Titel: | Zur Theorie des Bleikammerprozesses. |
Fundstelle: | Band 268, Jahrgang 1888, S. 368 |
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Zur Theorie des Bleikammerprozesses.
(Schluſs des Berichtes S. 227 d. Bd.)
Zur Theorie des Bleikammerprozesses.
Eine kurze Betrachtung wird nunmehr genügen, um die abnormen Erscheinungen zu
erklären, welche zuweilen im Kammerprozesse auftreten.
Bekanntlich entsteht unter gewissen Umständen Stickoxydul als Reactionsproduct von
schwefliger auf salpetrige Säure, welchem Vorgange wohl allgemein der chemische Verlust von Salpeter zugeschrieben wird im
Gegensatz zu den mechanischen Verlusten durch
unvollständige Absorption im Gay-Lussac-Thurm, durch den Stickstoffgehalt der Kammersäure u.s.w.
Daſs die Reduction des Stickoxydes unter sehr ungünstigen Umständen sogar bis zu
Stickstoff gehen kann, ist theoretisch sehr wohl möglich, für die Praxis aber nicht
erwiesen. Zuerst von R. Weber, dann von Lunge ist nachgewiesen worden, daſs die Reduction von
Stickoxyd durch schweflige Säure zu Stickoxydul nur bei Gegenwart von Wasser oder
einer verdünnteren Schwefelsäure, als sie in der Bleikammer ist, vor sich geht.
Daher kann in letzterer eine Bildung von N2O nur an
solchen Stellen geschehen, wo ein Ueberschuſs von Wasser vorhanden ist; dies ist
aber nur an wenigen Stellen der Fall und bei guter Arbeit ist der chemische Verlust
an Salpeter sehr gering, wahrscheinlich unter 0,5 Th. auf 100 Schwefel. Raschig muſs zur Erklärung der Stickoxydulbildung ebenfalls zufälliges
Fehlen von salpetriger oder Ueberschuſs von schwefliger Säure an verschiedenen
Stellen annehmen; aber nach Raschig wird die
hypothetische Dihydroxylaminsulfonsäure gerade durch freie Schwefelsäure zur
Entwicklung von Stickoxydul gebracht, was nicht mit der von Weber und Lunge festgestellten Thatsache
stimmt, daſs die Reduction von Stickoxyd zu -oxydul durch schweflige Säure bei
Gegenwart von mäſsig concentrirter Schwefelsäure gar nicht eintritt.
In der Praxis führt eine andere schon erwähnte abnorme Reaction häufig zu weit mehr
Salpeterverlusten, nämlich die Bildung von Untersalpetersäure im letzten Theile des Kammersystemes. Diese bewirkt das
Auftreten von Salpetersäure in der Bodensäure der letzten Kammer, aber nicht oder
nur selten in der Nitrose des Gay-Lussac-Thurmes, weil
sie hier durch den Koks, vielleicht unter Mitwirkung der letzten Spuren schwefliger
Säure reducirt wird.Vgl. Lunge, Chemische Industrie, 1885 S.
2. In der Praxis will man unter solchen Umstanden auch wahrnehmen,
daſs aus dem Gay-Lussac-Thurm unabsorbirte rothe Dämpfe
entweichen. Die Bedingungen der Bildung von Untersalpetersäure und deren Verhütung
sind von Lunge und Naef
genauer studirt worden. Sie haben gezeigt, daſs die Bildung von NO2 ganz unabhängig von der Menge des anwesenden
Sauerstoffes, ist, und daſs sie sowohl bei abnorm niedrigem, wie bei normalem und
bei abnorm hohem Sauerstoffgehalt auftritt. Ihr Auftreten wird nur verursacht durch
eine unverhältniſsmäſsig groſse Zufuhr von Salpeter. Alsdann ist der
Schwefelsäurebildungsprozeſs beendigt, noch ehe die Gase die Kammern verlassen
haben; im letzten Theile des Systemes ist kein -Nebel von Schwefelsäure, noch auch
eine merkliche Menge von Schwefligsäure mehr vorhanden. Jetzt fehlen also die
Bedingungen, wie sie oben für den normalen Prozeſs entwickelt worden sind. Die
salpetrige Säure, welche jetzt keine Körper mehr antrifft, mit denen sie stabile
Verbindungen eingehen kann, dissociirt sich allmählich in dem groſsen
Luftüberschusse und oxydirt sich in demselben theilweise zu NO2, wie Lunge
Nachgewiesen hat.Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft
Bd. 14 S. 357. Das NO2 tritt in
Reaction mit der Bodensäure und gibt mit dieser gleiche Moleküle
Nitrosylschwefelsäure und Salpetersäure. Ein anderer Theil des NO2 geht natürlich mit den Austrittsgasen in den Gay-Lussac-Thurm, und man hat früher behauptet, daſs
sie hier von der Schwefelsäure nicht absorbirt werde. Dies ist zwar durch Lunge's Versuche als durchaus irrig erwiesen worden;
aber es ist leicht zu verstehen, daſs der für gewöhnlich ausreichende Koksthurm
gerade unter solchen Umständen nicht genügend functionirt, weil ja jetzt ein
Ueberschuſs von Salpetergasen da ist, auf den er nicht berechnet ist, weshalb etwas Salpetergas
in die Luft gehen wird.Naef (priv. Mitth. an Prof. Lunge) hält obige Erklärung für nicht
ausreichend, weil zu Uetikon die Absorptionseinrichtungen sehr gut seien,
aber trotzdem bei stark gelben Kammern aus dem Thurm rothe Dämpfe
entweichen, und dabei doch weniger Salpeter verbraucht wird, als bei
„hellen“ Kammern, d.h. bei ungenügender Zufuhr von
Stickstoffoxyden. Man kann dies aber wohl daraus erklären, daſs im letzteren
Falle, wie gleich anzuführen, die Verlustquellen noch gröſser sind. Eine
anderweitige Erklärung vermag Naef zur Zeit
ebensowenig zu geben. Das wäre also der abnorme Kammergang bei
Ueberschuſs von Salpetergasen. Viel ungünstiger ist der Verlauf des Kammerprozesses
bei ungenügender Zufuhr von Salpeter, sei es, daſs man von vorn herein zu wenig
davon anwendete, oder daſs in Folge von nicht ausreichender Dimension des Gay-Lussac-Thurmes die Wiedergewinnung der salpetrigen
Säure zu unvollständig von statten geht. Alsdann wird die Bildung von Schwefelsäure
im hinteren Theile des Systemes ebenfalls stocken, aber nicht, wie im vorigen Falle,
weil die Schwefligsäure schon erschöpft wäre, sondern weil noch zu viel davon
vorhanden ist. Jetzt muſs also an dieser unrichtigen Stelle eine Denitrirung der
Nitrosylschwefelsäure nach Gleichung 9) vor sich gehen, und es wird viel Stickoxyd
gebildet, wodurch die Kammeratmosphäre ihre gelbrothe Farbe theilweise, in ganz
schlimmen Fällen vollständig, einbüſst. In allen Fällen sinkt hier zugleich die
Temperatur weit unter die für ein Kammersystem normale, d.h. für den
Schwefelsäureprozeſs günstige; daher wird trotz der Anwesenheit von viel Sauerstoff
die Verbindung in Stickoxyd und Schwefligsäure nur träge stattfinden. Oft wird daher
auch noch Wasser im Ueberschuſs in der Kammerluft sein, und es ist dann gar kein
Grund mehr vorhanden, warum nicht das Stickoxyd mit Sauerstoff und dem Wasser
Salpetersäure bilden sollte, welche, da hier die Temperatur viel niedriger und denn
doch viel weniger Schwefligsäure als im vorderen Theile des Kammersystemes vorhanden
ist, theilweise unreducirt in die Bodensäure gelangt und damit die Kammeratmosphäre
noch ärmer macht. Trotzdem ist die Bodensäure nicht „salpetrig“ im Sinne des
Fabrikanten, d.h. sie entwickelt mit warmem Wasser keine rothen Dämpfe, weil es an
Nitrosylschwefelsäure fehlt. Ebenso wird, da jetzt Schwefligsäure vorherrscht und in
der Kammerluft fast gar keine Schwefelsäure, sondern nur noch Wasser vorhanden ist,
die Bildung von Stickoxydul in hohem Grade eintreten müssen. Dies bedeutet natürlich
einen totalen Verlust von Salpeter; aber ebenso verloren ist die in der Bodensäure
enthaltene Salpetersäure, wenn man die Säure direkt verbraucht, und das noch
unverändert in den Gay-Lussac-Thurm gelangende
Stickoxyd. Zwar trifft dieses hier noch immer mit Sauerstoff zusammen; aber nicht
allein ist dessen Menge relativ geringer als sonst, sondern die noch überschüssige
Schwefligsäure wirkt hier am unrechten Orte denitrirend und kann selbst schon
vorhandene Nitrosylschwefelsäure noch zerstören. Das aus dem Thurm entweichende Stickoxyd
bildet beim Austritt an die Luft rothe Dämpfe, während die „Laterne“ des
Thurmes weiſs ist, wie man oft beobachten kann. Alles zusammen führt nicht nur zu
groſsem Verlust an Schwefligsäure, also schlechtem Ausbringen an Schwefelsäure,
sondern auch zu groſsem Verlust an Salpeter und potenzirt fortschreitender Verarmung
der Kammern an ihrem Kapital von Sauerstoffüberträgern. Daher die bekannte,
neuerdings von EschellmannJournal of the Society of Chemical Industry,
1884 S. 136. wieder sehr bestimmt festgestellte
Erscheinung, daſs, wenn man zu sehr am Salpeter gespart hat und obige
„Krankheit“ der Bleikammern eingetreten ist, man ein Mehrfaches des
„ersparten“ Salpeters zugeben muſs, um auf einen normalen Zustand
zückzukommen.
Wesentlich ist es bei den soeben geschilderten Vorgängen, daſs sie sich am Ende des
Kammersystemes abspielen. Dies erklärt, warum das Stickoxyd nicht die Reaction 7)
eingeht, obgleich selbst bei schlechtem Kammergange wohl fast immer noch genügend
Sauerstoff vorhanden ist um die Schwefligsäure in Schwefelsäure überzuführen. Aber
erstens ist hier die Temperatur schon zu niedrig, vermuthlich weit unter dem
Optimum, da ja die Hauptreaction sich gerade an der heiſsesten Stelle des Systemes
vollzieht; zweitens ist jetzt nicht mehr Zeit genug dafür gegeben, daſs die nun in
einer groſsen Menge von Stickstoff vertheilten Moleküle von Sauerstoff in genügender
Menge mit den übrigen Agentien zusammentreffen können; lange ehe der Sauerstoff ganz
erschöpft ist, kommt das Gasgemenge am Ende des Systemes an und es entweichen
daselbst Stickoxyd, Schwefeldioxyd und Sauerstoff, alle vertheilt in einem groſsen
Ueberschuſs von Stickstoff, und daher unverbunden, in die äuſsere Luft (Lunge weist auf das ganz analoge
Nebeneinandervorkommen von Kohlenoxyd, Kohlenwasserstoffen und unverzehrtem
Sauerstoff in schlechten Rauchgasen hin).
Nichts ist in der Praxis der Schwefelsäurefabrikation bestimmter erwiesen, als daſs
der Prozeſs nur bei groſsem Ueberschuſs von Sauerstoff und von salpetriger Säure
(welcher letztere im Gay-Lussac-Thurm gröſstentheils
wiedergewonnen wird) regelrecht von statten geht; bei geringerem Ueberschuſs geht
stets Schwefligsäure in die Luft. Selbst bei gröſstem Ueberschuſs von Sauerstoff ist
eine absolut vollständige Oxydation der Schwefligsäure nicht möglich und scheint man
an der praktisch besten Grenze angelangt, wenn die Austrittsgase etwa noch 0,5 Proc.
der ursprünglich vorhandenen schwefligen Säure enthalten.Hurter, Journal of the Society of Chemical
Industrie, 1882 S. 8, 52 u.s.w. Wir haben es hier mit
einer jener umkehrbaren Reactionen zu thun, deren Gang nur durch bestimmte äuſsere
Bedingungen, namentlich durch Massenwirkung einer der Componenten, nach einer
bestimmten Richtung hin gelenkt, aber selten auch dann absolut vollständig gemacht
werden kann. Bei
Ueberschuſs von Sauerstoff und salpetriger Säure überwiegen die
Condensationsreactionen 1) und 7), also das von Lunge
als Hauptreaction des ganzen Prozesses bezeichnete Zusammentreten von SO2, N2O3 und O [bezieh. von SO2, NO und mehr O] und H2O zu SO2 (OH) (ONO); bei einem, wenn auch nur relativen
Ueberschuſs von Schwefligsäure dagegen überwiegt die Denitrirungsreaction 9), durch
welche die Kammerkrystalle von Schwefligsäure wieder in SO4H2 und NO gespalten werden. Das Stickoxyd
kann am Ende des Systemes nicht weiter in Reaction treten und entweicht somit
unbenutzt nach auſsen, da der Gay-Lussac-Thurm es nicht
zurückhalten kann. Diese umkehrbare Reaction ist ja das Analogon davon, daſs bei
Ueberschuſs von Schwefelsäure die Reaction 10):
SO4H2 + NOOH = SO2(OH)(ONO) + H2O,
bei Ueberschuſs des Wassers dagegen die Reaction 2):
SO2(OH)(ONO) + H2O = SO2(OH)2 + NOOH
zu Stande kommt. Im Bleikammerprozeſs ist mithin ein relativ
groſser Ueberschuſs von Sauerstoff und salpetriger Säure ebenso nothwendig, wie im
Hochofenprozeſs ein groſser Ueberschuſs von Kohlenoxyd, damit von den beiden
Reactionen:
Fe2O3 + 3CO = 2Fe + 3CO2
2Fe + 3CO2 = Fe2O3 = 3CO
die erstere überwiegt.
Nun erklärt es sich, warum nach praktischer Erfahrung bis zu einem gewissen Grade
gröſserer Kammerraum und gröſsere Salpeterzufuhr einander ersetzen können. Wenn
unter den übrigen Voraussetzungen des zuletzt geschilderten Kammerganges, mit
ungenügender Salpeterzufuhr, der Kammerraum in einem Falle groſser als im anderen
ist, so werden im ersteren Falle doch immer noch mehr Moleküle von Schwefligsäure
mit den nöthigen Mengen von Sauerstoff und Stickstoffoxyden zusammentreffen können,
als im letzteren, weil mehr Zeit zur Durchmischung gegeben ist; es wird also dann
der erforderliche Ueberschuſs der beiden letzteren Componenten ein kleinerer zu sein
brauchen. Bekanntlich muſs man in der Praxis auch die Zufuhr des Sauerstoffes durch
Herstellung des richtigen Zuges und Aenderung desselben je nach Aenderung der
atmosphärischen Bedingungen aufs Genaueste reguliren.
Man ist heutzutage in der Ausnutzung des Schwefels schon fast oder ganz bis zu der
äuſsersten Grenze gelangt, welche ihr durch die Umkehrung der Reaction gesetzt wird,
und der Verbrauch von Salpeter kann wohl auch kaum mehr irgend erheblich unter den
kleinen Betrag verringert werden, mit dem heute die best eingerichteten und
sorgfältige geleiteten Fabriken arbeiten. Man könnte vielleicht auch noch das
Verlangen aufstellen, in der Kammer selbst gleich zu concentrirter Säure zu
gelangen; aber dem widersetzen sich Theorie und Praxis in gleicher WeiseVgl. auch die mathematische Theorie von Hurter,
Journal of the Society of Chemical Industrie, 1882 S.
12. und es ist auch diesem Wunsche die Spitze abgebrochen, seitdem
man allgemein im Gloverthurm oder anderweitig durch Benutzung von sonst verlorener
Wärme auf Säure mit 80 Proc. Hydrat kommt. Nur in einer Beziehung scheint noch ein
Fortschritt denkbar. Wie der Kammerprozeſs jetzt ausgeführt wird, beansprucht die
Schwefelsäurebildung eine sehr lange Zeit und als direkte Folge davon einen enormen
Raum, eben das Bleikammersystem. Es scheint nicht, als ob eine Verringerung an Zeit
und Raum für die Schwefelsäurebildung durch irgend welche Abänderung der Temperatur
zu erreichen sei. Dagegen könnten folgende Factoren vielleicht zu Gunsten dieser
Verringerung geändert werden. Die Schwefelsäurebildung lieſse sich vermuthlich sehr
beschleunigen, wenn ein wirklich brauchbares System zur fortwährenden und
gründlichen Mischung der Gase erfunden würde; wenn also
das abwechselnde Spiel der Reactionen in weit kürzeren Intervallen einträte. Noch
mehr würde dies beschleunigt werden, wenn die Verdünnung der Grase mit Stickstoff
fortfiele, wenn man also mit reinem Sauerstoff statt mit atmosphärischer Luft
arbeiten könnte. Dann wäre auch eher als jetzt an höheren Druck zu denken, der wohl
die Reaction intensiver und schneller machen würde. Leichter zu erfüllen wäre wohl
die Bedingung, einen häufigen Anprall der Gase an feste Flächen zu verursachen,
wodurch die als Nebel in der Kammeratmosphäre schwebenden Theilchen viel schneller
zu einer Flüssigkeit verdichtet zu Boden sinken würden; die schnellere Entfernung
des Reactionsproductes könnte die Vereinigung der übrigen Agenden begünstigen, und
auch die Mischung der Gase würde dadurch augenscheinlich sehr befördert werden. Wie
man durch einen solchen Anprall eine entsprechende condensirende Wirkung
hervorbringen kann, haben u.A. Pelouze und Audouin in ihrem Apparate zur Abscheidung von Theer aus
Gas, und Lunge durch seinen Apparat zur Condensation
von Gasen und Dämpfen durch Flüssigkeiten gezeigt.