Titel: | Bemerkungen über neue Kriegswaffen. |
Fundstelle: | Band 291, Jahrgang 1894, S. 26 |
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Bemerkungen über neue
Kriegswaffen.
(Fortsetzung des Berichtes S. 1 d.
Bd.)
Mit Abbildungen.
Bemerkungen über neue Kriegswaffen.
Feldartillerie.
Beibehaltung des bisherigen
Feldartilleriematerials unter Ausführung kleiner Veränderungen.
Vor einigen Jahren entstand eine starke schriftstellerische Bewegung für eine
durchgreifende Aenderung der bestehenden Feldgeschütze. Schnellfeuerkanonen mit
gesteigerter Geschossgeschwindigkeit sollten eingeführt werden unter
vollständiger Veränderung von Rohr, Laffete und Munition. Die meisten
Geschützfabriken construirten und fabricirten Versuchsgeschütze, welche den
schriftstellerischen Wünschen zum Theil entsprachen. Bis jetzt hat aber die
Bewegung nur massigen Erfolg gehabt. Nur England scheint sich bewogen gefühlt zu
haben, für einen Theil seiner kleinen europäischen Truppe ein neues System
anzunehmen, indem es Feldgeschütze von dem bisher ungewohnt kleinen Kaliber von
6,6 cm mit einer Laffete einführte, deren Obertheil sich während des Schusses
auf dem Untertheil zurück und wieder vorbewegt. In Oesterreich scheint eine
gründliche Aenderung durch Einführung eines Kalibers von 7,5 cm (statt des
bisherigen von 8,7 cm) noch nicht endgültig abgelehnt worden zu sein. Die
Schweiz hat einen Wettbewerb ausgeschrieben, „dessen Bedingungen auf ein
Schnellfeuergeschütz der fortgeschrittensten Art hindeuten.“ Die übrigen
Mächte scheinen ihre Systeme beibehalten zu wollen unter Ausführung von
Abänderungen, welche das Material beträchtlich verbessern, aber auch gestatten,
dass das bisherige noch verwerthet werden kann. v.
Loebell's Jahresberichte über die Fortschritte im Heereswesen, welche
im vorigen Jahre einige ausgezeichnete Abhandlungen enthalten, deuten derartige
Veränderungen in der deutschen Feldartillerie an, welche von allgemeinerem
Interesse sein werden:
Es ist ein neues Rohr, das Feldgeschützrohr C. 73/91, eingeführt worden, dessen
Stahl eine besondere Zähigkeit und Festigkeit
hat; es soll im Uebrigen aber nur kleine Abweichungen von dem früheren
Rohre (C. 73) zeigen. Die Laffeten wurden mit einer Drahtseilbremse
ausgestattet, welche das Anziehen der Bremshebel beim Rücklauf und beim
Bergabfahren allmählich und selbsthätig bewirkt, das Vorbringen des Geschützes
beim Schiessen aber nicht behindert (vgl. 1891 281
150). Die Munition ist durch eine besondere „Sprenggranate“ vermehrt
worden, die anderen Geschosse wurden mit kleinen Abänderungen beibehalten.
Treibmittel ist rauchschwaches Blättchenpulver, und zwar beträgt die Ladung 0,64
k, welche dem Geschosse eine ähnliche Geschwindigkeit gibt, wie es 1,5 k des
früheren „grobkörnigen“ Schwarzpulvers gethan haben würde; es
betragen die Mündungsgeschwindigkeiten für alle Granaten 442 m, für die
(schwereren) Shrapnels 419 m. Die sonstigen zahlreichen Veränderungen, besonders
die an den Fahrzeugen, sind nur von besonderem Interesse für den Artilleristen.
– Die Beibehaltung der vor 21 Jahren geschaffenen Construction dürfte als ein
sehr günstiges Zeugniss für die Arbeiten der damaligen
Artillerieprüfungscommission zu betrachten sein. Das damals eingeführte Material
war ein ganz neuartiges. Als Rohre wurden die aus mehreren Theilen
zusammengefügten Mantelrohre eingeführt, welche mittels eines recht gut
bestimmten Pulvers die Geschwindigkeit der Geschosse um ⅓ vermehrte; die meisten
Holztheile der Laffeten und Fahrzeuge wurden durch Stahlblech oder Eisen
ersetzt; eine ganz neue Verpackungsweise wurde eingeführt, welche es einem Manne
möglich macht, mit einem Griffe fünf Schüsse gleichzeitig zu entnehmen oder
einzuladen; die Verbindung von Vorder- und Hinterfahrzeug durch Anbringung eines
Hakens weit hinter der Protzachse und einer Oese im Laffetenschwanz hatten
damals schon den deutschen Feldgeschützen eine Fähigkeit gegeben, Unebenheiten
des Bodens zu überwinden und Wendungen auszuführen, welche kein anderes
Feldgeschütz besitzt.
Die Beibehaltung der alten Geschossgeschwindigkeiten bei Einführung des
rauchschwachen Pulvers und der heftig explodirenden Sprenggranate bedarf einer
besonderen Erwähnung. Vielleicht ist es gerade dadurch möglich geworden, die
Sprenggranate ohne Gefahr gebrauchen zu können. Es ist durchaus nicht
unwahrscheinlich, dass vielleicht schon bei 600 m Anfangsgeschwindigkeit das
Vorkommen von „Rohrkrepirern“ eine bedenklich hohe Zahl erreicht haben
würde, die bei 800 m Anfangsgeschwindigkeit aber so hoch gestiegen wäre, dass
der Gebrauch von Sprenggranaten nicht mehr möglich gewesen wäre; es würde also
zur Zeit die Einführung eines Feldgeschützes mit grosser Anfangsgeschwindigkeit
die Verbesserung der Geschosswirkung durch Verwendung der Sprenggranate
verhindert haben. Von dem jetzigen Zustande ausgehend, finden sich vielleicht
nach und nach die Mittel, wodurch die Sprenggranaten auch bei grossen
Geschwindigkeiten gebrauchsfähig gemacht werden.
Neue Einrichtung zur Regelung des
Rücklaufes und des Vorlaufes eines Feldgeschützes.
Es scheint, als ob der erwähnte schriftstellerische Aenderungsvorschlag, die
Feldlaffete in eine untere und obere zu theilen, etwas voreilig gewesen wäre.
Nach neueren Nachrichten scheint man in Frankreich für denselben Zweck eine
besondere Einrichtung versucht zu haben, wodurch es gelingt, dass das Geschütz
nach dem Schuss die Stellung wieder einnimmt, welche es vor demselben gehabt
hat, und zwar scheint dies keine Schwächung der Laffete verursacht zu
haben. Es scheint unter den Laffetenschwanz ein spaten- oder pflugscharartiges
Eisen angebracht zu sein, welches sich beim Rückstoss des ersten Schusses fest
in den Boden einbohrt. Durch hydraulische Bremsen und durch Federn ist die
Laffete so mit diesem Eisenstücke verbunden, dass sie nach jedem Schusse in die
Ausgangsstellung zurückkehrt. Falls dem richtenden Kanonier eine kleine
seitliche Bewegung des Laffetenschwanzes gegen den festen Stützpunkt ermöglicht
ist, dürfte diese Erfindung einen wesentlichen Punkt bei einer
Feldschnellfeuerkanone getroffen haben. Im November 1893 hat Armstrong (England) ähnliche Geschütze (mit
„verankerter Laffete“) einem geladenen Publikum vorgeführt. Von einem
derartigen Geschütz mit Schnelladeverschluss und Munition in Hülsen mit Zündung
im Boden würde sich nach den Mittheilungen über Gegenst.
des Art.- u. Gen.-Wesens, 1893 Heft 8, eine beträchtliche Steigerurig
der Wirkung erzielen lassen; so wird es z.B. möglich, mit einem solchen Geschütz
allein das Einschiessen durchzuführen, wozu bis
jetzt die sämmtlichen (sechs) Batteriegeschütze
gebraucht wurden; nach dem Einschiessen des einen Geschützes würden dann die
anderen erst auftreten und sofort den Feind mit Schnellfeuer überschütten
können.
Abschaffung des Keilverschlusses
bei der Feldartillerie in Russland.
Im Juli 1892 wurde in Russland bestimmt, dass bei neuen Feldgeschützröhren
Schraubenverschlüsse angebracht werden sollten; am 16./28. October 1893 wurde
ein Gleiches für die reitende Artillerie befohlen. Es wurde gleichzeitig
verbreitet, dass das Rohr mit Schraubenverschluss gegen das bisherige um 16 k
erleichtert und um 2,2 cm verkürzt werden konnte, trotzdem der Ladungsraum und
der gezogene Theil beinahe 10 cm länger wurden, und zwar alles deshalb, weil
beim Keilverschluss der Abstand der Vorderfläche vom hinteren Rande des Rohres
viel grösser ist, als bei dem. Schraubenverschluss. Die Thatsache ist richtig,
sie hat aber nichts bei einem Feldgeschütze mit bisheriger Feuergeschwindigkeit
zu besagen. Der eigentliche Grund, weshalb die russische Regierung den
Keilverschluss nicht mehr anfertigen liess, scheint theil weise politischer
Natur zu sein. Die Keilverschlüsse mit ihrer eigenthümlichen Dichtung können nur
in Deutschland (bei Krupp) angefertigt werden,
andere Länder (z.B. Frankreich) sind nachweislich nicht im Stande gewesen, einen
solchen Verschluss mit guter Dichtung (für Pulverladungen in Beuteln)
herzustellen. Wenn also Russland bei Errichtung neuer Batterien oder beim Ersatz
unbrauchbarer Geschützrohre von Deutschland frei sein wollte, so musste es den
Keilverschluss verlassen.
Mannesmann-Rohr- oder
Eschenholz-Deichseln?
In den Mittheilungen über Gegenst. des Art.- u.
Gen.-Wesens, 1893 Heft 2 S. 113, ist ein Versuch beschrieben, der das
beste Material für Deichseln ermitteln sollte. Dabei hat sich herausgestellt,
dass die nach dem Walzverfahren von Mannesmann
dargestellten eisernen Röhrendeichseln eine zu geringe Elasticität, ein zu
grosses Gewicht und einen zu hohen Kostenpreis gegen andere hatten. Als bestes
Material, besser noch als Hickoryholz, erwies sich Eschenholz, welches vorn mit
besonderen, nicht eingelassenen Beschlägen versehen war.
Belagerungs- und Festungsartillerie.
Neuerungen in
Deutschland.
Die Belagerungs- und Festungsartillerie hat in Deutschland in den letzten Jahren
manche Abänderungen erfahren, welche sich aus neuerdings veröffentlichten Sondervorschriften für die Fussartillerie (mit
Zeichnungen) ergeben. Die wesentlichsten Neuerungen an Rohren und Laffeten sind
folgende:
Es sind zwei ganz neue Geschütze eingeführt worden, ein schweres, weittragendes
Geschütz für Belagerungen, genannt: lange 15 cm-Kanone, für Belagerungen und für
den Feldkrieg ein „langer 15 cm-Mörser“. Ausserdem ist ein älteres
Geschützrohr, welches früher zum Einschiessen von Erd- oder Mauerwerk bestimmt
war, in ein Rohr für Panzerthürme verwandelt worden (die 21
cm-Thurmhaubitze).
Die neue Laffete für die genannte neue Belagerungskanone ist mit einer
Schussbremse versehen worden (eine ähnliche ist 1891 281 150 dargestellt) und die Laffete des älteren 15 cm-Geschützes,
welches ähnlichen Zwecken dienen kann, ebenfalls.
Es sind ausserdem einige neue Laffeten eingeführt worden, deren Beschreibung hier
wohl zu weit führen würde.
Eine durchgreifende Aenderung zeigen die neuen Geschütze; sie besteht in einer
grossen Steigerung der Steilheit der Zugwindungen, „stärkerem Drall“. Die
lange 15 cm-Kanone gibt ihren Geschossen eine Windung auf einer Länge von 25,5
Durchmesser. Von Geschossen der beiden genannten Mörser wird sogar eine Windung
auf einer Länge von nur 17,8 Durchmesser vollzogen. Um die Anstrengung der Rohre
zur Erzeugung einer solchen Drehung zu mildern, beginnen die Windungen schwach
und nehmen dann stark zu (Progressiv-Drall); bei der langen Kanone sind sie auf
einer kurzen Strecke vor der Mündung gleichförmig.
Eine durchgreifende Neuerung, welche sich auch auf ältere Geschützrohre
erstreckt, ist die Einführung eines besonderen Futterrohres von Stahl
(Stahlseele); vielleicht ist zur Erreichung desselben Zweckes bei der neuen
langen 15 cm-Kanone, welche als „Mantelringkanone“ aus mehreren Stücken
zusammengesetzt ist, der vordere Theil des Kernrohres mit Ringen umzogen worden
(bei den entsprechenden früheren Rohren war das nicht der Fall).
Futterrohre (Stahlseelen, lining
tubes).
Das Einziehen eines besonderen Rohres in das Innere des Geschützrohres wird
zunächst für diejenigen Staaten besonders wichtig, welche Pulversorten haben,
die starke Rohrzerfressungen (Erosionen) verursachen. So wird aus der Schweiz
berichtet, dass das dortige rauchlose Pulver die Bronzerohre stark zerfrisst;
Nobel in England deutet an, dass das
Cordite-Pulver zerfressend wirke, allerdings weniger als das in Italien
gebrauchte Ballistit, und zwar deshalb, weil es weniger Hitze entwickele. Er
vergleicht die Zerfressungen des gewöhnlichen (früheren) Pulvers mit Furchen in
einem roh gepflügten Acker, die des Cordite mit einer ziemlich glatt
weggeschwemmten Ackeroberfläche. Wenn solche Rohrbeschädigungen, die
wahrscheinlich mit einer Zunahme der Anfangsgeschwindigkeiten noch beträchtlich
häufiger auftreten, in einem der bisherigen Rohre erscheinen, so setzen sie bald
das Geschütz ausser Gefecht; kommen die Zerfressungen aber in dem Futterrohre eines
Geschützes vor, so werden sie durch Einsetzen eines neuen unschädlich gemacht
und das Geschützrohr arbeitet weiter. – Die Futterrohre werden das Platzen
(Krepiren) von Geschossen im Rohre weniger gefährlich machen, denn ein hier etwa
erzeugter Riss überträgt sich nicht von selber in das Aussenrohr, sondern dort
muss ein neues „Anreissen“ stattfinden, welches eine besondere Kraft
erfordert. – Endlich können die Futterrohre als ein besonderes
Verstärkungsmittel der Geschützrohre angesehen werden, wenn sie in dieselben
ohne Spielraum, unter Zusammenpressung eingetrieben worden sind. Sie sind dann
künstlich zusammengedrückt und werden beim Schusse erst angestrengt, wenn die
ganze Rohrwand so aus einander gedrückt ist,
dass sie ihren früheren Umfang einnehmen konnten; von diesem Theile der
Pulverkraft wird also gewissermaassen das Futterrohr durch das äussere Rohr
entlastet.
Textabbildung Bd. 291, S. 27Fig. 2.Geschützrohre künstlicher Metallconstruction.a) Ringkanone aus dem Jahre
1394; b) Feldkanone Gustav Adolfs; c) Französische Feldkanone von 1877
(4 Ringe [frettes] durchschnitten); d) Schema der Stahl- oder
Hartbronzerohre; e) Schema der Ring- bezieh. Mantelrohre; f) Longridge's
Drahtkanone; g) Brown's Segment und Drahtkanone (segmental wirewound
gun) Das Einziehen von Futterrohren (lining tubes) scheint schon in
verschiedenen Staaten angewandt worden zu sein.
Künstliche Metallconstruction der
Geschützrohre.
Ein wie vorhin beschriebenes „Rohr mit Stahlseele“ gehört zu den
„Geschützröhren mit künstlicher Metallconstruction“. Unter diesem
Namen fasst man in Deutschland alle Geschützconstructionen zusammen, welche beim
Entwürfe oder bei der Herstellung eine besondere Widerstandsfähigkeit gegen die
Wirkung des Schusses bekommen haben. Mit Rücksicht auf Erscheinungen der
neuesten Zeit dürfte es vielleicht von Interesse sein, einen kurzen Ueberblick
über die Geschichte dieser „künstlichen Metallconstruction“ zu werfen,
und es wird sich vielleicht gerade aus einer Betrachtung recht alter Geschütze
leicht ein Urtheil über die allerneuesten gewinnen lassen.
Ringrohr von 1394.
Die ersten Geschütze dieser Art waren zum Theil durch die Ungeschicklichkeit der
Metallarbeiter im Giessen grosser Stücke veranlasst. Es wurden deshalb
Eisenstangen um eine Welle (Dorn) fest neben einander gelegt und dann Ringe
aufgezogen, meist auf die Fugen zwischen diesen nochmals Ringe aufgetrieben. Die
hintere Oeffnung wurde durch ein hohles Eisenstück, welches die Pulverladung
aufnahm, „Kammer“ genannt wurde und ein Zündloch hatte, verschlossen (bei
anderen Geschützen kam statt der „Kammer“ auch wohl ein massives
Eisenstück vor). Das Rohr war mit Bändern auf zwei hölzernen Rippen befestigt
und die Kammer durch Keile, welche sich gegen einen Ansatz auf den Enden dieser
Rippen legten, festgehalten (Fig. 2a). Die
„Kammer“ (d.h. der Verschluss) nahm die Festigkeit des übrigen Rohres
gar nicht in Anspruch, sie strengte nur die eigenthümliche Laffete an.
Bei dieser Construction hatte die durch Längsstäbe gebildete Innenwand fast gar
keinen Widerstand gegen den Druck der Gase nach aussen auszuhalten, dieser Druck
ging fast ganz gegen die umgelegten Ringe. Bei guter Arbeit müssen diese
Geschütze viel grössere Leistungen als gegossene Vorderlader gehabt haben. – Bei
anderen dieser „Ringgeschütze“, welche mit Schildzapfen versehen waren,
gab die Lage in der „Laffete“ keinen Schutz gegen Verbiegung; die
äussersten Ringe sind hier breiter und unterstützen so die Aufgabe der Stäbe der
Innenwand, das Rohr gerade zu halten.
Ein Feldgeschützrohr Gustav
Adolf's (Fig. 2b).
Um sehr leichte Feldgeschütze zu bekommen, liess König Gustav Adolf von Schweden im J. 1626 durch den Obersten Warmbrand Geschütze construiren, deren Innenwand
aus einem hinten verschlossenen Kupferrohr bestand; um dasselbe war ein
Lederstück gelegt, darum Schnur (nach unseren Begriffen eine Waschleine)
gewickelt, und zwar in mehreren Lagen über einander. Auf diese Umwickelung
wurden Längsstangen (parallel der Rohrachse) gelegt, um diese wieder einige
Lagen Schnur gewickelt und hierum ein Leder befestigt; welches mit einem
besonderen Mastixlack bestrichen wurde. Am Kopfe und am Boden des Geschützrohres
befinden sich Holzscheiben zur Begrenzung der Umwickelung, dieselben stehen mit
den Enden des Kupferrohres in Verbindung; aus dem Rohrkörper treten noch zwei
Vorstände, aus einer Gypsmasse bestehend, hervor, welche mit Messingband
zusammengehalten werden. Möglicher Weise dienten diese Vorstände zum Schütze der
Umwickelung und auch dazu, die Verschiebung der Umwickelung in der Längsrichtung
zu erschweren; zu letzterem Zwecke werden auch die tiefen Ausfeilungen gedient
haben, welche in einem Paar der Längsstangen so angebracht sind, dass eine
eingelegte Schnur fest liegen bleiben muss. Die Bewegung in der Längsrichtung
wurde wahrscheinlich durch die Einwirkung des Rückstosses auf das
Schildzapfenband (mit Namenszug), welches in die äussersten Schichten der
Umwickelung gelagert ist, hervorgerufen. (Die Anbringung des Zündloches war ohne weiteres
nicht zu ermitteln, die Andeutung der Zeichnung ist nach einer Muthmaassung
gemacht; in anderen noch vorhandenen schwedischen Geschützen ist ein Zündloch
angebracht, welches von oben bis zum Innern des Rohres geht.)
Die Umwickelung hat unbedingt die Aufgabe gehabt, das schwache Kupferrohr (die
„Kupferseele“) gegen den Druck der Pulvergase nach aussen zu
verstärken, demselben eine feste Lage zu geben und sein Platzen ungefährlich zu
machen. Die Längsstäbe (Schienen) hatten dieselbe Zwecke zu erfüllen, aber
ausserdem werden sie das ganze Rohr gerade gehalten und vor einem Verbiegen
bewahrt haben.
Diese für die damalige Zeit höchst sinnreiche Geschützconstruction ist heutzutage
fast gar nicht bekannt. Sie wird in Geschichtsbüchern und sogar in Lehrbüchern
über alte Waffen mit den Worten „Leder-Kanone“ abgefertigt, trotzdem
vielleicht das Leder eine sehr nebensächliche Rolle bei der ganzen Construction
gespielt hat. Die Geschütze wurden nicht lange beibehalten; in der Schlacht bei
Breitenfeld 1631 sollen sie „zu warm“ geworden sein und wurden deshalb
abgeschafft. (Die leichte Zerstörbarkeit der Umwickelung mit einem scharfen
Gegenstande, vielleicht auch das Abbröckeln der Gypszwischenwände, die sehr
wenig feste Lage der Schildzapfen, das Lockerwerden der Umwickelung und die
angewandte schwache Ladung mit ihrer schwachen Wirkung werden wohl die
Hauptgründe des Abschaffens gewesen sein.)
Aus einem Stücke bestehende (Massiv-) Rohre beherrschten nunmehr länger als zwei
Jahrhunderte die ganze Geschützfabrikation. Die Construction dieser Massivrohre
hatte den Nachtheil, dass sie die Metallschichten der Bohrung ungeheuer, meist
bis zum Reissen beanspruchte, während die Widerstandskraft der äussersten
Schichten gar nicht ausgenutzt wurde.
Ring- und
Mantelconstruction.
Ein altes Geschütz im Tower in London scheint Armstrong vor einigen Jahrzehnten zur künstlichen Metallconstruction
zurückgebracht zu haben. Es wurden dann nach und nach auch von anderen
Fabrikanten Ring- und Mantelconstructionen für Geschützrohre mit grossen
Geschwindigkeiten aufgestellt, theilweise unter Benutzung der Untersuchungen von
Lame, Rodman, Birnie, Kalakoutsky und anderer
Techniker und Officiere. Im französischen Feldgeschützrohr (Fig. 2c) ist die Ringconstruction dargestellt.
Ring- und Mantelconstruction unterscheiden sich wesentlich dadurch, dass bei
ersterer das sogen. Kernrohr den Verschluss aufnimmt, welcher bei letzterer in
einem besonderen, Mantel genannten Ringe sitzt. (1893 288 4 wurde letztere Construction bei den amerikanischen Feldrohren
näher besprochen und angedeutet, welche Vortheile sie für den Widerstand gegen
die in der Längenrichtung wirkenden Kräfte bietet.) Der Hauptzweck der Ring- und
Mantelconstruction war, die Widerstandsfähigkeit des Rohres gegen die von innen
nach aussen wirkenden Pulvergase zu vergrössern. Um dies zu erreichen, erhitzte
man einen Ring, dessen innerer Durchmesser kleiner als der äussere eines
Kernrohres war, und schob ihn dann, nachdem er sich genügend ausgedehnt hatte,
auf das Kernrohr. Beim Erkalten schrumpfte der Ring ein und presste gleichzeitig
das Kernrohr so zusammen, dass es im Ruhezustande eine nach innen gerichtete
Spannung besass (Initialspannung), Fig. 2e.
Beim Schuss wird ein Theil der Kraftäusserung der Pulvergase verbraucht, um die
natürliche Ausdehnung des Kernrohres wieder herzustellen, indem gleichzeitig der
aufgezogene Ring aufgeweitet wird; dann erst wird der Rest der Kraft frei, um
das Kernrohr und diesen Ring aus einander zu drücken. Während bei einem alten
Massivrohr nur die Innenwand von der vollen Pulverkraft auf Auseinanderdrücken
in Anspruch genommen wurde, wird sie bei der Ringconstruction nur sehr wenig
angestrengt, dafür soll aber die Widerstandsfähigkeit der aufgeschobenen Ringe
stark beansprucht werden.
Stahl- oder Hartbronze (veredelte
Bronze).
Hauptsächlich um das frühere Geschützmaterial: Bronze, zu verwerthen, ist
vielfach die sogen. Stahl- oder Hartbronze eingeführt worden, trotzdem es
bekannt war, dass ihre Constructionen niemals die Ring- und Mantelrohre aus
Stahl oder geeignetem Eisen ersetzen konnten. Aus dem Fig. 2d dargestellten Schema geht hervor, dass die äussere Schicht
durch Zusammenziehen einen Druck auf die Mittelschicht ausübt. Durch Schalenguss
und rasches Abkühlen sollte das erreicht werden. Das Innere der Rohrwand ist
durch Pressung verdichtet und soll dadurch eine höhere Festigkeit bekommen
haben. Die Einschaltung der Stahlbronze geschah hier nur, weil sie immerhin als
ein besonderes Glied der künstlichen Metallconstruction betrachtet werden kann
und weil sie für Geschütze mit kleinen Anfangsgeschwindigkeiten noch lange eine
Rolle spielen wird.
Drahtkanone von
Longridge.
Als Fortsetzung der Ring- und Mantelconstruction und als ein vielleicht
unbewusstes Zurückgreifen auf eine Feldkanone Gustav
Adolf's ist die Drahtkanone Longridge's
anzusehen (Querschnitt Fig. 2f; Bd. 281 S. 153
stellt eine Ansicht dar). Alle Ringe oder einen Theil der Ringe ersetzt Longridge durch eine mit hoher Spannung ausgeführte
Umwickelung des Kernrohres mit einem Drahte; die Umwickelung ist viele Lagen
stark und diese Stärke nimmt von hinten nach vorn ab. Die Drahtenden sind
natürlich sorgsam befestigt. Longridge glaubt, dass
durch die Drahtumwickelung die Widerstandsfähigkeit des Rohres gegen einen Druck
von innen nach aussen bedeutend grösser als bei den Ringkanonen wird. Um die
äusserste Schicht befindet sich ein hohler Raum, welcher von einem Mantel
umschlossen wird. (Die genaue Construction dieses Mantels, der den Verschluss
enthält und die Schildzapfen trägt, sowie besondere Geschützconstructionen
können hier nicht besprochen werden.) – Die Hoffnungen, welche an diese
Drahtkanone geknüpft wurden, scheinen sich doch nicht ganz verwirklicht zu
haben. In Deutschland hatte Longridge schon vor
vielen Jahren ein Patent genommen, es verfallen lassen, dann wieder ein neues
genommen, was schon mehrere Jahre besteht; von einer Bestellung hat man hier
noch nichts gehört. In England sollen Rohre bestellt worden sein, aber Sicheres
weiss man auch nicht. Vielleicht hat die Construction auch ihre schwachen
Seiten. Dass sie sehr widerstandsfähig ist gegen Druck von innen nach aussen,
ist wohl sicher; die Widerstandsfähigkeit gegen Verbiegen ist aber sehr gering;
sie beruht fast nur im Kernrohre, das nur bei geringer Dicke den ganzen Nutzen
der künstlichen Metallconstruction hervortreten lässt; wenn die Drahtumwickelung
sich bis zur Mündung erstreckt, so wird die recht grosse Last des Drahtes das
Verbiegen befördern, falls der Rücklauf nicht in der Richtung der Rohrachse
erfolgt. In England ist man übrigens etwas empfindlich in Bezug auf
Rohrverbiegungen wegen der bitteren Erfahrungen mit den 110 t-Armstrong-Kanonen.
– Da die Drahtumwickelung ohne Schutzmantel gar nicht zu denken ist, weil sie
sehr leicht verletzlich ist, so scheint das Gewicht der Rohre nicht gerade klein
zu sein. Man würde diese Rohre mit dem Feldrohr Gustav
Adolf's vergleichen können, wenn diese Construction nicht die
Ueberlegenheit einer grösseren Festigkeit durch die Längsstangen gezeigt
hätte.
Brown's umwickelte Stabkanone
(segmental wire-wound gun).
Bei dieser Construction ist das Verbiegen dadurch verhindert, dass die
Drahtumwickelung um Stäbe (Barren) aus Chromstahl ausgeführt ist, welche im
Querschnitt einen in Segmente zerschnittenen Kreis bilden („segmental
tube“). Das Bestreben der Stäbe, beim Schusse aus einander zu gehen,
wird durch die Drahtumwickelung gehemmt („Uebertragung des Druckes der
Pulvergase auf die Aussenschicht“). Die Längsstangen der Kanone Gustav Adolf's und die der alten Kanone von 1394
haben hier also ihre Wiederholung (Fig. 2g).
Die Stäbe sind sehr sorgfältig hergestellt; da angenommen wird, dass ihr
Material, Tiegelchromstahl, in diesen kleinen Massen gleichmässiger als in einer
einzigen grossen hergestellt werden kann, so soll deshalb schon das Rohr
widerstandsfähiger als irgend ein anderes werden. Die zwölf zusammengelegten,
5,5 m langen Stäbe bilden ein äusserlich kegelförmiges Rohr, auf dessen hinterem
Ende wahrscheinlich ein Schraubengewinde zur Aufnahme eines Mantels
eingeschnitten ist. Um das Rohr wird ein quadratischer Draht von 1,7 mm Dicke
mit einer beständigen Spannung gewickelt, und zwar kommen auf den Hintertheil 33
Lagen über einander, an der Mündung nur 10 (die Verminderung ist auf die Länge
gleichmässig vertheilt). Wie der Mantel beschaffen ist, der auf den Hintertheil
des Stabrohres geschraubt wird, wie die Schildzapfen an ihm befestigt sind, wie
fest er auf den Drahtwindungen liegt, wie der Verschluss in demselben angebracht
ist und wie eine besondere Schutzkappe für die Drahtumwickelung des
Vordertheiles des Rohres beschaffen ist, kann leider nicht genau angegeben
werden. – In das Innere des Rohres wird ein schwach kegelförmiges Futterrohr von
hinten so eingesetzt, dass seine natürliche Grösse um 1 Proc. zusammengedrückt
wird.
Es beträgt:
die Länge des Rohres
5,8
m (= 44 Kaliber)
der Bohrungsdurchmesser
12,7
cm
das Gewicht des Rohres
3556
k
(das Gewicht des Drahtes allein
1600
k).
Die beschriebene Brown'sche 12,7 cm-Kanone wurde im
Laufe des Jahres 1892 auf dem nordamerikanischen Schiessplatze Sandy Hook
versucht. Es wurden zuerst Schüsse mit schwachen, dann mit immer stärker
werdenden Ladungen verfeuert. Am 2. November 1893 wurde mit Geschossen von 30 k
die ungeheure Anfangsgeschwindigkeit von 953 m (3130 Fuss) erreicht. Mit einer
44 Kaliber langen Kanone ist das ein unerhörtes Ergebniss. Canet, die französische Regierung, Armstrong hatten bis jetzt Geschützrohre von 80 bis
100 Kaliber Länge verwandt, um ähnliche Anfangsgeschwindigkeiten zu erreichen.
Eine Rechnung legt noch besser den Werth des Geschützrohres dar: für 1 t
(engl.) des Rohrgewichtes beträgt die lebendige Kraft des Geschosses 1016
Fusstonnen. 498 Fusstonnen ist dieselbe Zahl für das Krupp'sche Riesengeschütz in Chicago, 492 Fusstonnen für die
schwersten englischen (110 t-) Geschütze. Diese Leistung ist durchaus keine
endgültige, nicht mehr steigerungsfähige, sondern nur eine Anfangsleistung, denn
das Rohr ist das erste gebaute und erst wenige Schüsse sind abgegeben
worden.
Es liegt die Wahrscheinlichkeit vor, dass diese Geschützconstruction eine
gewaltige Umwälzung hervorruft, z.B. in der Belagerungsartillerie; da das Rohr
nur 200 k schwerer als die schwerste deutsche Belagerungskanone ist, so dürfte
seine Verwendung zu Belagerungen möglich sein. Geschieht dies, dann werden
sofort die Panzerthürme der belgischen Maasbefestigung und die mancher anderer
Festungswerke werthlos, wenn sie nicht umgebaut werden. – Die Durchschlagskraft
dieser Geschütze gegen Schiffspanzer wird die ganze Ueberlegenheit des Panzers,
welche die Einführung der gehärteten Nickelstahlplatten herbeigeführt hatte, in
Frage stellen. Während in den letzten zwei Jahren der Panzer die Oberhand zu
haben schien, kommt jetzt vielleicht eine Zeit der Uebermacht der Geschütze.
Der Erfolg der Principien der künstlichen Metallconstruction: fast vollständige
Uebertragung des Druckes der Pulvergase von innen nach aussen auf den
Umwickelungsdraht, Lenkung der Arbeit in der Längsrichtung auf den aus
Chromstahlstäben bestehenden Rohrtheil, ist deshalb ganz auszunutzen, weil die
Stäbe beliebig dick gemacht werden können, um das Geschütz gegen Verbiegen zu
schützen, ohne dass sie die Uebertragung des Druckes nach aussen hindern. Es
muss aber doch bemerkt werden, dass der erste Entwurf der Kanone, wie er im Engineer vom 11. November 1892 S. 409 enthalten
war, recht erhebliche Fehler aufwies. So z.B. war dort gesagt: Es kann ein
Futterrohr genommen werden oder nicht. Kein Futterrohr zu nehmen, würde sehr
fehlerhaft gewesen sein, weil dieses vielen Nutzen gewährt (wie oben erläutert).
Es würde aber auch aus einem ganz besonderen Grunde unrichtig gewesen sein.
Wären die Züge unmittelbar in die Innenseite der Chromstahlstangen
eingeschnitten gewesen, so hätten die Geschosse bei einer starken Windung das
ganze Segmentrohr sehr auf Torsionsfestigkeit in Anspruch genommen und
vielleicht die Mündung in eine gewisse Drehung versetzt, die der Rotation der
Geschosse geschadet haben würde. Bei einem eingesetzten Futterrohre ist diese
„Torsion“ des Chromstahlstabrohres wohl ausgeschlossen. (Vielleicht
gibt folgendes Beispiel eine kleine Erläuterung: Die Verbindungsstränge der
Flossbalkenenden haben ihre grosse Torsionsfähigkeit dadurch erlangt, dass die
seitlichen Verbindungen vieler Fasergruppen unterbrochen worden sind; vor dieser
Unterbrechung war ein Drehen des Holzstockes nur schwer möglich. Diesen
Verbindungssträngen mit unterbrochener Faserverbindung entspricht das
Chromstahlstabrohr, wenn kein Futterrohr eingesetzt ist.) Im Uebrigen würden bei
einem fehlenden Futterrohr vielleicht auch Pulvergase in die Zwischenräume
zwischen die Stäbe gerathen, wenn durch den Druck der Gase von innen nach aussen
auch nur eine kleine Auseinanderschiebung der Stangen stattfinden sollte. Auf
die Dauer würde sich das wohl unvortheilhaft bemerkbar machen.
(Fortsetzung folgt.)