Titel: | Die grösste Lokomotive der Welt. |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 209 |
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Die grösste Lokomotive der Welt.
Die grösste Lokomotive der Welt.
Obwohl in den Vereinigten Staaten von Nordamerika im Verlauf der letzten 10 Jahre oft Lokomotiven gebaut worden sind, welche
als „grösste der Welt“ von sich reden machten, ein Titel, welcher von einer ganzen Anzahl von Riesenlokomotiven beansprucht werden könnte, und obwohl
die gegen Ende des eisernen Jahrhunderts in Amerika entstandenen Typen alles, wenigstens in der alten Welt übliche, hinsichtlich
ihrer Grösse und absoluten Leistungsfähigkeit weit hinter sich gelassen haben, so ist in dem rastlosen Vorwärtsstreben des
Lokomotivbaues noch kein Stillstand eingetreten, sondern ungeachtet der drohenden Konkurrenz der Elektrotechnik wird die eingeschlagene
Richtung weiter verfolgt; aus der Entwickelung des amerikanischen Lokomotivbaues lässt sich wohl darauf schliessen, dass dieser den Kampf mit dem jungen Konkurrenten am längsten und erfolgreichsten
wird aufnehmen können.
Im September 1899 ist in den Brook's Lokomotivwerken, Dunkirk, Nordamerika, für die Illinois Zentralbahn eine Güterzuglokomotive schwerster Gattung gebaut worden, welche vorläufigmit Recht als „grösste der Welt“ gelten darf. Diese Maschine übertrifft sogar noch die 5- und 6achsigen Riesen, welche bisher Aufsehen erregt haben.
Ueber die Abmessungen der Maschine berichtet die englische Zeitschrift Locomotive magazine, 1899 S. 192. Die Gesamtanordnung kann aus nachstehender Skizze ersehen werden.
Textabbildung Bd. 315, S. 209
Wie die Skizze zeigt, ist die Maschine 4/6 gekuppelt, die zwei Vorderachsen sind zu einem Drehgestell vereinigt, die übrigen vier sind gekuppelte Triebachsen; es ist
dies eine neuerdings bei Lokomotiven von grosser Leistungsfähigkeit in Amerika oft angewandte Bauart. Merkwürdigerweise ist
das Verbundsystem nicht in Anwendung gekommen, wie es sich überhaupt jenseits des Ozeans schwer Eingang zu verschaffen scheint;
auf Einfachheit und Billigkeit der Herstellung wird bekanntlich in Amerika viel Wert gelegt, was oft auf Kosten der guten
Wirkung geschehen muss; andererseits sind die Unterhaltungkosten wieder geringere, wenn auf Vielteiligkeit, wie sie das Verbundsystem
mit sich bringt, verzichtet wird.
Der Kessel zeigt die Wagon-top-Bauart, nacli Belpaire modifiziert, und besitzt ausnehmend grosse Abmessungen, was erforderlich war, um die der verlangten Leistungsfähigkeit entsprechende
Heizfläche unterzubringen. In den Einzelheiten sind streng alle Prinzipien moderner amerikanischer Konstruktion eingehalten.
Sieht man vorerst von den Hauptverhältnissen der Maschine ab, so zeigt dieselbe folgende Abmessungen mehr konstruktiver Natur:
Aeusserer Kessel-durchmesser
RauchkammerAn der Feuerbüchsrohrwand
2,082,32
m„
Feuerbüchse (innen)(mit Schüttelrost)
LängeBreiteTiefe
vornhinten
3,361,0672,2842,070
„„„„
Feuerrohre
AnzahlLängeAeusserer Durchmesser
4244,4850,8
mmm
Radstand
FestIm. ganzenEinschl. Tender
4,818,0916,8
m„„
Gesamtlänge von Maschine und Tender
20,0
„
Zur Dampfverteilung dienen Kolbenschieber, welche, ausserhalb der Rahmen liegend, von der auf der dritten Triebachse zwischen
den Rahmen angebrachten Stephenson'schen Steuerung mittels Zwischenhebel bewegt werden.
Der Tender läuft natürlich auf zwei Drehgestellen zu je zwei Achsen; leider enthält die Quelle nichts über die Grösse der
Vorratsräume. Nach anderen Bauarten zu schliessen, muss dem Dienstgewicht des Tenders entsprechend die Fassung an Wasser etwa
25 cbm, an Kohlen 12 t betragen; das Tendergewicht an sich, wie auch besonders das Gesamtgewicht der Maschine zeigt eine bisher
unerreichte Grösse.
Dienstgewicht
MaschineTender
105,260,3
tt
Gesamtgewicht von Maschine mit Tender
165,5
t
Die Lokomotive ist mit der Westinghouse-Schnellbremse ausgerüstet, welche auf alle Triebräder und auf die Tenderräder wirkt.
Soviel über den ungeheuren Körper dieser Lokomotive; die Seele des Ganzen bilden aber die Hauptabmessungen, welche als Leistungsfaktoren
aufzutreten haben, und aus folgender Tabelle zu entnehmen sind.
Hauptabmessungen.
Textabbildung Bd. 315, S. 210
Bahnverwaltung; Bauart; Maschine Cylinderdurchm., Kolbenhub, Triebraddurchm.; Kessel Ueberdruck, Heizfläche, Rostfläche; Rohre
Anzahl, Länge; Gewichte Gesamtgewicht, Adhäsionsgewicht; Zugkraft Maschine, Reibung; Verhältnisse; Illinois Central; Preuss.
Staatsbahn
Zum Vergleich sind in zweiter Linie die entsprechenden Werte der preussischen Normal-Verbund-Güterzuglokomotive in die Zusammenstellung
aufgenommen, welche als gutes Muster der auf dem europäischen Kontinent eingebürgerten und noch immer beliebten dreifach gekuppelten
Güterzuglokomotive anzusehen ist.
Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit und Brauchbarkeit der Konstruktion sind mehrere nachher im einzelnen zu besprechende
Verhältniszahlen aufgestellt. Was die Berechnung der Zugkraft anbelangt, so ist zwischen verfügbarer Zugkraft und nutzbarer
Zugkraft zu unterscheiden; ersteres ist die aus den Maschinenabmessungen zu bestimmende Tangentialkraft am Triebradumfang,
letzteres ist der durch die Adhäsion der Triebachsen auf die Schienen übertragene, also nutzbare Teil der ersteren, welcher
sich mit den Zugwiderständen im Gleichgewicht befindet.
Ist
dd1 der Durchmesser des Hochdruckcylindersderjenige des Niederdruckcylinders
in cm,
s der Kolbenhub,
D der Triebraddurchmesser,
pi der mittlere nutzbare Kolbendruck in at,
p der Kesselüberdruck,
wobei
1. für Zwillingsmaschinen pi = 0,6 p
2. für Verbundmaschinen pi
= 0,5 p
bei Güterzuglokomotiven zu nehmen ist, so ist die Maschinenzugkraft
Z=\frac{d^2\,s\,p\,i}{D} für Zwillingsmaschinen
Z=\frac{{d_1}^2\,s\,p\,i}{2\,D} für Verbundmaschinen.
Andererseits werde bezeichnet mit
L
a
die Adhäsionslast,
μ
der Reibungskoeffizient,
so ist bekanntlich die Reibungszugkraft
W = μ La, wobei \mu=\frac{1}{6} im Mittel.
Von diesen beiden Formeln ist in der Tabelle unter Z bezw. W Gebrauch gemacht. Ein Ueberschuss von Z über W bewirkt Schleudern, ist also nutzlos und verloren, sogar schädlich.
So übertrieben die Einzelabmessungen sich darstellen, so gut sind im allgemeinen die Verhältniszahlen gewählt, so dass auf
befriedigende Gesamtwirkung zu rechnen ist. Die Verhältnisse entsprechen guten Durchschnittswerten, welche aus zahlreichen
anderen Ausführungen sich ergeben und durch diejenigen der preussischen Lokomotive vertreten sind. Eine Abweichung zeigt nur
die Zahl \frac{C}{H}=0,63; gewöhnlich pflegen auf 1 qm Heizfläche 0,9 bis 1,1 (höchstens) Liter Cylinderinhalt zu kommen. Es ist also, wenn man diese
Grenzen für massgebend hält, die Heizfläche für die grossen Cylinder doch noch unnötig gross gemacht worden; im ungünstigsten
Fall brauchte sie nur \frac{d^2\,\pi}{4}\,.\,\frac{s}{0,8}=255\mbox{ qm} zu betragen. Es würde dann \frac{H}{R}=73, \frac{H}{L}=2,4 ausfallen bei gleichem Gesamtgewicht, welches aber wegen der Verkleinerung der Heizfläche und damit des Kessels auf etwa
L=\frac{H}{2,8}=91\mbox{ t} sinken würde. Damit würden, wenigstens so weit es die Beanspruchung des Bahnoberbaues anbelangt, bessere Verhältnisse Platz
greifen. Nicht nur das Dienstgewicht von 105 t, sondern auch die Belastung pro Triebachse mit 22 t übersteigt jedenfalls die
Grenze des Vorteilhaften; letztere Grösse ist stark das Anderthalbfache des bei uns Zulässigen.
Eine gute Beschickung der Feuerung vorausgesetzt, liefert also die Heizfläche mehr Dampf, als die Cylinder trotz ihrer enormen
Grösse verschlucken können. Durch Vergrössern der Füllung würde die Maschinenzugkraft gesteigert, aber ohne Nutzen, da unter
normalen Umständen schon die Reibungsgrenze erreicht ist, so dass der Dampfüberschuss des Kessels nicht zur Verwendung kommen
kann. Statt die Heizfläche zu verringern, wäre eine Steigerung des Verhältnisses \frac{C}{H} auch noch möglich durch Vergrösserung der ohnehin schon mächtigen Cylinder, was wieder das unbrauchbare Wachsen der Maschinenzugkraft
zur Folge hätte. Diesem könnte nur durch Verringerung der Füllung, also durch Nichtverwendung des Dampfüberschusses, oder
durch Vergrösserung der Reibung andererseits mittels dauernden Sandens begegnet werden, wenn Schleudern vermieden werden soll.
Jedenfalls sollte der Möglichkeit einer weniger guten Bedienung des Feuers durch die grosse Heizfläche begegnet werden, so
dass unter allen Umständen genügend Dampf für die Cylinder geliefert wird.
Rechnet man, so gering als möglich angeschlagen, 2 PSe pro Quadratmeter Heizfläche, so ist die Maschine mindestens zu einer Nutzleistung von 650 PS fähig; nimmt man aber bei höheren
Geschwindigkeiten etwa 4,6 PS auf jeden Quadratmeter an, so wäre eine Leistung von 1500 PSe zu erwarten. Dies ist nur eine Frage der Kesselwirkung und dadurch wieder in letzter Linie von der Bedienung bezw. Beschickung des Feuers abhängig.
Es ist sehr fraglich, ob die Vereinigung der Zugkräfte von zwei Maschinen in einer einzigen nicht doppelte Anstrengung des
Heizers bezw. doppeltes Personal erfordert, wenn die Heizfläche von 325 qm so bedient werden soll, dass die Lokomotive den
an sie gestellten Erwartungen entspricht, welche ausserordentlich hoch sind.
Die Maschine ist dazu bestimmt, auf der Steigung von 7,2 ‰ einen Zug vom Gesamtgewicht (einschl. Maschine und Tender) von
2000 t zu befördern. Die Erfüllung dieser Forderung ist ein Ding der Unmöglichkeit; denn der Steigungswiderstand allein schon
beträgt \frac{7,2}{1000}\,.\,2000\mbox{ t}=14000\mbox{ kg}, erreicht also bereits die Adhäsionsgrenze, welche bei \frac{1}{5}\,.\,87,7\mbox{ t}=14600\mbox{ kg} liegt. Im besten Fall lässt sich eine Reibung von
\frac{1}{5}\,.\,87,7\mbox{ t}=17340\mbox{ kg} erzwingen; der Krümmungs-, Geschwindigkeits- und Laufwiderstand müsste noch berücksichtigt werden, so dass das thatsächlich
beförderte Zuggewicht erheblich geringer als 2000 t sein wird. Anderenfalls müsste
Vorspann oder zum Zweck der Entlastung der Wagenkuppelungen Nachschub zu Hilfe gezogen werden. Bekanntlich ist die Nutzleistung
N_e=\frac{W\,.\,V}{270} (W Zugwiderstand, V Geschwindigkeit in km/Std.),
woraus bei 650 PS Leistung
V=\frac{270\,.\,650}{14600}=12\mbox{ km/Std.}
wird, für die grösste Zugkraft.
Andererseits ist der Zugwiderstand
W=G\,\left(2,4+n+\frac{V^2}{1000}\right)\left\{{{n\mbox{ Steigung in ‰,}\ \ }\atop{G\mbox{ totales Zuggewicht.}}}\right
Hier ist
W
n
V
= 14600= 7,2= 12
also 14600 = G (2,4 + 7,2 +
0,144).
Wird der Klammerausdruck auf 10 aufgerundet, um den Krümmungswiderstand annähernd zu berücksichtigen, so ergibt sich:
G=\frac{W}{10}=1460\mbox{ t} (einschl. Maschine),
d.h. die Maschine könnte auf einer Steigung von 7,2 ‰ eine Zuglast hinter dem Tender von rund 1200 t mit 12 km/Std. Geschwindigkeitbefördern, wobei 650 PSe entwickelt werden, während die Adhäsion von 14600 kg voll ausgenutzt ist.
Wie die Formel N=\frac{W\,V}{270} zeigt, stehen W und V, d.h. Zugkraft und Geschwindigkeit in umgekehrtem Verhältnis für gegebene Leistung, während diese selbst für wachsendes V wachsen muss, was mit der bei steigender Geschwindigkeit infolge des schnelleren, schwächeren Auspuffs sich verbessernden
Kesselwirkung zusammenhängt.
Die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Lokomotive auf gerader, horizontaler Bahn beantwortet sich dementsprechend folgendermassen:
1. Bei grösster Belastung hat man minimale Leistung von 650 PSe; da N=\frac{W\,V}{270}, so wird auch hier
V=\frac{270\,N}{W}=\frac{270\,.\,650}{14600}=12\mbox{ km/Std.}.
Für
W=G\,\left(2,4+\frac{V^2}{1000}\right) wird G=\frac{W}{2,4+\frac{V^2}{1000}},
also
G=\frac{14600}{2,4+\frac{12^2}{1000}}=\frac{14600}{2,55}=5720\mbox{ t} (einschl. Maschine)
d.h. bei 12 km/Std. könnte eine Zuglast von etwa 5550 t hinter dem Tender befördert werden, was einer Leistung von 650 PSe entspräche; dabei wird die Adhäsion der Lokomotive voll ausgenutzt.
2. Bei grösster Geschwindigkeit hat man maximale Leistung von 1500 PSe.
Für V = 48 km/Std. wird
W=\frac{270\,N}{V}=\frac{270\,.\,1500}{48}=8400\mbox{ kg},
also
G=\frac{W}{2,4+\frac{V^2}{1000}}=\frac{8400}{2,4+\frac{48^2}{1000}}=\frac{8400}{4,7}=1800\mbox{ t} (einschl. Maschine),
d.h. bei 48 km/Std. könnte eine Zuglast von etwa 1630 t hinter dem Tender befördert werden, was einer Leistung von 1500 PSe entspräche, dabei wird die Zugkraft nur 8400 kg betragen.
M. Richter-Bingen.