Titel: | Ueber die Fäulniss des Roggenmehles. |
Fundstelle: | Band 250, Jahrgang 1883, S. 324 |
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Ueber die Fäulniſs des Roggenmehles.
A. Pöhl, über die Fäulniſs des Roggenmehles.
In Folge der Ernährung mit ungesundem Brode entstandene epidemische Krankheiten
traten meist nach andauernden Regengüssen oder Ueberschwemmungen auf. Bei den darauf
folgenden Ernten trat viel Mutterkorn auf und dieser Umstand gab wesentlich die
Veranlassung, im Genusse eines Mutterkorn haltigen Brodes die Ursache der Epidemien
zu sehen.
Man unterscheidet in diesen Epidemien zwei verschiedene Formen: der mit Krämpfen
verbundene Ergotismus convulsivus und der gangränöse
Ergotismus gangraenosus. Dieser, auch
Mutterkornbrand genannt, erscheint vorwiegend in Frankreich, England und in der
Schweiz; der Ergotismus convulsivus, die sogen.
Kriebelkrankheit, dagegen vorwiegend in Ruſsland, Deutschland und in Schweden.
Zuweilen treten auch beide Formen in ein und derselben Gegend auf. In Ruſsland tritt
der Ergotismus besonders häufig in den nördlichen
Gouvernements und im Gebiete der Wolga auf; am häufigsten in den Gouvernements
Wjatka, Kasan und Kostroma, wo in den J. 1832 und 1837 die Sterblichkeit sehr heftig
war; sie verhielt sich wie 1 : 1,75 bis 4.
Der Bericht von Eichwald über die Ergotismusepidemien
ergibt, daſs das Auftreten der Epidemien in keinem direkten Verhältnisse zum Gehalte
des Mutterkornes im Roggen steht, daſs es bisher nicht gelungen ist, sämmtliche in
verschiedenen Ergotismusepidemien beobachtete Erscheinungen auf experimentellem Wege
an Thieren durch Einführung von Mutterkorn, sogen. Sclerotinsäure u.s.w.,
hervorzurufen, daſs die Ergotismusepidemien stets unter Umständen aufgetreten sind,
welche eine Fäulniſs des Kornes bedingen muſsten, daſs der faulende, Mutterkorn
haltige Roggen offenbar nur in gewissen Graden seiner Zersetzung giftig wirkt, daſs
schlieſslich die verschiedenen Formen des Ergotismus unmöglich durch die Menge des
eingeführten Mutterkornes oder die Dauer des Gebrauches erklärt werden können.
A. Pöhl (Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1883 S. 1975) fand nun, daſs die Bildung der Glykose durch Einwirkung eines
Fermentes, welches die äuſseren Schichten des Kornes (Endocarpium und Perisperm) einschlieſsen,
auf die Stärkemehlkörner bei Gegenwart von Wasser bedingt wird. Eine weitere
Veränderung der Glykose wird durch die Buttersäure-Gährung bedingt und von
Ausscheidung von Kohlensäure und Wasserstoff begleitet. Bei erwähnter
Buttersäure-Gährung ist die Bildung von Milchsäure und Buttersäure von gröſster
Bedeutung: 2C6H12O6 = 2C3H6O3 +
C4H8O2 + 2CO2 + 4H. Die
Eiweiſsstoffe werden gewöhnlich als in Fäulniſs übergegangen betrachtet, sobald
dieselben unter Einwirkung von Alkalien leicht zerfallen unter Abspaltung von
Ammoniak oder Aminbasen.
Diese allgemein bekannte Erscheinung faulender Eiweiſsstoffe ist bei Mehlprüfungen gar nicht genügend in Betracht gezogen;
denn man hielt die Bildung von Trimethylamin bei Behandlung des Mehles mit Aetzkali
für ein charakteristisches Zeichen der Anwesenheit von Mutterkorn. Dagegen hat sich
ergeben, daſs ein Roggenmehl, welches aus ausgesuchten Roggenkörnern hergestellt
war, folglich kein Mutterkorn enthielt, nach kurzer Einwirkung von Feuchtigkeit bei
Zimmertemperatur, bei Behandlung von Aetzkali auch ohne Erwärmung Trimethylamin
entwickelte; die Menge desselben steigt mit zunehmender Fäulniſs. Aus Mehlmischungen mit bestimmtem
Gehalte an Mutterkorn ist die sich entwickelnde Menge von Trimethylamin bei
Einwirkung von Aetzkali zu verschiedenen Zeiten verschieden und nicht proportional
der Mutterkornmenge. Das Steigen der Trimethylaminmenge steht in Abhängigkeit zum
Theile von der Menge des Mutterkornes, zum Theile von der Zeitdauer der Aufbewahrung
der Mischung von Mehl und Mutterkorn und zum Theile vom Fäulniſsgrade derselben.
Daraus ergibt es sich, daſs das Auftreten von Trimethylamin bei Behandlung des
Mehles mit Aetzkali durchaus kein Kennzeichen für die Anwesenheit von Mutterkorn
ist. Weitere Versuche ergaben, daſs ein aus ausgesuchtem Roggen frisch hergestelltes
Mehl bei Einwirkung einer 0,5 procentigen Lösung von Aetzkali beim Erwärmen im
Verlaufe von ½ Stunde auf dem Wasserbade keine merklichen Mengen Trimethylamin
entwickelte; ein Mehl jedoch, welches selbst der geringsten Fäulniſseinwirkung
unterworfen war, entwickelt unter gleichen Umständen eine merkliche Menge von
Trimethylamin. Die Menge des Trimethylamins steht daher in Abhängigkeit vom
Fäulniſszustande des Mehles und steigt mit zunehmender Fäulniſs. Schon vor dem
Auftreten der äuſseren Kennzeichen der Fäulniſs sind im Mehle bedeutende Mengen
Glykose enthalten.
Da die Milchsäure bei der Peptonisation der Eiweiſsstoffe besser als Phosphorsäure,
Schwefelsäure, Essigsäure, Oxalsäure und Weinsteinsäure die Salzsäure ersetzt, so
wird die Bildung von bedeutenden Peptonmengen bei der Fäulniſs des Mehles um so
erklärlicher.
Das Pepton unterliegt ungemein leicht der Einwirkung der Fäulniſs. Die Veränderungen,
welche das Pepton bei Fäulniſseinwirkung zuerst erleidet, bestehen im Verluste des
Rückverwandlungsvermögens in fällbares Eiweiſs, im Verluste des optischen
Drehungsvermögens und in der Eigenschaft des ungemein leichten Zerfalles bei
Einwirkung von Alkalien oder von unterbromigsauren oder unterchlorigsauren Alkalien.
Das Pepton, welches die oben erwähnten Veränderungen erlitten, hat Pöhl „Ptomopepton“ genannt und als
Fäulniſsproduct betrachtet.
Da die Peptonbildung aus den Eiweiſsstoffen des Mehles bei Einwirkung von
Feuchtigkeit unter günstigen Temperaturbedingungen beobachtet ist, so wurden
vergleichende Versuche angestellt mit reinem Mehle und solchem, welches mit
Mutterkorn versetzt war. Dabei ergab es sich, daſs die Peptonbildung im Mehle,
welches Mutterkorn enthielt, bei gleichen Fäulniſsbedingungen viel gröſser ist als
in reinem Mehle. Diese Erscheinung ist vollkommen erklärlich, da die meisten
pflanzlichen Gewebe, besonders aber dasjenige der Pilze, bedeutende peptische
Wirkung äuſsern, hier das Pilzgewebe des Sclerotium von
Claviceps purpurea auf die Eiweiſsstoffe des
Mehles.
Unter den Fäulniſsproducten der Eiweiſskörper wurden die Fäulniſsalkaloide in dem
faulenden Mehle in weit gröſseren Mengen angetroffen, als anfangs zu erwarten war.
Reines Roggenmehl und solches, welchem Mutterkorn hinzugefügt war, wurde der Einwirkung der
Feuchtigkeit unterworfen. Es ergab sich, daſs das Mutterkorn haltige Mehl, den
äuſseren Kennzeichen, dem Gerüche u.s.w. nach zu urtheilen, schneller in den
Fäulniſszustand übergeht als das reine Mehl. In dem Mutterkorn haltigen Mehle
konnten auch schon vor dem Auftreten des Fäulniſsgeruches Fäulniſsalkaloide, d.h.
Ptomaïne nachgewiesen werden.
Reines Mehl, wie auch Mutterkorn haltiges wurden in gröſseren Mengen der Fäulniſs
ausgesetzt und von Zeit zu Zeit wurden der faulenden Masse Proben entnommen, welche
nach dem Stas-Otto'schen Verfahren bearbeitet wurden.
Man erhielt hierbei sowohl aus der sauren, wie auch aus der alkalischen
Aetherausschüttelung nach dem Verdunsten der Aetherlösung Rückstände, welche
zuweilen flüssig, zuweilen halbflüssig waren. Der Geruch erinnerte zuweilen an
Coniin; zuweilen war er widerlich süſs aromatisch, oder er erinnerte lebhaft an
Weiſsdorn. Die erhaltenen Producte gaben die allgemeinen Alkaloidreactionen und
unterschieden sich den verschiedenen Schritten der Fäulniſs entsprechend durch ihr
Verhalten gegen Fällungsmittel, wie auch gegen Farbenreactionen.
Um die Einwirkung des Mutterkornes auf die Fäulniſs des Mehles im Allgemeinen zu
untersuchen, wurden die Mengen des Stickstoffes bestimmt, welche durch
unterbromigsaures Natrium aus dem wässerigen Auszuge des Mehles abgespalten wird. Um
gleichzeitig auch den Einfluſs der Peptonisation zu prüfen, wurden 4 Reihen
vergleichender Versuche angestellt:
Zeit
Procent des durch NaBrO ausgeschiedenen
Stickstoffes in ver-schiedenen Graden der Mehlfäulniſs
Mehl
Mehl mitSchimmel
Mehl mitMutterkorn
Mehl mit pepti-schem Ferment
3. Tag
0,1316
0,1671
0,1933
0,3762
4. „
0,1527
0,2592
0,2909
0,3949
8. „
0,1989
0,2842
0,3157
0,4210
13. „
0,2196
0,3415
0,4269
–
20. „
0,5259
–
0,5662
0,7404
Mutterkorn, wie auch Schimmelbildung rufen unter gewissen
Bedingungen peptische Wirkung auf die Eiweiſsstoffe des Mehles hervor und
begünstigen deren Fäulniſszerfall, welcher direkt proportional ist der Peptonisation
derselben. In den ersten Graden der Fäulniſs ist der Zerfall der Eiweiſsstoffe im
Mutterkornmehl gröſser als im Mehle mit Schimmel oder reinem Mehle; am gröſsten ist
der Fäulniſszerfall bei Einwirkung von peptischem Ferment; nach einiger Zeit
steigern sich die Unterschiede in den Versuchsreihen und die Fäulniſseinwirkung des
Mutterkornes nimmt entsprechend schnell zu. Nach lang andauernder Fäulniſs
verringert sich allmählich die Differenz in der Fäulniſseinwirkung der verschiedenen Beimischungen
zum Mehle.
Das Mutterkorn (das Mycelium von Claviceps purpurea)
bedingt also durch peptische Wirkung eine Beschleunigung des Fäulniſsprozesses im
Mehle und mithin das Auftreten von Fäulniſsalkaloiden.
Man kann demnach mit groſser Wahrscheinlichkeit annehmen, daſs der Ergotismus durch
Gebrauch von faulendem Mehle mit Mutterkorngehalt bedingt wird und der gröſste Theil
der bösartigen Erscheinungen dieser Krankheit den sich bildenden Fäulniſsalkaloiden
zuzuschreiben ist. Das Mutterkorn wirkt dabei weniger direkt durch die ihm
zukommenden physiologischen Wirkungen als vorwiegend indirekt, indem es ziemlich
energische peptische Wirkung auf die Eiweiſsstoffe des Mehles ausübt und damit die
Bildung von Fäulniſsalkaloiden befördert. Diese Ansicht über die nahen Beziehungen
der Fäulniſsalkaloide zu den Erscheinungen des Ergotismus wird noch dadurch
unterstützt, daſs die Epidemien, welche in der Lombardei in Folge von Genuſs von
faulem Maise auftreten, vieles Gemeinsame mit dem Ergotismus besitzen.
Daſs der Fäulniſszerfall der Eiweiſsstoffe so häufig im Maise und im Roggen
stattfindet, steht im Zusammenhange mit der Glykosebildung aus der Stärke; denn von
der Menge der Glykose hängt die Menge der sich bei der Gährung derselben bildenden
Milchsäure ab, welche die Peptonisation wesentlich beeinfluſst. Nach Hammersten findet aber die Glykosebildung unter
gleichen Bedingungen bei Einwirkung von Speichel statt bei Kartoffelstärke nach 2
bis 4 Stunden, bei Roggenstärke nach 3 bis 6 Minuten und bei Maisstärke nach 2 bis 3
Minuten.
Die wesentlichsten Umstände, welche die Bildung von Fäulniſsalkaloiden in Mutterkorn
haltigem Mehle bedingen, sind somit: Die Verwandlung der Stärke in Glykose, die
Gährung der Glykose unter Bildung von Milchsäure, Peptonisation der Eiweiſsstoffe
durch peptische Einwirkung des Myceliums von Claviceps
purpurea in Gegenwart von Milchsäure und endlich Uebergang des Peptons zu
Ptomopepton und Zerfall unter Bildung von Fäulniſsalkaloiden.