
welchen eine industrielle Verwendung nicht bekannt war.
Dieses Problem ist nun von C. Vincent in durchaus
befriedigender Weise gelöst worden. Die Aufgabe war einfach die, das Trimethylamin
in technisch ausführbarer Weise in Ammoniak und in ein Methylderivat zu zerlegen,
also die umgekehrte Reaction auszuführen, durch welche A. W.
Hofmann. in seiner klassischen Arbeit vor fast 30 Jahren das Trimethylamin
darzustellen lehrte.
Es ist eine bekannte Thatsache, daſs, wenn man trockenes Chlorwasserstoffgas durch
den Dampf einer methylirten Alkylaminbase strömen läſst, in dem vorliegenden Falle
Trimethylamin, sich Chlormethyl und Ammoniak bildet: N(CH3)3 + 4HCl = 3CH3Cl + NH4Cl. Diese einfache Reaction hat
nun Vincent in den Fabrikbetrieb übertragen. Die
Mutterlaugen, wesentlich aus salzsaurem Trimethylamin bestehend, werden, wie P. Schülzenberger in einem Referate über das neue
Verfahren für die Société d'Encouragement (Bulletin, 1878 Bd. 5 S. 432) angibt, eingedickt, bis
der Siedepunkt der Flüssigkeit bis auf etwa 260° gestiegen ist. Bei dieser
Temperatur findet lebhafte Entwicklung von Gas statt, welches aus einem Gemisch von
Trimethylamin und Chlormethyl besteht; der Rückstand ist zusammengesetzt aus
unzersetzt gebliebenem Salzsäuren Trimethylamin und salzsaurem Monomethylamin. Hat
die Zersetzungstemperatur der Masse 305° erreicht und überschritten, so bleibt in
dem Destillirapparate nur Salmiak und Monomethylaminsalz zurück, während die
entweichenden gasförmigen Producte auſser Chlormethyl groſse Mengen von Ammoniak
enthalten. Bei 325° endlich ist die ganze Masse zersetzt und durch einfache
Destillation in ein Gemenge von Ammoniak, Trimethylamin und Chlormethyl übergeführt
worden. Das Gasgemisch wird in gewöhnliche Salzsäure geleitet, von welcher Ammoniak
und Trimethylamin zurückgehalten wurden, während das Chlormethyl unabsorbirt
durchgeht mit alkalisch
gemachtem Wasser gewaschen und in einem Gasometer unter Wasser aufgefangen wird. Die
salzsaure Lösung der beiden Basen wird abgedampft, bis die Lauge bei 140° siedet und
darauf in einem kühlen Raum sich selbst überlassen. Es krystallisirt Salmiak heraus,
der durch Abtropfenlassen und Centrifugiren von der anhängenden Lauge befreit wird.
Die Trimethylamin-haltigen Mutterlaugen gehen in die Fabrikation zurück, um wie das
ursprüngliche Trimethylaminsalz der trockenen Destillation unterworfen zu
werden.
Das Chlormethyl wird getrocknet und dann mit Hilfe einer
Saug- und Druckpumpe zu einer Flüssigkeit verdichtet, die in starkwandigen
Metallgefäſsen aufbewahrt und verwendet wird. Das so dargestellte ChlormethylIn der chemischen Fabrik von Brigonnet und Sohn
in St. Denis, route du Landit 6, fabricirte man Chlormethyl auf die
angegebene Weise in groſsem Maſsstabe und zwar 25k täglich. Gegenwärtig ist die Einrichtung
dergestalt erweitert worden, daſs man 800k
Chlormethyl täglich erhalten kann. ist farblos, sehr beweglich,
von süſslichem ätherartigem Gerüche und siedet bei –23° bei einem Drucke von 860mm. Die Gesammttension seines Dampfes ist bei:
at
0°
2,48
15
4,11
20
4,81
25
5,62
30
6,05
und deshalb ist sein Transport ein durchaus gefahrloser. Die
Gefäſse, in denen man es von St. Denis aus versendet, sind aus Kupfer- oder
Stahlblech und enthalten 2,5 bis 200k Chlormethyl.
1k kostet gegenwärtig 3,20 M.
Seine Hauptanwendung ist vor der Hand zur Eisbereitung (vgl. 1877 226 555) und zur
Herstellung methylirter Theerfarben, wobei das Chlormethyl bereits an die Stelle des
früher angewendeten Jod- und Brommethyls und des Methylnitrates getreten ist, weil
es nicht nur wohlfeiler ist als die beiden erstgenannten Alkylhaloïde, sondern auch
minder gefahrvoll als das Methylnitrat, welches bekanntlich in der
Theerfarben-Bereitung wiederholt zu Explosionen Veranlassung gegeben hat.
Die von C. Vincent geschaffene Industrie liefert also,
wie in dem Vorstehenden aus einander gesetzt, aus Stoffen, die vor kurzer Zeit noch
unbeachtet gelassen wurden, eine Reihe werthvoller chemischer Producte (Ammoniak,
Methylalkohol und Chlormethyl) und gehört zu den wenigen chemischen
Industriezweigen, welche auf der diesjährigen Pariser Ausstellung wirklich Neues und
Beachtenswertes aufzuweisen hatten.
Universität Würzburg, October 1878.