Titel: | Zur Berechtigungsfrage der höheren Schulen. |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 514 |
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Zur Berechtigungsfrage der höheren Schulen.
Zur Berechtigungsfrage der höheren Schulen.
Wir entnehmen dem Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung über die Eröffnungsrede des Vorsitzenden des Deutschen Vereins von Gas- und Wasserfachmännern, Generaldirektor W. v. Oechelhaeuser, Dessau, die derselbe bei der 40. Jahresversammlung dieses Vereins in Mainz am 10. Juni d. J. gehalten hatte, die nachstehenden bemerkenswerten Ausführungen.
„Bei Gelegenheit der Säkularfeier der technischen Hochschule zu Berlin sagte unser Kaiser u.a.: „Unsere technische Bildung
hat schon grosse Erfolge errungen. Wir brauchen sehr viele technische Intelligenz im ganzen Lande.“
Ja, das ist in der That gerade unserem deutschen Volke sehr und mehr vonnöten, als viele glauben. Denn die Erfolge der deutschen
Technik in den letzten drei Dezennien haben gleichwohl die technische Intelligenz im ganzen Lande nur wenig oder wenigstens
nicht annähernd in dem für die Weiterentwickelung unseres Staates notwendigen Masse berührt und erhöht. Denn wenn wir auch
in Deutschland, wie wir hoffen, zur Zeit einen Vorsprung in der wissenschaftlichen Ausbildung unserer Ingenieure besitzen,
so fällt andererseits ein Vergleich der technischen Durchschnittsintelligenz im ganzen Lande mit derjenigen bei anderen Kulturnationen
sicherlich nicht zu Gunsten Deutschlands aus. Die technische Durchschnittsintelligenz unter den Gebildeten im allgemeinen
– also von den eigentlichen Fachleuten abgesehen – ist bei uns, und das kann man bei jeder Reise ins Ausland beobachten, sie
ist bei uns jedenfalls geringer als z.B. in England und Amerika. Der Gebildete, insbesondere der humanistisch Gebildete, hat
bei uns unglaublich wenig von den grossartigen Errungenschaften der praktischen, geschweige denn der wissenschaftlichen Technik
in sich aufgenommen, obwohl er sie täglich vor Augen hat und benutzt. Lediglich die Elektrotechnik mit ihren staunenswerten
Erfolgen hat, namentlich infolge der vom Staat und den elektrotechnischen Interessenten mit Hochdruck betriebenen Popularisierung
derselben, wenigstens einiges Interesse und Verständnis zu erwecken vermocht.
Wer jemals Gelegenheit gehabt hat, z.B. Sitzungen der verschiedenen Kommissionen des englischen Parlamentes beizuwohnen,die sich bekanntermassen u.a. auch mit Vergebung gewerblicher Monopole in unseren Fächern sowie mit dem Strassenbahnwesen
etc. zu befassen haben, oder in englischen Gerichtssälen Patentprozesse mit anhörte, der wird, glaube ich, geradezu erstaunt
gewesen sein über das Mass technischer Durchschnittsbildung und Intelligenz, das sich aus den gestellten Fragen der Parlamentsmitglieder
und Richter und schliesslich aus den Resultaten dieser Verhandlungen und den richterlichen Urteilen zur Evidenz ergab. Und
wie technisch gebildet und praktisch erfahren Engländer und Amerikaner auch auf so vielen Gebieten des politisch-wirtschaftlichen
Lebens sind in der Vertretung durch ihre Kommissare, Konsulats- und Kolonialbeamten, das hat unser deutsches Volk bis vor
nicht langer Zeit bei gar vielen Gelegenheiten zur Genüge erfahren. Und wenn auch vereinzelte Beispiele für den nicht viel
beweisen, der nicht aus vielfacher persönlicher Erfahrung jenen Eindruck im Auslande selbst gewonnen hat, so möge doch für
solche, die mir in dieser Erfahrung beipflichten, hier ein kleines Erlebnis eingeschaltet sein, das manchen vielleicht an
andere, eigene Erfahrungen erinnern wird. Als ich zur Zeit der Chicagoer Ausstellung von den Fällen des Niagara nach den Stromschnellen
unterhalb des Flusses am Ufer entlang fuhr, da unterhielt ich mich mit meinem Kutscher über den Orkan, der in der letzten
Nacht getobt hatte, und er bestätigte mir die Gewalt desselben mit der Bemerkung, die er offenbar der Morgenzeitung entnommen
hatte, dass der Wind sogar so und so viel Fuss Geschwindigkeit gehabt hätte. Und dieser Kutscher war nicht etwa irgend ein
verkrachter gebildeter Europäer, sondern ein einfacher Kutscher des Landes, der auf meine weitere Frage, wieviel Fuss Geschwindigkeit
denn sonst ein starker Wind hierzulande hätte, ganz verständig antwortete. Auch bei Störungen der verschiedenen Strassenbahnsysteme
in Amerika hörte ich statt der bei uns sonst gewöhnlich nur sehr energisch auftretenden sittlichen Entrüstung des Publikums
sehr vernünftige Erörterungen über die wahrscheinliche Ursache jener Störungen und ein solches eingehendes Interesse daran,
wie die Störungen vor unseren Augen zu beseitigen gesucht wurden, dass ich sicherlich nicht der einzige europäische Ingenieur
gewesen bin, der sich über diese hohe technische Durchschnittsintelligenz von Amerikanern ebenso wie Engländern wundern und erfreuen musste. Dagegen erinnere ich
mich – als ein Beispiel von vielen –, vor nicht langer Zeit von einem unzweifelhaft gebildeten deutschen Herrn bei einem Diner
über den Tisch herüber die Bemerkung gehört zu haben, als vom Gasglühlicht, das in vielen Exemplaren allein im Zimmer brannte,
die Rede war:
„Sol Ich dachte, das Gasglühlicht würde durch Elektrizität betrieben!“ Dieser gebildete Landsmann und jener amerikanische
Droschkenkutscher sind mir oft als typische Erscheinungen in vergleichende Erinnerung gekommen! Ja, geradezu erstaunlich müssen
in dieser Beziehung oft behördliche Verfügungen noch in neuester Zeit berühren, die eine solche Unkenntnis in technischer
Beobachtung der Gegenwart verraten, dass auch unsere Industrie fast jedes Jahr sich solcher Missgriffe zu erwehren hat. Ich
übergehe absichtlich hier den neuesten Fall dieser Art in seinen Einzelheiten und erwähne davon nur, dass, nachdem gerade
in den letzten Jahren sich die Brände bei elektrischen Anlagen, auch solchen von ersten elektrotechnischen Firmen, in solchem
Masse vermehrt haben und in so prägnanten Beispielen hervorgetreten sind, wie z.B. in elektrischen Zentralen, bei Ausstellungen,
Theatern, Krupp's Germaniawerft, der Comédie Francaise, und gerade in jüngster Zeit bei mindestens acht grossen WarenhäusernNachdem obiges niedergeschrieben, sind (am
1. und 6. Juni d. J.) zwei weitere grosse Warenhäuser in Solingen und Brandenburg a. H. niedergebrannt, und geben
die Zeitungen übereinstimmend „Kurzschluss“ als Ursache an. (unter denen die Brände in München, Frankfurt a. M., Braunschweig und Rixdorf ganz besonderes Aufsehen erregten) – so dass
man selbst von Damen, die jene Warenhäuser ja hauptsächlich besuchen, gefragt wurde, was denn eigentlich dieser gefürchtete
„Kurzschluss“ sei –, dass da jüngst die Verfügung eines deutschen Polizeipräsidiums erschien, welche in Warenhäusern
lediglich die Elektrizität zulässt und das Gas vollständig ausschliesst.
Nach Beweisen für die Notwendigkeit des kaiserlichen Wortes: „Wir brauchen sehr viele technische Intelligenz im ganzen Lande“
brauchen wir also kaum in den unteren und oberen Schichten unseres Volkes zu suchen. Wie aber wird eine solche bessere technische
Intelligenz zu schaffen sein? Die technischen Hochschulen können, auch wenn sie ganz nach ihren eigenen Wünschen weiter ausgestaltet
und unterstützt werden, hier nur einen Faktor bilden. Die Grundlage für eine Erweiterung der technischen Intelligenz muss
vielmehr durch eine Reform der höheren Schulen und des Berechtigungswesens geschaffen werden, welche, dank dem frischen und
zeitgemässen Impuls unseres Kaisers, jetzt von neuem auf der Tagesordnung steht und sicherlich so bald nicht davon verschwinden
wird, mögen auch die sehr grossen Widerstände, die nach des Kaisers eigenen Worten bezüglich des Promotionsrechtes für ihn
selbst zu überwinden waren, sich auch bei dieser Frage von neuem entgegenstellen und mit verdoppelter Kraft zu bethätigen
suchen.
Nicht genug können wir Ingenieure wiederholen, welch tiefe Hochachtung und welch aufrichtiges Dankesgefühl wir den Leistungen
der humanistischen Gymnasien und der Universitäten in Vergangenheit und Gegenwart zollen, und wie auch wir von der Ueberzeugung
durchdrungen sind, dass die Gymnasien ihre Eigenart auch für die Zukunft zu bewahren und nach wie vor grosse Kultur auf gaben
zu lösen haben. Nicht genug können wir betonen, wie weit wir davon entfernt sind, den humanistischen Studien etwa eine untergeordnete
Rolle anweisen zu wollen. Allein wenn für die Vergangenheit die humanistische Vorbildung als alleinige höhere Bildung für
alle höheren Berufszweige genügte – ebenso wie in noch früherer Zeit auch einmal die Klosterbildung für jedes höhere Studium,
nicht etwa bloss das geistliche, ausreichte –, so erfordert die moderne Zeit mit ihren unendlich vielseitigeren Kulturaufgaben
unzweifelhaft auch eine weitergehende Teilung der Arbeit in Vorbildung unseres wissenschaftlichen Nachwuchses, und zwar wegen
des täglich wachsenden Bildungsstoffes und der doch nun einmal nicht noch weiter zu erhöhenden Schulzeit. Wenn früher der
Lehrplan der technischen Hochschulen so eingerichtet war, dass er die bei den Gymnasialabiturienten bestehenden grossen Lücken
mathematischer und naturwissenschaftlicher Vorbildung in den ersten beiden Semestern auszufüllen vermochte, wenn früher, als
unser internationaler Verkehr noch in den Windeln lag, die Kenntnis der modernen Sprachen nebensächlich war oder von Fall
zu Fall bei Gelegenheit erworben werden konnte,
– so gebietet heute die internationale Konkurrenz eine viel intensivere Ausnutzung der Zeit für die jetzt so vielfach
vermehrten wissenschaftlich-technischen Wissensgebiete und deshalb eine intensivere, wenn auch keineswegs einseitige mathematisch-naturwissenschaftliche
und neusprachliche Vorbildung auf Realgymnasien und Oberrealschulen.
Es kann nicht meine Aufgabe sein, das reiche Diskussionsmaterial, welches die sogen. Berechtigungsfrage bereits im öffentlichen
Leben zu Tage gefördert hat, hier auch nur skizzenhaft anzudeuten, und verweise ich in dieser Beziehung namentlich auch auf
das interessante Material, welches unsere beiden verdienstvollenVorkämpfer auf diesem Gebiete, Geheimrat Riedler in seinen Reden und Schriften und Geheimrat
Slaby in der von ihm im Herrenhause im März d. J. angeregten interessanten Debatte über diesen Gegenstand, beigebracht haben. Allein
ich möchte einen Punkt besonders hervorheben, der in jenen wissenschaftlichen Debatten und auch in den Diskussionen unserer
Ingenieurkreise gewöhnlich nur ganz flüchtig gestreift wird, gleichwohl aber nach meiner Beobachtung der verschiedensten Gesellschaftskreise
mit von ausschlaggebender Bedeutung für die Beurteilung dieser ganzen Frage sein sollte. Und gerade diesen wichtigen Punkt
betont unser Kaiser, im Anschluss an jene schon citierte Stelle, folgendermassen:
„Das Ansehen der deutschen Technik ist jetzt schon ein sehr grosses. Die besten Familien, die sich anscheinend sonst ferngehalten,
wenden ihre Söhne der Technik zu, und ich hoffe, dass das zunehmen wird.“
Hier legt also der Kaiser ein besonderes Gewicht darauf, dass die besten Familien des Landes ihre Söhne der Technik zuführen
möchten! Wie sehr wird aber gerade die Erfüllung dieses Wunsches unseres Kaisers – und hoffentlich von uns allen – direkt
unmöglich gemacht durch das gegenwärtige Berechtigungswesen, insbesondere also durch die allein privilegierte Stellung der
Gymnasialabiturienten! Dadurch werden unserem höheren Ingenieurberuf so viele Elemente aus jenen Gesellschaftskreisen entzogen,
die unserem Vaterlande hervorragende Staatsleute, Juristen, Militärs und Verwaltungsbeamte gegeben haben, und die mit der
„Kinderstube“, die sie genossen, jenen wichtigen zweiten Faktor dem Manne zugesellen, ohne den er trotz aller wissenschaftlichen
Ausbildung zu leitenden Stellungen weder in der Technik, geschweige denn im Staate gelangen kann: eine vielseitig gebildete
gesellschaftliche Erziehung. Und wenn wir so häufig eine Bevorzugung der Verwaltungsbeamten, insbesondere der Juristen, gegenüber
dem wissenschaftlich und in ebenso langem und mühevollem Studium ausgebildeten Bau- oder Maschinentechniker beklagen, so ist
der Grad und die Art der Erziehung im elterlichen Hause oft nicht zum mindesten der ganz natürlich mitbestimmende und nur
zu deutlich in die Erscheinung tretende Grund. Und wie sehr gewinnt dieser Faktor nicht nur im inneren Staatsleben, sondern
gerade auch im internationalen Verkehr, in den jetzt so vielfach verschlungenen Beziehungen zum Auslande, für jeden vorurteilslosen
Ingenieur tagtäglich an Bedeutung, und gerade für uns Deutsche, bei denen ohnehin in vielen Kreisen eine gewisse Geringschätzung
gesellschaftlich guter Erziehung fast als Kennzeichen von innerer Gediegenheit und Tüchtigkeit gilt!
Aber nicht nur jene vorerwähnten Familienelemente der höheren Gesellschaftskreise, die überdies traditionell den grössten
Einfluss in der Regierung und Besetzung aller höheren Stellungen haben, gehen uns infolge der herrschenden Bevorzugung der
Gymnasialabiturienten für die höhere technische Carriere zum grossen Teil verloren, sondern selbst unsere eigene Kaste sieht
sich veranlasst, um dem Sohne die Berufswahl für später zu ermöglichen, das Gymnasium zu bevorzugen, so dass dadurch dem Realgymnasium
und der Oberrealschule auch das beste Material aus den eigenen Berufskreisen verloren geht und jene Vererbung und Potenzierung
der Berufseigenschaften bei uns erschwert wird, die jene Stände auszeichnet. Denn man frage nur einmal gerade bei den tüchtigsten
und von Standesbewusstsein noch so erfüllten Ingenieuren an, auf welche Schule sie ihre Söhne schicken; wie oft wird man hören:
ich muss sie ja auf das Gymnasium schicken, um ihnen nicht die freie Wahl ihres Berufes zu verkümmern und ihnen nicht die
höheren Stellungen im staatlichen und sozialen Leben zu verschliessen! Der bayerische Kultusminister hatte darum ganz recht,
wenn er – obwohl im übrigen anderer Meinung – vor einiger Zeit in der bayerischen Kammer betonte, dass das Material, das den
Gymnasien, Realgymnasien und Oberrealschulen zuströme, nicht gleichwertig sei.
Statt der nach Ansicht unseres Kaisers so notwendigen Förderung der technischen Intelligenz im Lande drückt man aber dauernd
und immer wieder von neuem das Niveau und das Material herab, aus dem sich die Führer der Technik erheben und ergänzen sollten.
Und wenn darum manche Universitätslehrer bei den Abiturienten jener realwissenschaftlichen Schulen eine geringere Gesamtbildung
beobachtet haben wollen, so mag dies in den meisten Fällen an jenen Eindrücken mit gelegen haben, die nicht auf Conto der
Wissenschaft, sondern auf die Imponderabilien der Erziehung und des gesellschaftlichen Taktes zurückzuführen sind, die auf
keiner Schule und keiner Hochschule gelehrt werden können, sondern aus der geistigen Atmosphäre des Elternhauses stammen.
Und wenn die in dieser Beziehung höher Stehenden und von Geburt Begünstigten, namentlich auch aus unseren eigenen Ingenieurkreisen,
vorzugsweise den humanistischen Gymnasien als Bildungsmaterial zugeführt werden, so ist es wahrhaftig kein Wunder, wenn harmonisch
gebildete Elemente im Ingenieurstande relativ noch nicht so zahlreich vorhanden sind wie in jenen älteren, sozusagen herrschenden
Berufskreisen, und wenn so manche, in ihrem Fach ausgezeichnete höhere technische Beamte gleichwohl nicht zu den wirklich leitenden und führenden Stellen geeignet erscheinen und gelangen können.
Wenn aber unser Kaiser mit Recht Wert darauf legt, dass in Zukunft „die besten Familien“ ihre Söhne immer mehr der Technik
zuwenden, so kann dies nicht allein durch das wachsende Ansehen der deutschen Technik, das er betont, sondern zunächst und
zuerst nur durch thatsächliche Gleichstellung der höheren wissenschaftlichen Schulen geschehen. Nur dadurch kann sich der
Ingenieurstand einerseits die durch Familie und Tradition einflussreichsten Kreise der Gesellschaft ebenfalls zuführen und
andererseits die besten Elemente aus sich selbst der wissenschaftlichen Technik erhalten.
Ein Vorurteil, das namentlich in vielen Regierungskreisen und auch im Parlament wiederholt hervorgetreten ist und das der
Einführung jener Gleichberechtigung so oft entgegengehalten wird, ist die Meinung, als würden durch Freigabe aller Studien
für alle Abiturienten der höheren Schulen die gelehrten Berufe, und namentlich der juristische und medizinische, eine Ueberfüllung
erfahren. Diese Befürchtung dürfte sich in der Praxis bald als irrig erweisen. Denn einmal werden gerade jetzt, infolge jener
Bevorzugung, dem Gymnasium Kräfte zugeführt, die z.B. aus der Industrie und dem Kaufmannsstande stammen und sicherlich zu
einem viel grösseren Teil auf realwissenschaftliche Schulen übergehen würden, wenn diesen nicht durch das leidige Berechtigungswesen
der Makel der Inferiorität aufgedrückt wäre. Viele von diesen nehmen aber im Gymnasium mit ihren Mitschülern den Geist humanistischer
Ueberhebung in sich auf, und statt sich dem Berufe des Vaters und der Verwandten zuzuwenden, folgen sie ihren Mitschülern
und wenden sich gerade solchen Studien zu, die ihrem Familienkreise, ihrer Tradition und Vererbung ganz fern liegen und deren
Ueberfüllung gerade befürchtet wird. Wenn aber durch Einführung der Gleichberechtigung manche Universitätsstudien neuen Zuwachs
durch realwissenschaftliche Abiturienten erhalten würden, so stände dem andererseits auch eine wahrscheinlich noch grössere
Entlastung von den Elementen gegenüber, die bisher dem Gymnasium nur durch das Berechtigungswesen aufoctroyiert worden sind,
sowie dadurch, dass wahrscheinlich sich dann auch die Zahl der Gymnasien, namentlich in den kleineren Städten, vermindern
und damit der Zuzug zu den gelehrten Ständen abermals verringern würde.
Bei freier Bahn für jede streng wissenschaftliche Schulausbildung wird sich der Nachwuchs aller Berufsfächer in derselben
einfachen Weise nach Angebot und Nachfrage regeln, wie wir dies ja z.B. in den erheblichen Schwankungen wiederholt erlebt
haben, die im Staatsbaufach oder im Maschineningenieurwesen, sowie bei den juristischen Verwaltungsbeamten einzutreten pflegen.
Auf eine Periode zeitweiser Ueberfüllung folgt von selbst ein verminderter Andrang und Zuwendung zu anderen Fächern. Und wenn
das Ansehen der deutschen wissenschaftlichen Technik einmal in Deutschland selbst, unter allen Gebildeten, ein ebenso grosses
wird, wie es im Auslande schon viel länger der Fall ist, dann darf man nach Erfüllung der Gleichberechtigung der höheren Schulen
mit viel grösserer Sicherheit umgekehrt annehmen, dass der Strom der Ueberfüllung sich eher den technischen als den gelehrten
Berufsarten zuwenden wird. Denn viele höhere Beamten-, Militär- und Gutsbesitzerfamilien würden in heutiger Zeit ihre Söhne
den höheren technischen Studien, z.B. der so allgemein beliebten Elektrotechnik, eher wie z.B. der medizinischen oder der
Rechtsanwaltscarriere zuwenden, wenn nicht trotz der kaiserlichen Gleichstellung der Hochschulen das in allen höheren Regierungskreisen
unverändert fortbestehende Dogma von der allein seligmachenden humanistischen Bildung auf den Gymnasien die Söhne jener Kreise
immer wieder – mit nur seltenen Ausnahmen – in die alten Bildungskanäle und Berufsarten lenkte.
Aber wie viele Vorurteile sind auch sonst noch zu überwinden! So können wir uns auch nicht genug dagegen verwahren, als könne
nur auf humanistischem Wege eine idealen Zielen zugewandte wissenschaftliche Bildung gegeben werden und als führe die realwissenschaftliche
Ausbildung im grossen und ganzen doch immer nur zum Kultus des goldenen Kalbes und zu einer materialistischen Lebensrichtung.
Wohl kann es so sein! Aber, wo wir heutzutage hinblicken, sehen wir die Männer von Industrie und Handel überall mit an der
Spitze, wo es gilt, ideale Aufgaben für unser Volk zu erfüllen, sei es auf sozialem Gebiete – und zwar weit hinausgehend über
das, was der Staat in dieser Beziehung als Pflicht dem Unternehmer auferlegt –, oder sei es in wissenschaftlichen, gemeinnützigen
Vereinen oder auf idealnationalem und künstlerischem Gebiete. Und je höher die Stellung des deutschen Ingenieurs und Industriellen
ist, um so mehr pflegt er gewöhnlich mit Ehrenämtern überbürdet zu sein, die weitaus in den meisten Fällen idealen Bestrebungen
dienen. Sie stehen darin zum mindesten keinem der aus humanistischen Studien hervorgegangenen Berufsstände nach, sondern sind
sogar noch oft durch ihre in der Praxis entwickelte Intelligenz und Umsicht ganz besonders geeignet, solche idealen Aufgaben,
z.B. für das Volkswohl, auch in die Praxis zu übersetzen. Ja im Gegenteil,gerade die Beschäftigung mit praktisch – materiellen Zielen im eigentlichen Beruf entwickelt ganz naturgemäss für jeden wissenschaftlich
Gebildeten das tief innere Bedürfnis nach einer idealen Ergänzung, und so sind wir untereinander in Fachkreisen oft selbst
erstaunt, welche wissenschaftlichen und künstlerischen Allotria – im besten Sinne des Wortes – neben dem eigentlichen Berufe
von vielen unter uns gepflegt werden.
Hier wie bei den aus humanistischen Lebenskreisen stammenden Männern spielt nach meiner Ansicht die individuelle Beanlagung
und Erziehung eine viel grössere Rolle als der zufällig genommene Bildungsweg. Auch ist auf der anderen Seite oft genug wahrzunehmen,
wie unendlich nüchtern die Lebensbethätigung humanistischer Kreise inner- und ausserhalb ihres Berufes sein kann. Denn jeder
dieser Berufe bringt, wie sogar der eines Künstlers oder Kunstgelehrten, für viele so viel Handwerksmässiges mit sich, dass
von einer idealen Berufsauffassung oft erstaunlich wenig übrig bleibt. Gerne nehme ich davon unter anderen die Hochschulkreise
aus, soweit sie selbständig forschen und nicht etwa bloss handwerksmässig die Gelehrsamkeit in mühseligen Kollektaneen zusammentragen.
Aber gerade die Befreiung von materiellen Sorgen, die dem gebildeten Ingenieur gewöhnlich früher gelingt als dem Beamten und
Gelehrten, kann die Idealität der Lebensauffassung mindestens ebenso oft fördern, wie im Gegenteil das Ausharrenmüssen in
beschränkten Lebensverhältnissen den Idealismus leicht herabdrückt. Es kommt deshalb gar nicht selten vor, dass diese auf
humanistischer Grundlage stehenden Berufsarten sich namentlich im späteren Leben sehr materielle Ergänzungen und Beschäftigungen
suchen, ganz abgesehen davon, dass, wie schon erwähnt, das nüchtern Handwerksmässige in jedem Beamten- und Gelehrtenberufe
meist eine viel grössere Rolle spielt, als man gewöhnlich zugesteht, oder dass der Beruf selbst, wie z.B. bei manchen praktischen
Medizinern und Juristen, statt einer idealen immer mehr eine kaufmännische Entwickelung erfährt. Welche ideale Wirkung viele
der bedeutendsten technischen Errungenschaften im direkten Gefolge haben, davon gibt uns ja gerade die gegenwärtige Gutenbergfeier
ein leuchtendes Beispiel, und erfreulicherweise hat gerade einer unserer höchsten Reichsbeamten, Graf Posadowski, dies bei der Einweihung der Gutenberghalle in Leipzig kürzlich so treffend mit den Worten charakterisiert: „So war die Erfindung
Johann Gutenbergs eine wahrhaft geistesbefreiende That . . . .“
Aber Geheimrat Riedler geht mit Recht noch weiter, wenn er in der Festrede zur jüngsten Geburtstagsfeier Sr. Majestät u.a. sagte:
„Die Buchdruckerkunst ist nur eines der technischen Kulturmittel. Durch die Buchdruckerpresse, den Telegraphen und
die Verkehrsmittel hat die Technik der Verbreitung der Zivilisation, der Allgemeinheit den grössten Dienst geleistet. Gerade
auf dem Gebiete des Geistesverkehrs ist durch Mitwirkung der Technik in den letzten fünf Jahrzehnten mehr geleistet worden
als vielleicht in der ganzen Zeit von Homer bis zum 19. Jahrhundert.“
Und schliesslich sei mir noch gestattet, aus einem Gespräche Goethe's mit Eckermann, auf das kürzlich die Zeitungen hinwiesen, die Stelle anzuführen, wo er von der Ingenieurkunst sogar einen
direkten Einfluss auf die Einigung Deutschlands erwartet; er sagte, nachdem vorher von den deutschen Fürsten die Rede gewesen
war: „Mir ist nicht bange, dass Deutschland nicht eins werde: unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon
das Ihrige thun!“ Doch genug der klassischen Eideshelfer aus Vergangenheit und Gegenwart.
Wenn man nun aber mit der Erfüllung jener unabweisbaren und uns namentlich auch durch den internationalen Wettkampf aufgezwungenen
Forderung nach Gleichberechtigung der höheren Schulen so lange warten sollte, bis die humanistisch privilegierten Berufsstände
sich selbst in ihrer Majorität dafür aussprächen, das würde in der That so viel heissen, als vom Mandarinen verlangen, sich
selbst den Zopf abzuschneiden, oder vom Kaufmann, sich für eine neue Konkurrenz zu erwärmen. Haben denn in der That Kaiser
Wilhelm der Grosse und Bismarck so lange mit der Einführung der sozialen Gesetze gewartet, bis sich die Grossindustriellen
und Landwirte in ihrer Majorität dafür erklärt haben? Sind nicht unendlich oft die segensreichsten Gesetze für einen Stand
– oder wenigstens für den Staat – gegen dessen ursprünglichen Widerstand eingeführt worden? Gewiss soll man Sachverständige
aus allen jenen um Staat und Gesellschaft so hochverdienten Kreisen befragen, namentlich auch, um in der schultechnischen
Reform jener höheren Schulen ihren Rat zu berücksichtigen; aber die Regierungen lassen sich doch sonst nicht gern dazu herbei,
von Sachverständigen und Majoritäten regiert zu werden, sondern sie haben selbst zu regieren und unter Führung erleuchteter
und weitblickender Monarchen der Kulturentwickelung die neuen Bahnen rechtzeitig im voraus zu ebnen und Widerstände von sich
aus zu beseitigen, die nie und nimmermehr von den alten privilegierten Ständen je selbst aus dem Wege geräumt werden. Die
heutige Zeit drängt aber mehr denn jede frühere!“