Titel: | Bemerkungen über die heutigen Kriegswaffen. |
Fundstelle: | Band 285, Jahrgang 1892, S. 105 |
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Bemerkungen über die heutigen
Kriegswaffen.
(Fortsetzung des Berichtes S. 73 d.
Bd.)
Mit Abbildungen.
Bemerkungen über die heutigen Kriegswaffen.
3) Belagerungs-, Festungs-, Küsten- und
Schiffsgeschütze.
Im vorigen Jahre wurden über die neuesten Schnellfeuerkanonen Angaben veröffentlicht,
welche zu nachstehender Zusammenstellung (S. 105 u. 106) benutzt worden sind. Die
hier zur Erzielung einer raschen Uebersicht gruppirten Zahlen machen es indess
schwer, Vergleichungen anzustellen, sie rufen im Gegentheil den Eindruck wach, dass
die Schnellfeuerkanonen noch in der Entwickelung begriffen sind und dass noch
schwierige Fragen ihrer Erledigung harren, ehe eine gewisse
Uebereinstimmung eingetreten sein wird, welche einen Abschluss andeutet (wie
das z.B. bei dem heutigen Kastenmagazingewehr der Fall zu sein scheint).
Auffallend von einander abweichende Zahlen zeigen die Gewichte der Armstrong'schen Kanonen und die der zum Vergleiche
daneben stehenden anderer Fabriken. Von ersteren sind die 12 cm L. 41,5 leichter als
die Krupp'schen und viel leichter als die Canet'schen L. 40 Kanonen, aber die 15 cm L. 41,5
schwerer als die Canet'schen 15 cm L. 45 (und viel
schwerer natürlich als die Krupp'schen L. 35). Man kann
also weder sagen, dass die Armstrong'sche Construction
leichter, noch dass sie schwerer ist als die anderen.
Textabbildung Bd. 285, S. 105Fig. 16.110 Tons-Geschütz des englischen Panzerschiffes
„Victoria“. (S. S. 78 und 107.) Die Canet'schen Angaben über das Gewicht der
Pulverladung und über die Anfangsgeschwindigkeiten dürfen mit den entsprechenden der
anderen Fabriken wieder nicht verglichen werden, weil sie sich auf ein anderes
Pulver (BN) beziehen (daher der starke Gewichtsunterschied); die beiden
Pulversorten von Krupp (G. P. C/89) und von Armstrong („Cordite“) haben auch wahrscheinlich
verschiedene Leistungen; wollte man nun aus den vorliegenden Geschwindigkeitszahlen
die Arbeitsleistungen der Geschosse berechnen und aus diesen auf die Leistungen der
zugehörigen Geschütze schliessen, so würde das entschieden fehlerhaft sein.
Dass die Pulverfrage die Zahlen für die Anfangsgeschwindigkeiten ändern kann, scheint
die Erklärung der französischen Marineverwaltung in der schon berührten
Kammerverhandlung vom December zu beweisen; danach ist zu vermuthen, dass alte
Geschützrohre wesentlich durch Verwendung des neuen (rauchlosen) Pulvers auf
Anfangsgeschwindigkeiten über 800 m gebracht werden sollen; beim alten Schwarzpulver
hatten dieselben vielleicht 500 m (bei den ersten Versuchen mit rauchlosem Pulver
möglicher Weise 700 bis 750 m).
Es darf hier nicht unerwähnt bleiben, dass die Zahlen für die Canet'schen Geschütze wahrscheinlich sehr von dem
Angaben über 12 und 15 cm-Schnellfeuergeschütze aus dem Jahre
1891.
Nach der Revue d'Artillerie, Bd. 38
und 39 (Hefte vom Juli, September und November 1891).
12 cm L. 40(d.h. 12 cm Länge 40
Kaliber)
12 cm L. 35 undL. 45
15 cm
Krupp
Canet
Armstrong(L. 41,5)
Krupp(L. 35)
Canet(L. 45)
Krupp(L. 35)
Canet(L. 45)
Armstrong(L. 41,5)
Bohrungsdurchmess. (Kaliber) mm
120
120
120
120
120
149,1
150
152,4
Ganze Länge mm
4800
4800
4930
4200
5400
5220
6750
6331
Abstand des Patro- nenbodens von
der Bodenfläche des Rohres in Kalibern
–
–
–
–
–
2,5
1,5
1,4
Nach Zeichnungen und dem Augenscheine
an- nähernd angegeben.
Gewicht des Rohres mit Verschluss
k
2200 †2112
2800
2083
1900
2900
3888
5700
5842
† Ein Krupp'sches 12
cm- Rohr L. 40 lag in einer Schlittenlaffete,
ein zweites in einer mit Gleitmuffe
(Wiegenlaf- fete), die oberen Zah- len gelten für
ersteres, die unteren für letz- teres.
Gewicht der Laffete ohne Maske k
31552530
3320
1829
3350
8750
5000
5350
6096
Gewicht der Maske bezieh. des
Schil- des k
2075 + 11551590
850
526 + 914
1350
890
1900
985
–
Die Masken bez. Schilde mit Zahlensummen
be- standen aus zwei Stücken.
Gewicht des Ge- schosses k
1823,75
21
20,41
18–23,75
21
34,5–45,5
40
45,36
Gewicht der
Pulver- ladung k
3,83,4
5,75 (BN)
2,54
3,5
6,5 (BN)
7,55
11 (BN)
6,814
Krupp und Armstrong ver- wandten rauchschwa- ches Pulver,
ersteres wurde „G.P.C. 89“, letz- teres
„Cordite“ ge- nannt. Bei Krupp wurden ausser den an- gegebenen noch
an- dere Ladungsgewichte verwandt.
Gewicht der leeren Hülse für die
La- dung k
–
8
–
–
8
–
15
–
Anfangsgeschwin- digkeit m
781657
738
670
716
782
742
750
673
Schuss in der Minute
8 oder 1213
12
10
12
12
6
10
6
Das Krupp'sche 12
cm- Rohr in der Schlitten- laffete gab 8 Schuss mit
Abzugsschnur ab- gefeuert, 12 mit auto- matischem
Abfeuern.
Treffähigkeit schwerer Krupp'scher Schnellfeuerkanonen.
Wahrscheinliche Abweichung
auf 2000 mnach der
auf 2000 mnach der
Höhecm
Breitecm
Längem
Höhecm
Breitecm
Längem
12 cm, 40 L. (Schlit- tenlaffete)
55
56
14
–
100
19
12 cm, 40 L. (Wie- genlaffete)
30
58
9
–
–
12 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
66
42
15
Granatgewicht 23,75 k
12 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
68
81
19
„ 20 „
12 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
48
71
11
„ 18 „
15 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
Granatgewicht 34 k
–
150
9
15 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
„ 45 k
–
85
11
2500 m
15 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
70
46
18
Granatgewicht 34,5 k
15 cm, 35 L. (Schlit- tenlaffete)
28
42
5
„ 45 „
Gasdrücke sind nicht angegeben, weil das Messen derselben nicht
gleichmässig in den Fabriken erfolgt; ihre Angabe würde vielleicht Verwirrung
hervorgerufen haben.
Nachrichten vom Februar 1892 besagen, dass in England neuerdings
noch leichtere 12 cm-Schnellfeuerlaffeten versucht worden sind.
(Von schweren Schnellfeuerkanonen sind
eingeführt bei der
französischen russischen
Marine„
10,5; 14; 16 cm12; 15 cm
SystemCanet
englischen italienischen
„
12; 15 cm von Armstrong
deutschen
„
10,5 und 15 cm).
in Frankreich eingeführten Pulvermonopol beeinflusst worden
sind. Wenn dasselbe nicht in den Händen des Staates wäre, würden die betreffenden
Angaben über Anfangsgeschwindigkeit und Gewicht der Pulverladung vielleicht ganz
anders lauten. – Bringt man diese Erwägung über das französische Pulver mit der
Zusammenstellung in Verbindung, so darf man wohl den Schluss ziehen, dass die
neuesten Schnellfeuergeschütze 800 m Geschwindigkeit sehr wohl erreichen können.
Die Zahlen im Kopfe der Zusammenstellung (S. 105) deuten darauf hin, dass auch die
Frage, wie lang ein Rohr im Verhältniss zum Kaliber sein muss, noch nicht gelöst
ist. Die Länge der Krupp'schen Rohre ist mit 40 bezieh.
35 Kaliber, die der Canet'schen mit 40 bezieh. 45 und
die der Armstrong'schen mit 41,5 angegeben. Canet scheint früher die Ansicht gehabt zu haben, je
mehr Geschwindigkeit das Geschoss haben soll, desto länger muss das Rohr sein. Jetzt
scheint er aber mehr als 45 L. für Schiffsgeschütze nicht mehr zu nehmen. Vielleicht
wird eine Rohrlänge von mehr als 5 bis 6 m auf Schiffen unbequem, möglicher Weise
kann auch die Bearbeitung des Pulvers eine Verlängerung des Rohres ersetzen; es ist
auch nicht ausgeschlossen, dass mit letzterer das Gewicht stark zu- und doch die
Haltbarkeit abnimmt. Ausserdem wird sich ein sehr langes Rohr schon im Ruhezustände
verbiegen, wenn es nicht besonders stark construirt ist.
Die Angaben für die Rohrlängen sind in Bezug auf Verwerthung der Pulverladung noch
dadurch verbesserungsfähig, dass man eigentlich nur den Bohrungsraum in Betracht
ziehen darf, den Geschoss und Pulver wirklich in Anspruch nehmen (also das, was
bei den Vorderladegeschützen die „Seele“ hiess). Dann müssen für die Krupp'schen Geschütze 2,5, für die anderen nur 1,5
bezieh. 1,4 Kaliber (für die ganze Stärke des „Bodens“) abgezogen werden. Für
die Pulververwerthung sind also die Seelen der Krupp'schen Rohre nur 37,5 bezieh. 32,5, die der Canet'schen 38,5 bezieh. 43,5 und die der Armstrong
'schen rund 40 Kaliber lang. Wenn auch
diese Zahlen nicht gerade für die Verschlusseinrichtung von Krupp sprechen, so begründen sie vielleicht doch ein gutes Zeugniss für
den Stahl und die Rohr- und Munitionseinrichtungen dieser Fabrik.
Um die Rohrgewichte der Zusammenstellung besser würdigen zu können, sei auf die
Einrichtung der Rohrwände hingewiesen. Die Krupp'schen
sind wahrscheinlich sogen. Mantelrohre, d.h. sie bestehen aus einem Kernrohr, das
die eigentliche Seele enthält, einem Mantel und einem oder zwei Ringen, d.h. einem
längeren und einem oder zwei kürzeren aufgeschobenen und befestigten Rohrstücken. Da
sich der Verschluss im Mantel befindet, so haben die Wände des Kernrohres nur einer
seitlichen Anstrengung zu widerstehen, das Metall
des ersteren aber einer solchen in der Längenrichtung.
Diese länger als 20 Jahre bewährte und durch Longridge
zum Theil nachgeahmte Construction kann wohl als die haltbarste der in Vergleich
gestellten Schnellfeuergeschütze angesehen werden. Das Canet'sche Rohr scheint auch im Wesentlichen aus einem Kernrohr und aus
einem aufgeschobenen längeren und einem kürzeren Rohrstücke (jaquette und frette) zu
bestehen, der Verschluss sitzt aber im Kernrohr und dessen Metall wird also auf
einen Druck in seitlicher Richtung und auf einen in der Längenrichtung in Anspruch
genommen (vielleicht ist letzterer durch den Rücklauf des Rohres in der Laffete um
ein Geringes geschwächt). – Bei dem Armstrong'schen
Geschütz sitzt der Verschluss zwar nicht im Kernrohre, sondern in einem
Umhüllungsrohre; aber das Geschützrohr wird aus einem Kernrohre und nicht weniger
als acht in zwei bezieh. drei Lagen auf einander geschobenen und verschraubten
Rohrstücken gebildet. Es scheinen indess Zweifel an der Haltbarkeit dieser überaus
„künstlichen Metallconstruction“ entstanden zu sein, von Canet ist sie verlassen worden.
Um einen richtigen Schluss auf das Gewicht machen zu können, welches ein Rohr zur
Haltbarkeit nothwendig hat, müsste man es einer Gewaltprobe unterwerfen und aus
Messungen (der Geschwindigkeiten und Gasspannungen bei steigenden Ladungen) dann
Folgerungen auf seine Leistungen und auf den Sicherheitscoefficienten machen, den
man bei Anwendung der Gebrauchsladungen haben würde (Aehnliches ist in Belgien
geschehen, vgl. 1891 281 153). Solange das nicht
stattgefunden hat, kann man ja nicht wissen, ob eine Fabrik wissentlich oder
unwissentlich einen Sicherheitscoefficienten von beispielsweise 3, die andere einen
von 5 hat; die erstere wird wohl das leichtere Rohr haben, aber nicht das
empfehlenswerthere. Eine gewissenhafte Fabrik, die auf ihren Ruf hält, wird
vielleicht für grössere Sicherheit construiren und anfertigen lassen und die
Geschichte der von ihr gelieferten Geschütze wird dann dieses Bestreben der Welt
zeigen. Es scheint, als ob in dieser Hinsicht die Fabrik von Krupp, welche schon seit 30 Jahren riesige Geschützlieferungen ausführte,
bessere, d.h. sicherere Geschütze fertiggestellt hat als irgend eine andere.
Die Unfälle beim Schiessen verschaffen auch ein
Urtheil über die Haltbarkeit der Geschützrohre und die darauf einwirkenden Umstände.
Zu den Vorkommnissen dieser Art, welche durch ihre Wiederholung sichere Schlüsse
gestatten, gehört das Unbrauchbar werden französischer Marinekanonen von 37 mm und
anderem Kaliber durch Lockern der Umhüllungsringe (les frettes ont joué). Da durch
ein Schnellfeuer (d.h. durch ein 10- bis 20fach schnelleres Feuer) noch eine ganz
andere Anspannung der Rohrwände nicht allein durch rasche Wiederholung der
Erschütterungen, sondern auch durch eine viel stärkere Wärmeerzeugung als früher
hervorgerufen wird, so ist ein Bedenken gegen die Beibehaltung des Verfahrens, ein
Stahlkernrohr in eine Anzahl von Rohrstücken einzukapseln, wohl erklärlich. – Bei
schweren französischen und englischen Geschützen haben sich Kernrohre an der Mündung
gespalten oder aufgeweitet. Eine englische Erklärung sucht die Ursache in der Art
der heutigen Pulverwirkung; das Bestreben, langsam brennendes Pulver zu gebrauchen,
habe in den vorderen Theil der Rohrbohrung eine so grosse Arbeit gelegt, wie sie
früher bei rascher brennendem Pulver nicht vorgekommen sein würde; man müsse daher
davon abgehen, das Rohrmetall an der Mündung stark zu verjüngen, man solle es dort
verstärken. (Auf Grund dieser Ansicht legt wahrscheinlich Armstrong jetzt die erste Lage von Rohrstücken bis zur Mündung und
versieht das vorderste mit einem wulstartigen Kopf). Nach Ansicht von Longridge (Erfinder der Drahtgeschütze) kann ein
Schrägstellen (Verkanten, coincement) des Geschosses in den Zügen mit zunehmender
Drehung eine Aufweitung hervorrufen. Daraus würde das Aufreissen oder sogar das
Abspringen des Vordertheils gefolgert werden können, ja selbst das Springen des
ganzen Rohres, wenn das Verkeilen des Geschosses seine Zertrümmerung und die
Entzündung seiner Sprengladung hervorrufen würde. Wenn demnach wirklich die
Haltbarkeit des Rohres von der Schrägstellung des Geschosses abhängt, so wird das
Geschütz durch die vordere Rohrverstärkung nicht gerade an Sicherheit gewonnen
haben. Wohl aber könnte die Gefahr des Springens durch Einschränkung dieser
Schrägstellung vermindert werden; z.B. durch Vermeidung kurzer (mit Spitze nur 2 bis
2½ Kaliber langer) Geschosse und durch Feststellung sehr kleiner Spielräume für die
äusseren Abmessungen der Geschosse und die inneren der Rohre und endlich durch
peinliche Innehaltung dieser Abnahmevorschriften. – Eine dritte recht eigenthümliche
Erscheinung beim Schiessen ist das Verbiegen von schweren Rohren. In der englischen
Marine sind einige „sogen.“ 110 t-Kanonen vorhanden von 111 t Gewicht und von
41,3 cm Bohrungsdurchmesser; Armstrong hat sie
geliefert; zwei von ihnen sind auf der (Anfang Februar 1892 bei Platäa gestrandeten
und wieder flott gewordenen) „Victoria“ (Fig.
16, S. 105), zwei auf der „Sans pareil“. Vor zwei Jahren bog sich
das „Lange Feld“ (Vordertheil) einer der ersteren nach unten (um 2 bis 7 cm);
eines der letzteren verbog sich nach unten und seitwärts, und da derselbe Vorfall
sich nochmals wiederholte, so konnte das Schiff erst lange Zeit nach seiner
eigentlichen Fertigstellung in „Dienst gestellt“ werden. In Anbetracht dieser
Vorgänge scheint man jetzt von der Herstellung ähnlich schwerer Geschütze Abstand
genommen zu haben. Die Ursache der Verbiegung nach unten ergibt sich vielleicht aus
einer Betrachtung der Einrichtung dieser Geschütze. Die Rohre haben keine
Schildzapfen, sondern sind durch Bänder fest mit einem Schlitten verbunden, der
sich auf und in einem Rahmen bewegen kann. Eine hydraulische Bremse arbeitet
zwischen beiden Theilen. (Dieselbe dient auch zum Verbringen des zurückgelaufenen
Geschützes; indem Flüssigkeit unter hohem Druck in den Bremscylinder gelassen wird,
drückt sie den Kolben und damit den Schlitten vor). Der Rahmen ist vorn, dicht unter
der Scharte durch einen wagerechten Bolzen mit dem Thurme verbunden; etwas hinter
der Mitte ruht er auf dem Kopfe eines Kolbens, der in einem Cylinder durch
Flüssigkeitsdruck auf und ab bewegt werden kann. Da das Geschoss 900 k, die
Pulverladung (aus braunem prismatischen Pulver bestehend) 480 k, also mehr als halb
so schwer war, so muss der Rückstoss in einer äusserst heftigen Weise aufgetreten
sein und auf eine Drehung des Rahmens um seinen Verbindungsbolzen gewirkt haben,
indem der die Höhenrichtung vermittelnde Kolben etwas niedergedrückt worden ist.
Diese Bewegung warf die Mündung der Kanone nach oben und wird in dem Augenblicke,
als das Geschoss in dem recht dünnen vorderen Theil angekommen war, so schlagartig
heftig gewesen sein, dass letzteres durch sein Beharrungsvermögen, vielleicht auch
durch sein Gewicht ein Verbiegen nach unten verursachte. Die Wirkung eines
derartigen, nur höchstens 2½ Kaliber langen Geschosses auf die sich stark windenden
Züge würde vielleicht auch die gleichzeitig aufgetretene Seitwärtsbewegung des
Rohres erklären. Falls noch ein Schuss aus einem derartigen, wenig Vertrauen
erweckenden Rohre gewagt werden sollte, würde eine Messung der senkrechten Bewegung
vielleicht sichere Auskunft über die Ursache des Verbiegens ertheilen. Letzterem
würde vielleicht durch eine bessere Festlegung des Rahmens mehr vorgebeugt werden
als durch eine Verstärkung des Rohres. (Es darf hier vielleicht wiederholt werden,
dass die Firma Gruson bei ihrer 21
cm-Haubitzpanzerlaffete eine besondere Bremse anbringt, um die Jacke des Rohres ganz
festzulegen, wenn dessen Hintergewicht während des Rücklaufes stark nach unten
zieht).
Eine weitere Aufzählung von einzelnen Rohr Unfällen, welche den Wirkungen eines zu
heftigen, d.h. eines zu rasch brennenden Pulvers zuzuschreiben sind, hat für die
Beschaffenheit der Geschützrohre wenig Werth. Sie gehört zu einer Besprechung des
Schiesspulvers, welche augenblicklich an dieser Stelle nicht gegeben werden
kann.
Bei den Geschossen ist zunächst zu bemerken, dass die
Führung derselben im Rohre wieder eine Neuerung aufweist. Bei Einführung der
gezogenen Geschütze mussten sich die Geschosse vorn und hinten in die Züge
einschneiden; vor ungefähr 19 Jahren ging man dazu über, das Einschneiden vorn in
Wegfall zu bringen, zum Ersatz gab man aber dem cylindrischen Theile da, wo er in
die Spitze übergeht, eine solche Stärke, dass er ziemlich fest in den Feldern lag.
In der neueren Zeit scheint man auch davon abgegangen zu sein und man macht diesen
Theil nur so stark, dass er sich mit etwas Spielraum bewegen kann.
Um das Eindringen der Geschosse von Hartguss oder Stahl in Panzerplatten zu
verbessern, sind in Oesterreich Versuche gemacht worden, die Metallspitze durch eine
hölzerne zu ersetzen, welche eine gute Ueberwindung des Luftwiderstandes ermöglicht,
aber beim Auftreffen abbricht und die Kante der flach abgeschnittenen Vorderfläche
oder letztere selbst mit dem Ziele in Berührung kommen lässt.
Ein durch den kegelförmigen oder ogivalen Mantel der Spitze herbeigeführtes
Abgleiten soll dadurch verhindert werden.
In der Anfertigungsweise vieler neuer Geschosse ist eine grosse Veränderung
vorgegangen. Die Spitze wird aufgeschraubt und die innere Höhlung des cylindrischen
Theiles durch Ausdrehen hergestellt, während sie früher durch den Rohguss gebildet
wurde. Zeitungsnachrichten zufolge soll dies Ausbohren viele Arbeit erfordern, es
wird also jedenfalls die Beschaffungskosten sehr vertheuern.
Die Beweggründe für diese feststehende Thatsache sind augenblicklich noch nicht mit
Sicherheit anzugeben. Es ist aber wohl keinem Zweifel unterworfen, dass eine
ausgedrehte Geschosswand sich von der nicht ausgedrehten, roh gegossenen durch eine
grosse Gleichmässigkeit in der Dicke unterscheidet. Nach Zeitungsnachrichten haben
mehrfach Schiessversuche stattgefunden, welche bewiesen, dass die Unsymmetrie in
einer Geschosswand Einfluss auf die Treffähigkeit hat. Nach der Schweizerischen Zeitschrift für Artillerie und Genie
von 1885, S. 68 u. ff., fand ein solcher Versuch im J. 1884 statt. Danach gaben
Geschosse, deren Wandstärke an einer Seite grösser war
als anderswo, besondere Treffpunkte, besondere Streuungen, je nachdem man diese
dickere Stelle beim Laden unten, rechts, links oder oben legte. Damit ist der
Einfluss einer Unsymmetrie ballistisch zweifellos festgelegt. Auf die Art, wie die
Unsymmetrie eines Geschosses wirkt, lässt ein einfaches Experiment mit
geschossartigen, frei rotirenden Holzcylindern einen Schluss zu. Versetzt man
dieselben in Rotation um die Längsachse und lässt sie dann fallen, so behält
letztere ihre Lage scheinbar bei und zeigt keine besondere bemerkbare Bewegung.
Bringt man aber eine Bleibeschwerung in dem Mantel dieses Cylinders so an, dass er
unsymmetrisch zur Achse wird, so nimmt die Erscheinung ein anderes Aussehen an.
Bindet man z.B. ein Stück Blei vorn links fest, ein zweites hinten rechts, so
umschreibt die Achse des frei fallenden, kreiselnden Körpers einen Doppelkegel,
dessen Kegelwinkel mehr als 45° erreichen kann, je nach der Belastung und
Umdrehungsgeschwindigkeit. Die Grösse dieses Winkels ist aus den schimmernden
Umrissen zu ersehen. Wenn man aber die Bleistückchen in einer Seite (parallel der
Längsachse) so anbringt, dass sie der unsymmetrischen Geschosswandverdickung bei den
schweizerischen Versuchsgeschossen entsprechen und nun den kreiselnden Körper fallen
lässt, dann nimmt die Achse eine eigenthümliche Bewegung an, die sich von der des
unbelasteten oder des wie vorhin belasteten vollständig unterscheidet und die
Vorstellung wachruft, als ob sie einen hohlen cylindrischen Raum umschriebe. Leider
sind nur Schiessversuche bekannt geworden, deren Geschosse den letzteren (einseitig
belasteten) Holzcylindern glichen, nicht mit solchen, deren Unsymmetrie der bei den
vorletzten beschriebenen entsprach; es würde in dem Falle vielleicht eine viel
bedeutendere Beeinflussung der Flugbahn eingetreten sein.
Wenn ein Einfluss der Unsymmetrie in der Geschosswand angenommen würde, dann wäre
auch folgende auffallende Erscheinung erklärlich: als man die Wirkung einer
Geschützsalve gegen ein Panzerziel versuchen wollte, zeigte es sich, dass dies auf
1000 m unmöglich war, weil die Geschosse nicht gleichzeitig, sondern nach einander
einschlugen; auf 300 m war es möglich. Es können diese Flugbahnunterschiede nur
in der Bahn von 300 bis 1000 m entstanden sein; da alle sonstigen Verhältnisse
gleich gemacht waren (Ungleichheiten der Geschwindigkeiten würden sich sogar eher
verkleinert als vergrössert haben), so kann nur die Gewichtsvertheilung in den
Geschosswänden, welche wahrscheinlich nicht peinlich genau ermittelt war, die
Ursache der ungleichen Flugzeiten gewesen sein.
Wenn die aus den angegebenen drei Thatsachen gezogenen Schlüsse richtig sind, dann
müssten Flugzeit und Wirkung der Geschosse dadurch erheblich verbessert werden, dass
die Vertheilung ihrer Masse zur Längenachse, d.h. zu der Linie, um welche sich die
Drehung im Rohre erzeugt, symmetrisch gemacht wird. Die Anfertigung der
Treibriemenscheiben der Dampfmaschinen ist in dieser Hinsicht vielleicht auch für
die Geschosse bezeichnend. Solche Scheiben zeigen in roher Anfertigung eine
schleudernde Bewegung in den Lagern, sie „schlagen“, laufen die Lager warm
und nehmen durch ihre Reibung unnütz Kraft in Anspruch. Werden sie sorgsam
abgedreht, so mindert sich diese störende Bewegung; dieselbe wird aber erst dadurch
ganz abgestellt, dass man die Scheibe „ausbalancirt“ oder
„auswuchtet“, indem man sie in Umdrehung versetzt und durch Anbringung von
Bleipfropfen Ungleichförmigkeiten in der Massenvertheilung so ausgleicht, dass der
Schwerpunkt in die Drehungsachse gebracht wird. Diesem Vorgange entsprechend, würde
das Ausdrehen der Geschosse nur eine geringe Verbesserung bedeuten, eine wesentliche
würde aber erst ein dem „Ausbalanciren“ der Treibriemenscheiben
entsprechendes Verfahren herbeiführen können.
Die Drehung der Geschosse, welche hier soeben berührt
wurde, zählt wohl zu den dunkelsten Gebieten der Mechanik. Da die Herstellung der
Waffen und der Befestigungs- und Vertheidigungsmittel eine grosse Bedeutung für die
ganze Industrie bekommen hat, so ist vielleicht ein kurzer Ueberblick über diesen
Gegenstand wünschenswerth.
Wenn ein Langgeschoss, dessen Schwerpunkt in der vorderen Hälfte liegt, ohne Drehung
aus einer glatten Feuerwaffe geschossen wird, so macht es rasch wechselnde
Schwankungen in der Luft, welche zuerst von einer nach
oben gerichteten Bewegung der Mündung (ähnlich wie bei der englischen 110 t-Kanone)
herrühren, später jedoch von anderen Umständen, die
noch nicht genau bekannt sind, aber vielleicht in der inneren und äusseren
Unsymmetrie der Geschosskörper zu suchen sein werden. Durch Verlegung des
Schwerpunktes nach vorn werden die Schwankungen verkleinert, sie hören aber selbst
dann nicht auf, wenn derselbe im vorderen Viertel der Länge liegt, denn man kann
wohl als sicher annehmen; dass der Luftwiderstand mit wenig Druck und viel weniger
steuernd auf das Hintertheil eines Geschosses wirkt als Wasser auf das Steuer eines
Schiffes. Wenn der Schwerpunkt in der hinteren Hälfte des Geschosses liegt, findet
ein Ueberschlagen statt, aber nur dann. Die Angabe in alten Lehrbüchern, dass alle rotationslosen Geschosse sich überschlagen,
widerspricht der Wirklichkeit (vgl. 1891 280 207). Da ein
unberechenbar schwankendes Geschoss keine berechenbare Bahn haben konnte, so musste
ein Mittel, welches die Schwankungen aufhob, eine gewisse „Trefffähigkeit“
herbeiführen. Ein solches Mittel war die Kreiselbewegung (Rotation), in welche die
Geschosse
durch Windungen von Zügen im Laufe versetzt wurden. Man nahm bis vor ungefähr
25 Jahren vielfach an, dass dadurch die Geschossachse das Bestreben bekäme, sich
selbst parallel bleibend im Raume fortzufliegen, und erklärte sich das etwa in
folgender Weise: Man denke sich auf den Enden eines starken Drahtes zwei ganz
gleiche Kugeln und die Mitte des Drahtes auf einer wagerechten Achse befestigt,
deren Achslager in einer drehbaren Gabel angebracht sind, und nehme dann an, dass
die Achse in eine rasche Umdrehung versetzt sei. Bei dem Versuche, die Gabel zu
drehen, werden die Kugeln gezwungen, die alte Ebene, in welcher sie einen Kreis
beschrieben 9 zu verlassen und in einer neuen ihren
Umlauf fortzuführen. Entweder wird bei diesem Verschiebungsversuche der
Verbindungsdraht zwischen den Kugeln und der Achse sich verbiegen, oder es wird sich
ein Widerstand der letzteren bemerkbar machen (bezieh. beides eintreten). Die Achse
hat also ein Bestreben, in ihrer alten Lage zu verharren, welches von der Fliehkraft
der Kugeln, also von deren Gewicht und von der Umdrehungsgeschwindigkeit abhängt; es
besteht mithin hier eine „Stabilität der Drehachse“. Denkt man sich statt der
beiden Kugeln einen aus vielen ebenfalls ganz gleichen zusammengesetzten
Cylinderkörper, dessen geometrische Achse genau mit der Drehachse zusammenfällt, so
wird letztere eine entsprechend grössere „Stabilität“ entwickeln können.
Seiner Zeit glaubte man nun, man dürfe jedes aus einem gezogenen Rohr stammende
Geschoss mit einem derartigen homogenen Körper vergleichen, seine Achse müsse durch
die Umdrehung stabil geworden sein. Dass die Bewegung einer Geschossachse auch mit
der rüttelnden, schlagenden Bewegung einer nicht ausbalancirten Drehscheibe der
Drechsler oder Töpfer verglichen werden könne oder müsse, daran scheint man nicht
gedacht zu haben. – Die Worte „Stabilität der Drehachse“ haben eine grosse
Rolle gespielt. Vor 25 Jahren noch wurden sie als Grund für die Unmöglichkeit
gezogener Mörser angegeben; man glaubte, dass deren Geschosse, welche meist unter
einem grossen Winkel zur Wagerechten verfeuert werden, mit dem Boden zuerst auf die
Zielfläche aufschlagen müssten. (In der That zeigten auch die meisten der bei Paris
verfeuerten 21 cm-Mörsergranaten diese Erscheinung, welche eine mit ihnen
beabsichtigte zerstörende Wirkung aufhob; wirft man ferner geschossförmige
Holzkörper, nachdem man sie in eine rasche Drehung um die Längsachse versetzt hat,
durch die Luft, so scheinen diese Achsen auch die
einmal gegebene Lage festhalten zu wollen.) Indess nach fortgesetzten genaueren
Beobachtungen gewann man die Ueberzeugung, dass die Geschosse eines besseren
Geschützes sich nicht so verhielten, dass ihre Achsen sich den Flugbahntangenten
näherten („der Bahnkrümmung folgten“) und mit den Spitzen, nicht mit den
Böden auf wagerechte Ziele aufschlugen. Es wurde erkannt, dass diese Geschosslage
die beste ist, und Sorge getragen, dass sie bei allen neueren Feuerwaffen annähernd
erreicht wird. Um diese Erkenntniss mit der früheren Annahme über die „Stabilität
der Drehachse“ der Geschosse in Verbindung zu bringen, hat man Versuche
gemacht, die Abweichung der Geschossachse von der ursprünglichen Lage, ihr
„Mitgehen mit der Flugbahn“ dem Luftwiderstande oder irgend einem anderen
Umstände zuzuschreiben. Man kann aber nicht behaupten, dass diese Versuche geglückt
seien.
(Beiläufig sei bemerkt, dass in neuerer Zeit unter „Stabilität der
Geschosse“ das Beharren ihrer Achse in der Nähe der Flugbahn verstanden
wird.)
Das heutige „Wissen“ oder besser gesagt „Nichtwissen“ von der Bewegung
eines in der Luft fliegenden Geschosses wird treffend beleuchtet durch einen
kürzlich geschehenen Ausspruch in der Revue
d'Artillerie; hier heisst es ungefähr (Bd. 39 S. 278): „Die Bedingungen,
welche den Winkel zwischen Geschossachse und Tangente an die Flugbahn zu einem
kleinen machen, sind noch aufzusuchen; oder, mit anderen Worten, es müssen
Beziehungen zwischen den ‚Elementen‛ des Geschosses und seinen beiden
Geschwindigkeiten, der Vorwärtsbewegung und der Kreiselbewegung, bestehen, damit
dieser Winkel innerhalb einer gegebenen kleinen Grösse bleibt, und diese
Beziehungen sind noch zu finden.“
Ein einfaches Mittel, diesen „Beziehungen“ nahe zu kommen, würde die
Bestimmung des Neigungswinkels der Achse zur Flugbahn bei einem nicht ausgebohrten
früheren und einem ausgebohrten neueren Hohlgeschoss sein. Der des ersteren betrug
bis 7°, wenn der letztere kleiner ist, dann spielt unbedingt die Unsymmetrie der
Geschosswand eine Rolle.
(Schluss folgt.)