Titel: | Zur philosophischen Begründung der Technik. |
Autor: | P. K. von Engelmeyer |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 422 |
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Zur philosophischen Begründung der Technik.
Von Ingenieur P. K. von Engelmeyer, Moskau.
(Fortsetzung von S. 373 d. Bd.)
Zur philosophischen Begründung der Technik.
Der Mensch in der Gesellschaft.
Der letzte Aufsatz S. 373 d. Bd. war dem gesellschaftlichen Menschen in der Natur gewidmet. Nun gilt es, die Grenze noch enger
zu ziehen. Die Gesellschaft bildet die nächste Umgebung des Individuums. Zwischen Individuum und Gesellschaft besteht eine
Wechselwirkung, in der wir die beiden Seiten wieder erkennen: die Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum und diejenige
des Individuums auf die Gesellschaft. Uns interessiert mehr die zweite. Sie fängt schon dort an, wo ein Mensch auf einen anderen
einwirkt, sei es auf Freund, Schüler, Leser, Kind u. dgl. Die Beherrschung der Masse durch den Demagogen ist nur ein Einzelfall
dieser Einwirkung.
Vor allem ist es klar, dass das Individuum nur seinen eigenen Trieben folgt. Diese heissen altruistisch oder egoistisch, je
nachdem sie der Gesellschaft nützlich oder schädlich sind. Denn auch die altruistischen Triebe, die der Mensch verfolgt, sie
sind ebensowohl seine eigenen, wie die egoistischen. Es ist ja nichts als eine Redensart, zu sagen: es habe einer seinen Vorteil
dem der Gesellschaft aufgeopfert; denn psychologisch heisst es: der Vorteil der Gesellschaft ist ihm teuerer geworden. Der
Mensch ist von Hause aus ζῶον πολιτικόν; d.h. ihm sind auch solche Triebe eigen, die das Wohl der Gesellschaft begründen.
Auf dieser Thatsache hat sich der Utilitarismus als ethisches System ausgebildet. Die Begründer dieses Systems, von Epikur bis auf Bentam und J. St. Mill sehen keinen wesentlichen Unterschied zwischen Gut und Nützlich. Was der Gesellschaft nützlich, sei gut. Das Individuum sieht
seinen persönlichen Nutzen mit dem der Gesellschaft derart verflochten, dass ihm das Wohl der Gesellschaft als eine Bedingung
entgegensteht, um sein eigenes Wohlsein zu begründen. Es ist nicht unsere Aufgabe, in den Utilitarismus weiter einzudringen.
Derselbe interessiert uns nur, insofern er die egoistischen Triebe mit den altruistischen in engste Beziehung stellt, und
von Gut zu Nützlich eine Brücke schlägt, so dass es den Anschein nimmt, als könnte man aus Gut und Nützlich nur eine Kategorie
machen, indem man sagt: der Begriff des Guten ist dem des Nützlichen untergeordnet. Denkt man sich ein menschliches Individuum
einsam auf Erden, so existiert für ihn noch kein Gut und Bös, sondern nur Nutzen und Schaden. Er kann sich weder Gutes noch
Böses anthun: er kann sich eventuell nur nützen oder schaden. Gut und Bös treten erst in der Gesellschaft ein.
Wir überlassen den Philosophen die Entscheidung, inwiefern die Subsumierung des Guten unter das Nützliche richtig und praktisch
wäre. Doch merkwürdig scheint uns, wie nah der allgemeine Sprachgebrauch in den meisten Kultursprachen das Gute mit dem Nützlichen
zusammenhält. Alles Gute ist christlich dogmatisiert als der Seele nützlich. Umgekehrt bezeichnet die gemeine Habsucht mit
Gut das rein nützliche sachliche Eigentum. Und die Wörter: Wohl, Wohlsein, Wohlbefinden fassen das Gute wie dasNützliche derart zusammen, dass man sich versucht fühlt, anstatt unserer Tetrade: Gut, Wahr, Schön, Nützlich, die Triade:
Wohl, Wahr, Schön anzunehmen. Wir bleiben indessen bei der Tetrade und gehen weiter. Indem nun das Individuum seinen eigenen
Trieben folgt, begründet es sein Wohlsein und baut die Gesellschaft auf. Mag das Individuum noch so sehr der Ueberzeugung
hingegeben sein, dass das gesellschaftliche Wohl sein persönliches begünstigt, so wird es doch wohl kaum je dazu kommen, dass
im Individuum selber der Kampf aufhört, den zur Zeit die egoistischen Triebe mit den altruistischen stetig führen. Die Freiheit
wird wohl immer durch die Einschränkung erreicht werden müssen. Das innere Normativ dieser Einschränkung heisst Gut, das äussere
heisst Sitte und Recht.
Wir Techniker denken gern mechanistisch. Es sei uns dies vergolten. Ich habe neulich in der Kinderstube ein mechanisches Bild
der Gesellschaft gesehen, als die Kinder Seifenblasen machten. Die einzelne Seifenblase ist das Sinnbild des Individuums.
Alle Seifenblasen sind einander ähnlich, doch gleicht keine der anderen: Grösse und Farbenspiel sind verschieden. Die eine
wächst rascher, die andere langsamer. Ist sie mit schwerem Rauch gefüllt, so ist sie trüb und sinkt zu Boden und platzt, sobald
sie ihr triviales Unten erreicht. Wird sie mit Leuchtgas gefüllt, so strebt sie dem Himmel zu, doch kann sie ihn nicht erreichen;
auch sie platzt und kommt nimmer wieder. Mit dem Hauche des lebenden Menschen erfüllt, lebt die Blase länger und schwebt im
Raume, ihrer Natur und den Strömungen der Umgebung frei gehorchend, und die ihr geeignete kugelrunde Form behauptend.
Die frei schwebende Seifenblase versinnlicht für mich den Menschen in der Natur. Das Sinnbild der Gesellschaft sah ich, als
das Kind in das Seifenwasser anhaltend blies. Es entstand ein Schaum. Die schöne Kugelform, die der Blase eigen war, so lange
sie allein existierte, hatte sich wesentlich verändert: nur an der Oberfläche der Gesellschaft, dort, wo die Blasen die umgebende
Natur berührten, sah man noch sphärische Formen; im Inneren aber waren die Blasen zu Polyedern zusammengedrängt. Befreite
man eine der Bedrängten, so erhielt sie sofort die ihr „geeignete“ Form; doch war sie nicht mehr so langwährend, wie im Schosse der Gesellschaft. Bedrängt durch die anderen, ist sie aber auch
dadurch geschützt.
Obwohl der Schaum sichtbar aus einzelnen Blasen besteht, so bildet er doch ein selbständiges Ganzes, das an Zähigkeit und
Lebensdauer die einzelnen Blasen weit übertrifft. So ist die egoistisch-sphärische Form der Blase eng verknüpft mit einer
kurzen und unsicheren Existenz, wogegen die polyedrische gesellschaftliche Form der Blase eine bessere Existenz sichert. Darum
fügt sich jede Schaumblase der gesellschaftlichen Eingrenzung mit mechanischer Notwendigkeit ein. Und dennoch sind sie alle
Konkurrenten auf den Raum. Sie behaupten ihren Besitz proportional ihrer inneren Kraft. Bläst das Kind anhaltend in eine Blase hinein, so macht sie sich gross und drückt die anderen nieder,
und hebt sich über dieselben empor und erreicht ihre egoistische Form. Fällt dagegen die Kraft derselben (etwa durch Offenhalten
des Strohhalmes), so sinkt sie, von den anderen niedergedrückt, und schrumpft zusammen bis zur vollen Vernichtung.
Ebenso das Individuum. Nur gegenüber der menschenlosen Natur kann es ungebändigt seinen egoistischen Trieben Folge leisten.
In der Gesellschaft sind ihm durch Sitte und Recht Schranken gezogen, die ihn zwar bedrängen, doch aber seine Existenz gesellschaftlich
sichern. Es muss nur trachten, seine innere Kraft nicht zu verlieren, um dem Drucke seiner Genossen nicht zu unterliegen.
Denn sein Besitztum behauptet es nur mit seiner Kraft, die es verdankt der Geburt, der Bildung, dem Fleisse, dem Talente und
dem Glück.
Das Schaumbild der Gesellschaft lässt uns indessen in einer Beziehung im Stich: im Schaume sehen wir kein Seitenstück der
technologischen Wirkung eines Individuums auf das andere und auf die Gesellschaft, die doch im Menschenleben thatsächlich
existiert, indem sie jene Erscheinungen ins Leben ruft, die man nennt: Erziehung und Unterricht, Gesundheits- und Rechtspflege,
Verwaltung und Waffenstreit, Gesetzgebung, Politik u.s.w. Der Mensch verrichtet gesellschaftliche Thaten, indem er auf seinesgleichen
zielbewusst und zweckmässig einwirkt, und so die äusseren gesellschaftlichen Verhältnisse seinen inneren anpasst. Seinem Wollen
stellt sich ein Wissen und ein Können zur Seite.
Fassen wir nun das Gesagte kurz zusammen. Des Menschen Thätigkeit hat zwei Richtungen: einmal werden die inneren (subjektiven)
Verhältnisse an die äusseren
(objektiven) angepasst, ein anderes Mal ist es umgekehrt. Die Biologie hat nur die erste Hälfte untersucht und dieselbe
als Evolutionsprinzip ausgedrückt. Die zweite Hälfte, die objektivierende Thätigkeit, hat für das Menschenleben eine insofern
grössere Bedeutung, als sie den Menschen über die Natur und die Tierwelt erhebt. Sie kann nicht mehr rein biologisch ergründet
werden: Psychologie und Soziologie, in ihren tiefsten und neuesten Zweigen, müssen herangezogen werden.
Die objektivierende Thätigkeit nennen wir kurzum Thätigkeit, dem üblichen Sprachgebrauch uns fügend. Sie bildet den Gegenstand
unserer Untersuchung. Um uns in diesem unermesslichen Felde einigermassen zu orientieren, haben wir es in vier Fächer eingeteilt,
je nach den Grundtrieben des Menschen, die sein Handeln auf das Gute, das Wahre, das Schöne und das Nützliche hinrichten.
Vorläufig nur die typischen Fälle in Betracht ziehend, lassen wir. die Wechselwirkung dieser Grundtriebe aufeinander bei Seite.
Wir wissen ferner, dass jede That durch drei Elemente bestimmt ist: durch Wollen, Wissen und Können. Das Wollen bestimmt die
That teleologisch, das Wissen – logisch, das Können – sachlich. Das Wollen gibt die Zwecke, Wissen und Können geben die Mittel.
Intuitiv entstehen in uns die Vorstellungen der Zwecke und auch der Mittel.
In seiner Thätigkeit übt der Mensch Einwirkung aus auf die Natur, oder auf seinesgleichen. Da aber die egoistischen wie die
altruistischen Triebe dem Individuum eigen sind, ist für uns dieser Unterschied nicht von Belang.
Jede That ein Dreiakt.
Jetzt gilt es, in der nach Gut, Wahr, Schön und Nützlich zergliederten Thätigkeit überall das Vorhandensein der drei Elemente
– Wollen, Wissen, Können – nachzuweisen.
Wir beginnen mit der nützlichen That, als Technik betrachtet, weil der Dreiakt in der Technik bereits eingehend besprochen
worden war (vgl. D. p. J. 1899 312 130, 145 ff., 313 17 ff., 65 ff). Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass dort nur von Erfindung die Rede war. Dieser Einwand kann indes
nur seitens eines Nichttechnikers geltend gemacht werden, weil der Techniker weiss, dass seine ganze Thätigkeit ihren Ursprung
in derschöpferischen Kraft hat, d.h. in der Fähigkeit, vom vorgesteckten Ziele zu dessen Ausführung überzugehen, was ich übrigens
schon früher betont habe (D. p. J. 1899 313 81).
Es gibt eine Reihe Künste, welche einen allmählichen Uebergang von der Technik zu der schönen Kunst bilden. Die wollen wir
uns nun ansehen.
Was der Techniker gegenüber der Natur, ist der Arzt gegenüber dem menschlichen Organismus. Dieser Unterschied ist oben betont
worden. Der Arzt bildet sich ein spezielles Wissen und Können, wie es sein Objekt erheischt. Was heisst Therapie? Der Arzt
untersucht den Kranken, um sich eine Vorstellung von dem zu gewinnen, worauf seine Kurtechnik zu richten wäre. Die Diagnose
ist der erste Akt der Therapie, sie gibt dem Arzte intuitiv die Intention, die Verkörperung seines Wollens. Eine richtige
Diagnose aufzustellen, ist eine Kunst für sich, die auf einer speziellen Erschauungsgabe beruht. Das Wissen und Können der
Therapeuten bedingen den zweiten und den dritten Akt seiner That, oder auch dasjenige, was man seine Methode nennt. Im dritten
Akte, in der leiblichen Anwendung der Heilmittel, stehen ihm gewöhnlich Gehilfen zur Seite, welche das Können sich noch besser
wie der Arzt selbst angeeignet haben. Vom Chirurgen lässt sich genau dasselbe sagen.
Auch in der Thätigkeit des Schneiders, der nicht bloss Handwerker ist, lassen sich die drei Elemente erkennen. Als Beispiel
nehmen wir den weltberühmten Pariser Schneider Word, den Em. Zola in seinem Romane „La Curée“ unter dem Namen Worms dargestellt. Er war ein schaffender Schneider. Sobald sich eine Dame an ihn wendete, strengte er sein Schaffungsvermögen
an, um eine Intention zu erfassen (erster Akt). Zuweilen vermochte er dies nicht und rief mit Verzweiflung aus: „Heute kann ich nicht, ich fühle sie nicht“. Der zweite Akt wird in einem jeden grösseren Schneidergeschäft durch einen Zuschneider verrichtet. Den dritten besorgen
die Näherinnen.
Der gemeine Handwerker steigt wohl nicht über das Können hinaus. In jeder Zunft findet man jedoch Menschen, die höher stehen,
und nicht bloss fertige Muster routinenmässig nachbilden, denen somit ein gewisses Wissen und ein Wollen zugesprochen werden
muss. Die schaffende Thätigkeit solcher Meister ist ein leicht erkennbarer Dreiakt.
Zu der Architektur übergehend, bemerken wir vor allem, dass die Architekten in zwei Gruppen zerfallen, von denen die eine
sich auf die Bauart, die andere auf die Verzierung (Stil) spezialisiert hat. Die Thätigkeit des Bauarchitekten ist diejenige
des Bautechnikers, und als solche ein Dreiakt. Sie braucht uns nicht aufzuhalten. Und die Thätigkeit des Stilarchitekten unterscheidet
sich nicht wesentlich von der des bildenden Künstlers, zu der wir nun übergehen.
Also die schöne Kunst! Sie ist ein Sammelname für eine lange Reihe von Thätigkeiten, die unser irdisches Dasein verschönern.
Die Psychologen und die Aesthetiker haben sich mehrfach mit dem Schaffen des Künstlers beschäftigt. So verschieden ihre Ansichten
auch sind, so stimmen sie doch alle darin überein, dass der Künstler eine Intention konzipiert, und derselben einen sachlichen
Ausdruck verleiht, indem er Töne, Farben und Formen zweckmässig aneinander reiht. Dies genügt uns vollkommen. Der Dreiakt
ist schon da: die Intention ist das intuitive Ergebnis des ersten Aktes; sie schwebt dem Willen vor als ein zu erreichendes
Ziel, als ein Zweck, zu dem die Mittel das Fachwissen und das Können darbieten. Diese Thatsache wollen wir gleich im einzelnen
verfolgen, mit dem Maler anfangend.
Goethe meint: „Je grösser das Talent, je entschiedener bildet sich gleich anfangs das zu reproduzierende Bild. Man sehe Zeichnungen von
Raphael und Michel Angelo, wo auf der Stelle ein strenger Umriss das, was dargestellt werden soll, vom Grunde loslöst und körperlich einfasst. Dagegen
werden spätere, obgleich treffliche Künstler auf einer Art Tasten ertappt: es ist öfters, als wenn sie erst durch leichte,
aber gleichgültige Züge aufs Papier ein Element erschaffen wollen, woraus nachher Kopf und Haar, Gestalt und Gewand und was
sonst noch wie aus dem Ei das Hühnchen sich bilden solle.“
Goethe mag wohl darin recht haben, dass die Grösse des Talents umgekehrt proportional sei mit der Zeitdauer des ersten Aktes; aber sein
Beispiel ist für diese Behauptung nicht beweiskräftig, denn er besagt nur das Eine, dass namentlich Raphael und Michel Angelo den Bleistift erst dann ergriffen, wenn der erste Akt zum Abschluss
gelangt, wogegen andere etwas früher. Weiter nichts. Dass sich die letzteren eines Missgriffes schuldig machen, geben wir
um so williger zu, als dies auch beim technischen Erfinder ein Fehler ist (vgl. D. p. J. 1899
312 145). Aber folgende Aussage Goethe's ist ungemein aufklärend: „So kam Shakespeare der erste Gedanke zu seinem Hamlet, wo sich ihm der Geist des Ganzen als unerwarteter Eindruck vor die Seele stellte, und
er die einzelnen Situationen, Charaktere und Ausgang des Ganzen in erhöhter Stimmung übersah, als reines Geschenk von oben,
worauf er keinen unmittelbaren Einfluss gehabt hatte, obgleich die Möglichkeit, ein solches Apercu zu haben, immer einen Geist
wie den seinigen voraussetzte. Die spätere Ausführung der einzelnen Scenen aber, und der Wechsel in den Personen hatte er
vollkommen in seiner Gewalt, so dass er sie täglich und stündlich machen und daran wochenlang fortarbeiten konnte, wie es
ihm nur beliebte.“ Es ist kaum möglich, den Grenzpfosten zwischen dem ersten und dem zweiten Akte deutlicher aufzustellen, als dies Goethe thut! Der erste Akt hat die Idee des Ganzen ergeben, die wesentlichsten Situationen und Charaktere. Und das ist Sache gewesen
der Intuition, der reinen Erschauung. Das Wollen hat nun fungiert, die Intention ist da; jetzt bleibt nur die besonnene Bearbeitung
des zweiten Aktes und das gewandte Machen des dritten übrig.
Der zweite Akt des schaffenden Künstlers ergibt Cartons, Wachs-, Thon- und Gipsmodelle; beim Drama entsteht das Scenarium.
Der dritte Akt besteht in dem, was
Feuerbach
„das Machen auf der Leinewand“ nannte, d. i. die sogen. Technik des Künstlers. Der zweite Akt erheischt beim Künstler das Kennen jener Welt, die er darstellt.
Eine Vorkenntnis ist schon im ersten Akte unentbehrlich, um eine ausführbare und wirksame Intention zu erlangen. Im zweiten
Akte genügt ein solches Wissen nicht mehr: hier treten in Scene die wirklich existierenden Triebe und Sitten, der Künstler
muss mit dem alltäglichen Leben seiner Personen vertraut sein. Nicht selten muss er sich dem fügen, was Naturkunde, Geschichte,
Ethnographie und sonstige Wissenschaften als fest ergeben haben. Beherrscht er das nötige Fachwissen noch nicht, so sammelt
er sich in seine Studie (wie bezeichnend dieser Name!) die nötigen Gegenstände, oder er begibt sich an Ort und Stelle, wie
dies z.B. Em. Zola regelmässig thut.
Keinen wesentlichen Unterschied sehen wir in dem Schaffen des musikalischen Komponisten. Was der erste Akt ergibt, davon geben
uns Beethoven's Skizzenbücher reichlichen Beleg: Ein grösseres Werk wird in seinen wesentlichsten Zügen angedeutet. Im zweiten Akte tritt
die musikalische Wissenschaft auf: Harmonie, Kontrapunkt, Formenlehre, musikalische Aesthetik. Ein Orchesterwerk wird als
Ganzes aufs Partiturpapier entworfen, vorläufig nur die hervortretenden Stimmen. Das Ausfüllen der Partitur und die endgültige
Feile sind Sache des dritten Aktes.
Wenn der Künstler im zweiten Akte kein Denker, im dritten kein Handwerker zu sein vermag, wenn er den Mangel seines Wissens
und Könnens durch Intuition ersetzen will, so bringt er ein Dilettantenstück hervor. Wenn er den Mangel an Intuition durch
Vielwissen ersetzen will, bringt er höchstens ein Ding zusammen, das vielleicht den Historiker oder sonstigen Denker interessiert.
Will er mit seiner Gewandtheit allein auskommen, so gibt er ein Machwerk, ein Modenwerk, wo alles anständig, zierlich und
manierlich glatt abläuft, und der Schlaflosigkeit die beste Abhilfe darbietet. Ein Kunstwerk, welches das Gemüt bewegt, dem
Verstande Arbeit gibt und den Geschmack befriedigt, entsteht nur da, wo Wollen (Intuition), Wissen und Können selbständig
und gemeinschaftlich fungieren.
Wenden wir uns zu den ausübenden Künstlern: zu dem Lektor, Schauspieler, Musikvirtuosen, so ist auch in ihrer Thätigkeit der
Dreiakt unverkennbar. Schwarz auf weiss liegt ein Gedicht, ein Drama, ein Musikstück. Aberdas ist nur eine hohle Form. Will der Vortragende den blutwarmen Inhalt hineinthun, so muss er sich die Idee des Charakters
persönlich erschaffen, was nur auf Grund einer tiefen Menschenkenntnis möglich ist, alsdann muss er sich Tracht, Minnen und
Gebärden dementsprechend aneignen, und dies alles endlich geschickt in Erscheinung bringen. Schaffungskraft, Menschenkenntnis
und scenische Routine machen erst zusammen den Tragiker. Aber auch der Musikvirtuose, wenn er nur auf Selbständigkeit Anspruch
macht, kann nicht mit den Fingern allein auskommen: er muss die Befähigung zu persönlichen Intentionen haben.
So viel über die Kunst.
In der Wissenschaft lässt sich der Dreiakt ebenso leicht nachweisen. Mach hat unwiderleglich festgestellt und Schanze eingehend erörtert, dass der Werdegang der Entdeckung und der Erfindung derselbe ist. Als ein recht typisches Beispiel nehmen
wir die Entdeckung der Gravitation. Bekanntlich hat uns Voltaire die Geschichte dieser Entdeckung hinterlassen. Newton's Vorgänger (Kepler u.a.) hatten die Planetbewegungen mit drei Formeln beschrieben. Newton fand, dass sich die drei Formeln auf eine einzige zurückführen lassen, wenn man eine Anziehung zwischen Sonne und den Planeten
annimmt, solch eine Anziehung, die den Massen direkt, den Entfernungen umgekehrt proportional wirkt. Der erste Akt war vollbracht,
als sich Newton die Frage stellte: ob man nicht solch eine Anziehungskraft zwischen allen Himmelskörpern annehmen dürfte? So weit war es
nur eine Hypothese.
„Hypotheses non fingo“ sagte sich Newton und schritt zum zweiten Akte, d. i. zur ziffermässigen Prüfung seiner Hypothese, indem er sie an die gut ausgemessene Bewegung
des Mondes um die Erde anwendete. Die präzise Gradlänge war dazu notwendig. Als nun Newton diejenige Gradlänge annahm, die den Seeleuten seinerzeit für richtig galt, stimmten Hypothese und Rechnung nicht miteinander.
Wäre Newton dann gestorben, wer weiss, wann wir das Gravitationsgesetz gehabt hätten! Glücklicherweise wurde bald die Gradlänge vom Franzosen
Piquard richtiger ausgemessen, und so konnte Newton den Beweis erbringen. Im dritten Akte gab er dem Gravitationsgesetze die endgültige wörtliche mathematische Fassung. Nicht
selten sieht sich der Forscher gezwungen, auf Grund des zweiten Aktes seine ursprüngliche Hypothese wesentlich umzuändern.
Es bleibt uns übrig, die gute That als Dreiakt darzulegen. Wir denken an Moses, Christus, Mahomet und Luther und besprechen aus nahe liegenden Gründen Moses allein. Beseelt mit dem bekannten israelitischen Rassenhang, stellte er sich die Aufgabe, sein Volk zu befreien (erster Akt).
Alsdann begab er sich auf längere Zeit in die Wüste, um sich einen ausführlichen Plan der That auszuarbeiten
(zweiter Akt). Das nötige Wissen hatte er schon anheim: am Königshof mustergültig gebildet, kannte er sehr gut den
Charakter des Unterjochers. Auch die magischen Künste der ägyptischen Priester hatte er sich angeeignet und wusste, welch
starken Eindruck sie auf die Zeitgenossen machten. Ferner wusste er ganz gut, was sein habsüchtiges und verknechtetes Volk
in einer Idee vereinigen konnte. Er musste seinen Plan ins Detail durchdenken. Von beiden Seiten wird man allerhand Fragen
aufwerfen; man muss sich vorbereiten. Alle Hindernisse muss man vorausgesehen haben. In sich fühlte aber Moses eine wichtige Lücke: den Mangel an Eloquenz. An diesem konnte der beste Plan scheitern. Darum verband er sich mit seinem
Bruder Aaron, den er behufs grösserer Wirksamkeit das Amt des Gewissensbeherrschers bekleiden liess. So war denn endlich der Plan fertig,
und Moses kehrte nach Aegypten zurück, um den dritten Akt, die sachliche Ausführung seiner That, zu vollbringen. Das war, wie überall,
ein Machen, bei welchem Gewandtheit, Takt, List, überhaupt das Können in Scene traten.
So haben wir den Dreiakt in jeder That nachgewiesen, sei sie gerichtet auf das Gute, das Wahre, das Schöne oder auf das Nützliche.
Man wird mir vielleicht entgegenhalten: der Dreiakt gebe nur eine Zergliederung und keine Erklärung der objektivierenden Thätigkeit.
Das thut mich gar nicht erschrecken. Die Psychologie ist noch so wenig in den Schöpfungsprozess eingedrungen, dass ihr noch ein z. T. unbegrenztes Forschungsgebiet offen liegt. Welche Faktoren dabei auch
ans Licht gefördert sein werden, wir werden schon aus dem Grunde von einer Verwirrung gesichert sein, weil jeder derselben
sozusagen eine der drei Grundfärbungen beibehält, der des Wollens, des Wissens oder des Könnens. Den Nutzen einer solchen
Gliederung begreifen wir auf Grund der modernen Farbenlehre, welche die chromatische Farbenleiter der Natur bloss aus drei
Grundfarben faktisch zusammensetzt (man vergleiche die Farbenphotographie). Alle Farbenempfindungen erweisen sich als Funktion
dreier Organe im Auge. Aus den Funktionen dieser drei Organe bauen wir uns die ganze Farbenwelt. In ähnlicher Weise führt
die Theorie des Dreiaktes alle Erscheinungen der That (insbesondere der noch immer so dunklen schöpferischen That) auf die
Funktion dreier Geisteskräfte zurück und aus deren Funktionen baut sie die Welt der künstlichen Erzeugnisse.
Noch eine Erläuterung! Wenn ich sage: Wollen, Wissen und Können treten auf als erster, zweiter und dritter Akt der schöpferischen
That, oder der That als solchen, so meine ich damit nicht, als sollten sie getrennt nacheinander fungieren, etwa wie das Belichten,
Entwickeln und Fixieren einer photographischen Platte. Ohne Vorwissen erlangt das Wollen nicht die Form eines konkreten Zweckes,
und Wissen und Können sind nur da, um dem Zweck die Mittel darzubringen, und alle drei sind miteinanderverknüpft. Streng genommen, kann nur von einem quantitativen Vorherrschen gesprochen werden. Dies quantitative Verhältnis
versinnlicht das beistehende Diagramm. Im ersten Akte ist das Wollen vorwiegend. Im zweiten ist es das Wissen; aber das Wollen
dauert fort und das Können tritt hinzu.
Textabbildung Bd. 315, S. 424
Im dritten Akte gewinnt das Können Oberhand; aber es fungiert in Gemeinschaft mit dem Wissen, welches sich bereits dem Wollen
angepasst hat. Der Leser wird dringend gebeten, im Diagramm nicht mehr zu suchen, als es gibt, und das ist nur ein Sinnbild
des Vorherrschens des Wollens, Wissens und Könnens im ersten, zweiten und dritten Akte der That. Einen Schritt darüber hinaus
könnte man sich vielleicht erlauben; nur ist das Diagramm schlechterdings kein magisches Zeichen, welches etwa „goldene Eimer“ geheimnisvoll im Schosse birgt. Dixi!