Titel: | Zur Theorie des Bleikammerprozesses. |
Fundstelle: | Band 268, Jahrgang 1888, S. 227 |
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Zur Theorie des Bleikammerprozesses.
Zur Theorie des Bleikammerprozesses.
Vor einiger Zeit ist in diesem Journal über eine Arbeit Raschig's berichtet worden (1887 266 276, 467
und 524), in welcher auch eine neue Aneorie des Bleikammerprozesses entwickelt war.
Diese letztere wird nun in einer umfangreichen Arbeit von G.
Lunge (Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft, 1888 Bd. 21 S. 67)
lebhaft bekämpft. Lunge sucht zunächst nachzuweisen,
daſs die von Raschig aufgestellten Reactionsgleichungen
(1887 266 524) den in der Bleikammer herrschenden
Bedingungen nicht entsprechen. Für die erste Gleichung fehlt der Beweis, daſs bei
der in der Kammer herrschenden Temperatur, der Zusammensetzung des Gasgemisches
u.s.w. überhaupt Dihydroxylaminsulfonsäure entstehen könne, während andererseits
keine Erklärung darüber gefunden wird, warum sich nicht, da stets groſser Sauerstoffüberschuſs
vorhanden ist, Nitrosylschwefelsäure bildet oder was aus dieser wird.
Der durch die zweite Gleichung ausgedrückte Prozeſs ist nach Raschig's eigenen Untersuchungen in der Bleikammer fast ausgeschlossen.
Die Dihydroxylaminsulfonsäure wird nämlich im Augenblicke ihres Entstehens wieder
gespalten, aber nur dann in der Weise, daſs Stickoxyd auftritt, wenn sie sofort mit
einem Ueberschuſs von salpetriger Säure zusammenkommt, anderenfalls zerfällt sie in
Schwefelsäure, Wasser und Stickstoffoxydul. Da nun aber die salpetrige Säure
unbedingt nicht überall und in jedem Moment in genügender Menge vorhanden ist, das
Stickoxydul aber durchaus beständig ist, so müſste letzteres in den Bleikammern
sicherlich in ganz erheblichen Mengen vorkommen. Bis jetzt ist aber ein positiver
Nachweis von Stickoxydul in der Bleikammer überhaupt noch nicht gelungen.
Auch die dritte Gleichung Raschig's, c), trifft nicht zu. Wie Lunge in Uebereinstimmung mit allen früheren Forschern nachgewiesen
hatBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1387., entsteht aus Stickoxyd, überschüssigem
Sauerstoff und Wasser nur Salpetersäure, bei Abwesenheit von Wasser aber
Untersalpetersäure. Den Fall, daſs Stickoxyd mit weniger Sauerstoff als im
Verhältniſs NO : O zusammenkomme, brauchen wir hier nicht in Betracht zu ziehen. Nur
wenn Stickoxyd und Sauerstoff in unmittelbarer Berührung mit Schwefelsäure
zusammentreten, vereinigen sie sich im Verhältnisse N2 zu O3, geben aber im selben Augenblicke
Nitrosylschwefelsäure.
Raschig glaubte seine Theorie auch noch auf einen
indirekten Beweis stützen zu können; aber auch dieser steht auf sehr schwachen
Füſsen. Raschig konnte nämlich, während alle
gewöhnlichen Kammersäuren sich völlig ammoniakfrei zeigten, ausnahmsweise in einer
zufällig einen Ueberschuſs von Schwefligsäure enthaltenden Kammersäure sehr kleine
Mengen von Ammoniak nachweisen, welches letztere das Endproduct der von ihm
angenommenen Stufenleiter von Reactionen sein soll. Dabei ist es nicht einmal ganz
sicher, ob die von ihm aufgefundenen Spuren von Ammoniak (0,0028 bis 0,0138 Proc.)
nicht ganz oder doch theilweise aus der groſsen Menge der verwendeten Natronlauge
stammten, welche bekanntlich häufig ein wenig Ammoniak beim Kochen abgibt;
jedenfalls hätte dieser Einwand durch einen Controlversuch mit der Natronlauge für
sich abgeschnitten werden sollen. Noch weniger ist erwiesen, daſs das Ammoniak
gerade nach dem von Raschig aufgestellten complicirten
Reactionsschema, unter Mitwirkung von fast ausschlieſslich von ihm zuerst
aufgefundenen oder auch nur vermutheten Verbindungen entstanden war, während man
sich doch seine (längst bekannte und analytisch allgemein verwendete) Entstehung bei
der Reduction von Stickstoffoxyden weit einfacher vorstellen kann, und früher immer vorgestellt hat.
Wenn man aber auch alle anderen schweren Bedenken gegen Raschig's Annahmen bei Seite setzen wollte, so könnte doch die
ausnahmsweise, oder eventuell selbst die häufigere Auffindung einer so winzigen
Menge von Ammoniak höchstens dafür sprechen, daſs in der Bleikammer Nebenreactionen
in ganz geringem Betrage stattfinden, durch die das Ammoniak entsteht,
möglicherweise nach dem Raschig'schen
Reactionsschema.
Durchaus unbegründet sind die Ausstellungen, welche Raschig an den bisherigen Anschauungen macht. Diese sollen nicht erklären
können, weshalb die Einwirkung von Stickstofftrioxyd auf Schwefeldioxyd nur bei
Gegenwart von Wasser, und zwar von relativ viel Wasser stattfindet. Aber auch nach
den bisherigen Anschauungen entsteht in der Bleikammer nicht Schwefelsäureanhydrid,
sondern Schwefelsäure, und auch nach diesen Anschauungen muſs relativ viel Wasser
vorhanden sein, um zu verhüten, daſs nicht die salpetrige Säure von der sonst
entstehenden concentrirten Schwefelsäure aufgelöst und weggeführt wird.
Lunge hält es für unrichtig, daſs man die Entstehung der
Schwefelsäure in der Bleikammer nicht mit Hilfe der wirklich in dieser massenhaft vorhandenen Körper, sondern mit
Hineinziehung solcher Verbindungen erklären will, welche noch Niemand geschaut oder
früher auch nur vermuthet hat, und denen ihr eigener Autor die Existenzfähigkeit im
freien Zustande abspricht, auf Grund von Reactionen, die zum Theil gar nicht
existiren, zum Theil nur unter Umständen eintreten, die von denen der Bleikammer
enorm verschieden sind, und die nach Raschig's eigenem
Zugeständniſs nur als minimale Nebenreactionen gelten können, aber auch auf anderem
einfacherem Wege erklärt werden können.
Im Anschlusse an diese Kritik entwickelt Lunge nun seine
eigenen Anschauungen über den Bleikammerprozeſs.
Es ist von Lunge und Naef
nachgewiesen worden, daſs in keinem Theile eines normal
arbeitenden Bleikammersystemes die Zusammensetzung der Stickstoffoxyde zu der
Annahme des Vorhandenseins von Untersalpetersäure paſst; vielmehr kann in der ersten
Kammer Stickoxyd neben Stickstofftrioxyd, späterhin nur das letztere nachgewiesen
werden. Untersalpetersäure tritt nur dann auf, wenn der Kammergang abnorm ist,
nämlich bei unnöthigem Ueberschuſs von Salpetergasen im letzten Theile des Systemes,
wo die Schwefelsäurebildung so gut wie ganz aufgehört hat. Ein Mehr oder Weniger von
Sauerstoff ist ganz ohne Einfluſs auf die Frage, ob sich N2O3 oder NO2Der Einfachheit wegen wird der Ausdruck Untersalpetersäure beibehalten und
deren Formel = NO2 geschrieben, obwohl
natürlich je nach der Temperatur mehr oder weniger N2O4-Moleküle
daneben vorhanden sind. bildet. Indem wir nun festhalten, daſs
bei normalem Gange die empirische Zusammensetzung der Stickstoffoxyde in dem
gröſseren Theile des Kammersystemes, gerade auch hinten, wo wenig Schwefligsäure
mehr vorhanden ist, der Analyse nach = N2O3 ist, werden wir auch die dabei noch immer denkbare Annahme abweisen
müssen, daſs diese Stickstoffoxyde doch nur ein Gemenge von NO und NO2 seien. Dies würde nämlich nur unter zwei so gut
wie unmöglichen Bedingungen denkbar sein, erstens, daſs das Stickoxyd sich trotz des
langen Weges durch die Kammern und des enormen Sauerstoffüberschusses nicht höher
oxydire, zweitens, daſs bei den zahlreichen Analysen von normalen Kammergasen der
hinteren Bleikammern ganz zufällig immer genau 1 Mol. Stickoxyd auf 1 Mol. NO2 nie mehr von letzterem vorhanden gewesen sei.
Die Versuche von Lunge und Naef sind nie widerlegt oder öffentlich bestritten worden. Von privater
Seite hat man eingewendet, es könne doch NO2
vorhanden gewesen sein, welche bei der Absorption im analytischen Apparate durch die
gleichzeitig vorhandene Schwefligsäure zu N2O3 reducirt worden sei. Aber ein Blick auf die
Analysen (Chemische Industrie, 1884 S. 8, 10, 12)
zeigt, daſs in den hinteren Kammern eine sehr kleine Menge von Schwefligsäure im
Verhältniſs zu der anwesenden Menge der Salpetergase vorhanden war, welche nur sehr
wenig NO2 hätte reduciren können- aber da auſserdem
diese Schwefligsäure mit einer enormen Menge von Sauerstoff und Stickstoff verdünnt
war., so konnte ihre Reductionswirkung während des augenblicklichen Durchstreichens
durch die Absorptionsröhren nur so unbedeutend sein, daſs kein merklicher
Analysenfehler daraus entstehen konnte.
Eher möchte dies für die Analysen der Gase im vorderen Theile der Kammer gelten, wo
noch sehr viel Schwefligsäure vorhanden ist, und wodurch die Bestimmung des dort
gefundenen Stickoxydes zu hoch ausgefallen wäre.
Obige Erwägungen führten zu der Folgerung, daſs in einer normal arbeitenden Kammer
wesentlich Stickstofftrioxyd vorkomme, und daſs daneben Untersalpetersäure sicher
nur in ganz kleinen, nur bei abnormem Gange in gröſseren Mengen, und zwar auch dann
stets nur am Ende des Systemes auftrete, während umgekehrt im Anfang des Systemes
neben N2O3 auch
Stickoxyd gefunden wurde.
Gegen diesen Schluſs könnte man einwenden, daſs die Existenz des Stickstofftrioxyd es
oder Salpetrigsäureanhydrides im gasförmigen Zustande nicht feststehe. Lunge hat zwar früherBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1878 Bd. 11 S. 1232; Bd. 12 S. 357; Bd. 15 S. 495. Beweise dafür
gegeben, daſs N2O3
auch als Dampf existenzfähig ist, und die hiergegen von Ramsay und Cundall erhobenen
EinwendungenJournal of the Chemical Society, Bd. 47 S.
187. als nicht zutreffend nachgewiesen.Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1376. Diese Forscher haben jedoch in einer
weiteren ArbeitJournal of the Chemical Society, Bd. 47 S.
672. neue, wesentlich auf Bestimmung von Dampfdichten gegründete
Versuche und weitere
Gründe gegeben, welche die Existenz von N2O3 als Dampf widerlegen sollen. Wenn auch zugegeben
werden soll, daſs diese neuen Gründe mehr Gewicht als die früheren besitzen, so sind
auch ihre letzten Versuche keineswegs einwurfsfrei, und da sie es nicht einmal
unternehmen, die früheren experimentellen Beweise Lunge's für die Existenz von N2O3 im
Dampfzustande, zu denen damalsBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1386. noch neue hinzugefügt wurden, ihrerseits
Versuche entgegenzustellen, welche die Unrichtigkeit der Lunge'schen Resultate erweisen, so müssen die letzteren noch immer als
thatsächlich unangefochten gelten.
Die leichte Dissociation des N2O3 ist selbstredend auch bei den Versuchen von Ramsay und Cundall im
Spiele gewesen; aber für diese Dissociation ist auch die Function der Zeit nicht
auſser Acht zu lassen. Wenn das N2O3 nach seiner Ausscheidung auch nur eine kurze Zeit
als solches besteht, so ist dies für Lunge's
Beweisführung ausreichend, und ein kurzes Bestehen dieser Art ist auch mit den
Versuchen von Ramsay und Cundall ganz vereinbar.
Lunge halt also fest, daſs gasförmiges Stickstofftrioxyd
in der Bleikammer vorhanden ist, zieht aber die von ihm früher gemachte
AeuſserungBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1376. zurück, wonach seine Ansichten über den
Bleikammerprozeſs nicht haltbar seien, wenn salpetrige Säure oder deren Anhydrid als
nicht existenzfähig im Dampfzustand betrachtet werden müſsten. Man könnte selbst
dann noch annehmen, daſs in der Bleikammer die salpetrige Säure, HNO2, aufgenommen von den als Nebel vorhandenen
Wassertröpfchen, zur Wirkung käme. Auch Raschig, der
die Existenz von N2O3 als Dampf für eine offene Frage hält, operirt fortwährend mit
salpetriger Säure als Hydrat, als einem unentbehrlichen Gliede in der Kette seiner
Reactionen. Will man dies thun, so setzt man in der Gleichung:
2SO2 + N2O3 + O2 + H2O = 2 SO2(OH)(ONO) . . . 1)
für N2O3 + H2O einfach
2NOOH. Dagegen empfiehlt es sich nicht, auch die Gleichung
2SO2(OH)(ONO) + H2O = 2SO2(OH)2 + N2O3 . . . 2)
durch Einführung eines weiteren Moleküles Wasser auf 2NOOH zu
bringen. Denn da notorisch die Kammer mit gelbrothen Dämpfen erfüllt ist, so muſs
man entweder, wie dies Lunge noch immer thut, annehmen,
daſs diese Dämpfe aus N2O3 bestehen, oder anderenfalls, daſs zwar das N2O3 sofort in Stickoxyd und
Untersalpetersäure zerfällt, daſs aber diese beiden Körper stets wieder im
Augenblicke mit Wasser und Schwefelsäure in Reaction treten, und zwar so schnell,
daſs die Oxydation des Stickoxydes vollkommen verhütet wird. Dies ist sehr
unwahrscheinlich. Wenn die gelbrothen Dämpfe eine Mischung von Stickoxyd und
Untersalpetersäure enthielten und ihre Farbe nur der Untersalpetersäure verdankten, so würde diese
Mischung nur einen Zeitmoment unverändert bestehen, der lang genug wäre, um die
Farbe der Untersalpetersäure hervortreten zu lassen, aber zu kurz, um auch nur eine
theilweise Oxydation des Stickoxydes durch den überall vorhandenen Sauerstoff zu
ermöglichen. Viel ungezwungener ist es, anzunehmen, daſs die gelbrothen Dämpfe
wirklich aus. Molekülen von Stickstofftrioxyd bestehen, welche sich zwar nach
einiger Zeit in Stickoxyd und Untersalpetersäure dissociiren würden, welche aber
schon vorher wieder nach Gleichung 1 mit Sauerstoff und Schwefligsäure in Reaction
treten, um gleich darauf nach Gleichung 2 durch frisch ausgeschiedene Moleküle von
N2O3 ersetzt zu
werden.
Ein weiteres Argument dafür, daſs die, empirisch sicher die Zusammensetzung N2O3 besitzenden,
Kammergase nicht aus einem Gemisch von gleichviel Molekülen Stickoxyd und
Untersalpetersäure bestehen, ist folgendes: In der Kammeratmosphäre schweben eine
Menge Theilchen von Schwefelsäure und von Wasser, beide im flüssigen Zustande (als
Nebel), das Wasser auch als Dampf. Die Schwefelsäure gibt mit Untersalpetersäure ein
Gemisch von Nitrosylschwefelsäure und Salpetersäure. Aber noch weit mehr
Salpetersäure müſste in Folge der Gegenwart des Wassers aus dem Stickoxyd und dem
gleichzeitig vorhandenen Sauerstoff entstehen; denn, wie längst bekannt und von Lunge neuerdings bestätigtBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1377., reagiren diese Körper schnell und
vollständig in der Weise auf einander, daſs alles Stickoxyd in Salpetersäure
übergeht. Wo bleibt nun alle diese Salpetersäure, die massenhaft in der Bleikammer
auftreten müſste, aber notorisch nur bei ganz schlechtem Betriebe vorkommt? An eine
einigermaſsen vollständige Reduction desselben durch weiteres Stickoxyd ist nicht zu
denken, denn dies geht langsam und unvollständig vor sich.Ebenda S. 1386.
Ebenso wenig kann hierbei an eine vollständige Reduction durch Schwefligsäure gedacht
werden, denn diese wirkt bei der Temperatur der hinteren Kammer und nur langsam und
unvollkommen auf die in der Schwefelsäure gelöste Salpetersäure ein. Wäre es anders,
so müſste bei schlechtem Kammergange, wo hinten noch viel Schwefligsäure übrig
bleibt, dort keine Salpetersäure vorzufinden sein, während sie doch im Gegentheil
gerade dann in der Kammersäure auftritt, im Gegensatz zu der gleichzeitig
zurücktretenden Nitrosylschwefelsäure. Hier wie späterhin müssen wir festhalten,
daſs die Reactionen in verschiedenen Theilen des Kammersystemes sehr verschieden,
und sogar geradezu umgekehrte sein können, entsprechend den Verschiebungen in der
Temperatur und in dem Vorwalten oder Zurücktreten der einzelnen Agentien.
Obiges sind die Gründe für die Annahme, daſs die rothgelben Dämpfe in einer normal
arbeitenden Kammer wenigstens im Wesentlichen aus Stickstofftrioxyd bestehen. Dies würde zu der von Berzelius schon aufgestellten, in der bekannten
ausgezeichneten Arbeit von R. Weber aufgenommenen
Theorie passen, wonach die Reactionen des Bleikammerprozesses durch folgende
Gleichungen dargestellt werden:
SO2 + N2O3 + H2O
= SO2(OH)2 + 2NO . .
. . 3)
2NO + O = N2O3 . . . . . . . 4)
Diese Anschauung vermag Lunge aber jetzt nicht mehr zu
theilen, und zwar aus folgenden Gründen. Erstens sollten dann überall, wo
Schwefelsäure gebildet wird, also auch im hinteren Theile des Kammersystemes, neben
den Molekülen von N2O3 eine groſse Anzahl von Stickoxydmolekülen gefunden werden, während die
Analyse der Gase im gröſseren Theile des Systemes nur N2O3 zeigte. Zweitens hat Lunge nachgewiesenBerichte der deutschen chemischen Gesellschaft,
1885 Bd. 18 S. 1388 und 1389., daſs Stickoxyd und überschüssiger
Sauerstoff in dem nicht unmittelbar mit flüssigen Schwefelsäuretheilchen erfüllten
Raume (und dieser muſs immerhin den gröſsten Theil des Kammerraumes ausmachen) nicht
zu N2O3
zusammentreten, sondern bei Abwesenheit von Wasser NO2, bei Anwesenheit desselben NO3H bilden,
was beides, wie oben nachgewiesen, in der Kammer nicht eintritt. Mithin kann die
Reaction 4) überhaupt gar nicht stattfinden. Man wird demnach in dem hinteren, mit
gelben Gasen erfüllten Theile des Kammersystemes auch das nur augenblickliche
Vorhandensein von Stickoxyd bei normalem Betriebe nicht annehmen dürfen, wegen der
relativen Stabilität der sonst unvermeidlich entstehenden Salpetersäure, und fällt
damit die durch die Gleichungen 3) und 4) repräsentirte Theorie der
Schwefelsäurebildung dahin. Dies bewog Lunge schon 1885
zu dem Schlusse, daſs alle bis dahin aufgestellten Theorien der
Schwefelsäurebildung, welche auf der Reduction der Salpetergase zu Stickoxyd fuſsen,
zu verwerfen seien, und daſs vielmehr N2O3 mit Sauerstoff und Schwefligsäure direkt zu
Nitrosylschwefelsäure zusammentreten, nach Gleichung 1), während letzteres gleich
darauf durch Wasser zersetzt wird und nach Gleichung 2) Schwefelsäure gibt, unter
Rückbildung von N2O3. Für diese Theorie ist es an sich gleichgültig, ob man salpetrige Säure als
Hydrat, NOOH, oder aber ihr Anhydrid zusammen mit Wasser in die Reaction 1) anführt;
obwohl letzteres entschieden richtiger erscheint, so würde die Theorie ihrem Wesen
nach bestehen bleiben, auch wenn die Nichtexistenz des Stickstofftrioxydes im
Gaszustande nachgewiesen wäre.
Für Lunge's Theorie ist es wichtig, zu beachten, daſs
Schwefelsäure von der Stärke gewöhnlicher Kammersäure (1,50 bis 1,55 spec. Gew.)
zwar bei gewöhnlicher Temperatur noch recht merkliche Mengen von
Nitrosylschwefelsäure aufgelöst enthalten kann, aber diese beim Erwärmen schnell und
fast vollständig abgibt; hierauf beruht ja die früher allgemeine Methode des
„Denitrirens der Nitrose“ mit Wasserdampf in der „Kochtrommel“.
Bei der Temperatur in der Bleikammer, und der äuſserst feinen, die Reaction ungemein
begünstigenden Vertheilung der Agenden in Nebelform muſs mithin fast alle
Nitrosylschwefelsäure unmittelbar nach ihrem Entstehen durch das in der Kammer
schwebende Wasser zersetzt werden. Nur die unmittelbar über der Bodensäure gebildete
Nitrosylschwefelsäure wird zum Theil in die erstere übergehen können, was auch im
hinteren Theile des Systemes wirklich geschieht, während im vorderen Theile, wo die
denitrirenden Einflüsse der höheren Temperatur und des Ueberschusses von
Schwefligsäure zusammenwirken, die Bodensäure sich fast oder (seltener) ganz frei
von „Salpeter“ zeigt.
Die soeben ausgeführten Ansichten erklären jedoch noch nicht den ganzen
Kammerprozeſs; für den vorderen, undurchsichtig weiſsen Theil der Kammer, in welchem
Lunge und Naef viel
Stickoxyd nachgewiesen haben, müssen sie modificirt werden. Hier, wo die
Ausgangssubstanzen: Schwefeldioxyd, Salpetergase, Sauerstoff und Wasser, im
concentrirtesten Zustand zusammentreten, herrscht die höchste Temperatur, was schon
anzeigt, daſs die Reaction hier am lebhaftesten ist, wie es auch durch die
energische Bildung von Schwefelsäure bestätigt wird. An dieser Stelle zeigt die
Analyse stets weniger Sauerstoff in den Stickstoffoxyden, als der Formel N2O3 entspricht, und
muſs man daher Stickoxyd neben N2O3 annehmen. Zwar ist vermuthlich die in den Gasen
wirklich vorhandene Menge von Stickoxyd erheblich kleiner als die in den Analysen
gefundene, vor Allem darum, weil beim Durchsaugen des Gasgemenges durch die
Absorptionsflüssigkeit die hier noch so reichlich vorhandene Schwefligsäure
reducirend auf N2O3
wirken wird, aber man wird nicht umhin können, an dieser Stelle noch viel Stickoxyd
anzunehmen, schon wegen der Farbe des Gasgemisches. Hier wäre es also auf den ersten Blick denkbar, daſs die Schwefligsäure
durch den Sauerstoff der frisch eingeführten Salpetergase direkt oxydirt, und
letztere dabei zu Stickoxyd reducirt würden, nach dem Schema:
SO2 + NO2 + H2O = SO4H2 + NO . . . . .
5)
SO2 + N2O3 + H2O
= SO4H2 + 2NO . . .
. 6)
Das Stickoxyd muſs natürlich unmittelbar darauf durch den Luftsauerstoff wieder höher
oxydirt werden; aber man müſste dann annehmen, daſs an dieser Stelle in einem
gegebenen Zeitmoment mehr Moleküle von Stickoxyd als von den höheren Oxyden
vorhanden seien, und deshalb die gelbe Farbe der letzteren nicht zur Geltung komme –
um so mehr, als sie sich gröſstentheils sofort in der gerade hier als Nebel äuſserst
reichlich vorhandenen Schwefelsäure auflösen müssen. Während diese Nebel
heruntersinken, was nach allen neueren Untersuchungen ein langsamer Prozeſs ist,
werden sie von der hier ja im groſsen Ueberschuſs vorhandenen Schwefligsäure
denitrirt und daraus erklärt es sich, daſs die Bodensäure dieses Kammertheiles wenig
oder keine
Salpeterreaction, zuweilen sogar aufgelöste Schwefligsäure zeigt, während die
„Tropfsäure“, welche sich weiter oben beim Anprall des Nebels an die
„Säuretische“ zu Regen condensirt, stets noch salpetrig ist, und sein
soll. Jene dicken, weiſsen Nebel bestehen jedenfalls aus einem Gemisch von
Schwefelsäure, von fester Nitrosylschwefelsäure (Kammerkrystallen), von einer
Auflösung der letzteren in Schwefelsäure und von Wassertröpfchen.
Das Stickoxyd muſs also an dieser Stelle unmittelbar nach seiner Bildung höher
oxydirt werden. Was wird dann entstehen? Wenn wir für den Augenblick die Mitwirkung
der Schwefligsäure auſser Acht lassen wollen, so müssen wir annehmen, daſs das
Stickoxyd da, wo es neben dem Sauerstoff zugleich Schwefelsäure antrifft, nur
Nitrosylschwefelsäure gibt, da aber, wo es Wasser antrifft, nur Salpetersäure geben
kann. Gerade Untersalpetersäure kann hier nicht
entstehen, weil dazu trockenes Stickoxyd mit trockenem Sauerstoff zusammenkommen
muſs, welche Bedingung in einer mit Dampf übersättigten Kammeratmosphäre von 60 bis
80° nirgends gegeben ist. Wäre nicht auch Schwefligsäure hier massenhaft vorhanden,
so müſste hier viel Salpetersäure gebildet werden; aber an dieser Stelle läſst das die Schwefligsäure nicht zu, im Gegensatz zu dem
Ende des Kammersystemes. Das Stickoxyd wird nämlich gröſstentheils schon mit
Schwefligsäure, Sauerstoff und Wasser direkt zu Nitrosylschwefelsäure
zusammentreten:
2SO2 + 2NO + 3O + H2O = 2SO2(OH)(ONO) .
. . 7)
Wenn aber durch lokalen Ueberschuſs von Wasser aus dem Stickoxyd etwas Salpetersäure
entstanden ist, so wird diese, welche bei der hier herrschenden Temperatur
gröſstentheils dampfförmig sein muſs, durch die Schwefligsäure ebenfalls in
Nitrosylschwefelsäure verwandelt werden:
SO2 + NO2 OH = SO2(OH)(ONO)
. . . . . 8)
Genau dasselbe gilt von der frisch in den Prozeſs eingeführten Salpetersäure, wenn
diese nicht schon auf ihrem früheren Wege, z.B. durch den Gloverthurm, reducirt
worden ist, während, wie wir oben sahen, bei den ganz anderen Bedingungen im
hinteren Theile des Kammersystemes die Salpetersäure überhaupt nicht mehr, oder doch
nicht vollständig, reducirt werden kann.
Es ist also unmöglich, daſs gerade in dem vorderen Theile des Kammersystemes
überhaupt Untersalpetersäure entstehen kann, und die Theorie des Kammerprozesses
wird also auch für diesen Theil desselben von der Hereinziehung der
Untersalpetersäure durchaus absehen müssen.
Die direkten Reactionen 5) und 6) werden mithin jedenfalls eine sehr untergeordnete
Rolle spielen. Sie sind von vornherein beschränkt auf die neu anlangenden
Salpetergase, welche ja nur einen kleinen Theil des in der Kammer arbeitenden
Kapitales von Stickstoffoxyden ausmachen; aber auch von diesen wird ein groſser
Theil gleich zu den Reactionen 7) und 8) verwendet werden. Ueberhaupt hat es ja eine
Theorie des
Kammerprozesses viel weniger mit der erstmaligen Function der frisch eingeführten
Salpetergase, als mit der immer erneuten Wirkung derselben zu thun, und diese muſs
auch im vordersten Theile des Systemes wesentlich auf der Bildung von
Nitrosylschwefelsäure und deren Wiederzersetzung beruhen.
Wie läſst sich nun aber mit dem eben Gesagten die gerade von Lunge und Naef so bestimmt constatirte
Thatsache vereinigen, daſs im vorderen Kammertheile thatsächlich erhebliche Mengen
von Stickoxyd vorkommen?
Dies ist jedenfalls hauptsächlich auf eine secundäre Reaction zurückzuführen, die
unter den gegebenen Umständen eintreten muſs, nämlich auf die Denitrirung von
Nitrosylschwefelsäure durch Schwefeldioxyd:
2SO2(OH)(ONO) + SO2 + 2H2O = 3SO4H2 + 2NO . . .
9)
Dies ist dieselbe Reaction, welcher unmittelbar vorher im Gloverthurm die vom
Gay-Lussacthurm herkommende Nitrose unterzogen worden ist, und die ganz ebenso bei
der am Anfange des Kammersystemes neugebildeten Nitrosylschwefelsäure eintreten
muſs, da ja ganz genau dieselben Bedingungen vorhanden sind: Ueberschuſs von
Schwefligsäure, von Wasser und eine eher noch, höhere Temperatur, als die im
obersten Theile des Gloverthurmes herrschende, wo sie durch die einflieſsende kalte
Säure herabgestimmt wird. Auf diesem Wege also entsteht hier noch mehr Stickoxyd,
als durch die Reaction 7) wieder sofort aufgenommen werden kann; daher das Auftreten
von Stickoxyd in Folge der secundären Reaction 9). Es wäre also gar nicht einmal
nöthig, die primären Reactionen 5) und 6) als wirklich vor sich gehend zu
betrachten; doch soll nicht geleugnet werden, daſs sie als lokale Nebenreactionen
auftreten können, ohne daſs man sie deshalb in eine die Hauptreaction umfassende
Theorie aufzunehmen brauchte.
Letztere werden wir nunmehr folgendermaſsen formuliren können. Die Bildung der
Schwefelsäure in der Bleikammer beruht der Hauptsache nach auf der intermediären
Bildung von Nitrosylschwefelsäure. Diese tritt aus Schwefeldioxyd, Sauerstoff und
salpetriger Säure zusammen (Gleichung 1), und wird gleich darauf, indem sie auf
überschüssiges Wasser trifft, in Schwefelsäure und Stickstofftrioxyd zerlegt
(Gleichung 2), das mit Wasser zusammen von Neuem salpetrige Säure bildet und den
Prozeſs von vorn beginnen läſst. Dabei ist es nicht absolut nöthig, anzunehmen, daſs
N2O3 als Gas
existiren könne; will man jedoch das Gegentheil annehmen, so zwingen freilich die
Kammergas-Analysen bei Lunge's wie bei jeder anderen
Theorie, zu der nicht sehr wahrscheinlichen Annahme, daſs gar kein Theil des durch
den Zerfall von N2O3
entstehenden Stickoxydes Zeit finde, sich durch den in ungeheurem Ueberschuſs
vorhandenen Sauerstoff zu oxydiren, ehe es von Neuem mit Schwefligsäure in Reaction
tritt. Bei der geringen Wahrscheinlichkeit hiervon ist die Annahme vorzuziehen, daſs
das N2O3 auch in Gasform
existirt, und die bekannte gelbrothe Farbe des Kammergases bewirkt. – Für den
vorderen Theil des Kammersystemes muſs diese Theorie noch dahin erweitert werden,
daſs hier ein Theil der Nitrosylschwefelsäure durch Schwefligsäure denitrirt wird
(Gleichung 9), und daſs das auf diesem Wege gebildete Stickoxyd mit Sauerstoff,
Schwefligsäure und Wasser direkt Nitrosylschwefelsäure bildet (Gleichung 7). Als
Nebenreaction kann letztere auch noch durch Einwirkung von (ursprünglich
eingeführter oder frisch gebildeter) Salpetersäure auf Schwefeldioxyd entstehen
(Gleichung 8); die direkte Bildung von Schwefelsäure aus Schwefligsäure durch
Reduction von NO2 und N2O3 (Gleichung 5 und 6) geht gewiſs nur in
unbedeutendem Grade vor sich, obwohl man in neuerer Zeit fast allgemein diese
Reactionen für die eigentlichen Hauptreactionen gehalten hat. Um so mehr muſs
hervorgehoben werden, daſs schon 1812 H. Davy die
Bildung der Kammerkrystalle als ein nothwendiges Zwischenglied des
Bleikammerprozesses aufgefaſst hat, daſs ihm darin verschiedene ältere Chemiker,
z.B. L. Gmelin und zuletzt auch Cl. Winkler gefolgt sindVgl. Lunge, Handbuch der Sodaindustrie, I.S. 416
bis 420.; aber seitdem war man fast durchgängig wieder davon
abgegangen. Lunge's jetzige Ansichten über den
Haupttheil des Kammerprozesses weichen von denen der genannten Forscher nur in
einem, allerdings wesentlichen, Stücke ab. Während sie nämlich alle als weiteres
Zwischenglied des Prozesses die Bildung von Stickoxyd und Untersalpetersäure
annehmen, und das Stickoxyd sich durch Luftsauerstoff zu Untersalpetersäure oxydiren
lassen, hat Lunge nachgewiesen, daſs diese Annahme
nicht nur überflüssig, sondern ganz auszuschlieſsen ist. Untersalpetersäure kommt im
normalen Kammerprozesse gar nicht vor, und Stickoxyd tritt nur anfangs durch eine
secundäre Reaction auf, um darauf in die direkte Condensationsreaction 7)
einzutreten. Lunge faſst eben den Kammerprozeſs nicht
als eine abwechselnde Reduction und Oxydation von Stickstoffoxyden auf, sondern als eine
Condensation der salpetrigen Säure oder auch des
Stickoxydes mit Schwefligsäure und Sauerstoff zu Nitrosylschwefelsäure und Wiederabspaltung der salpetrigen Säure aus der
letzteren durch Einwirkung von Wasser. Dabei soll aber nicht unterlassen werden,
hervorzuheben, daſs die Lunge's Theorie zu Grunde
liegende Reaction 1) die Bildung von Nitrosylschwefelsäure aus salpetriger Säure,
Sauerstoff und Schwefeldioxyd, gerade durch Cl.
Winkler's klassische „Untersuchungen über die chemischen Vorgänge in den
Gay-Lussac'schen Condensationsapparaten der Schwefelsäurefabriken“ (Freiberg
1867) zuerst vollständig aufgeklärt worden ist.
(Fortsetzung folgt.)