Titel: | Flugspiele. |
Autor: | Karl Steffen |
Fundstelle: | Band 315, Jahrgang 1900, S. 580 |
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Flugspiele.
Von Karl Steffen,
Röhrsdorf bei Hainspach, Deutschböhmen.
Flugspiele.
Zur Rechtfertigung und gleichzeitig Klarlegung dessen, was ich unter dem neu klingenden Namen „Flugspiel“ bezeichne, muss ich vorausschicken, dass dieser Ausdruck nicht nur als der eigensprachliche, sondern auch als der viel bezeichnendere
Ausdruck für dasjenige gelten soll, was der Deutsche unter Sport zu verstehen liebt.
„Was gelten soll, muss wirken und muss dienen!“
Dieses Wort finden wir als Leitspruch in Moedebeck's Taschenbuch für Flugtechniker, dieses Wort charakterisiert jedes praktische Streben; möchte man endlich Ernst damit machen,
und in wenigen Jahren erschliesst sich der Technik ein neues Gebiet der Thätigkeit, wie ich es mir gar nicht grossartiger
denken kann.
Soll das geschehen, dann muss die Technik vorerst die Richtung des persönlichen Kunstfluges mit verbesserten Apparaten pflegen,
d. i. diejenige Richtung, welche heute schon mehr geleistet hat als man denkt; ja diese Richtung ist überhaupt nicht zu umgehen,
wenn noch weitere Fortschritte gemacht werden sollen.
Mit der Thatsache, dass ein Mensch persönlich eine Strecke im Luftraume sich bewegen kann, ist der Weg für alle weiteren Versuche
gewiesen; auch alle Messungen sind auf diesem Wege allein richtig zu machen, weil hier wirklich flugmässige Verhältnisse vorliegen,
und weil jeder Versuch gleichzeitig den möglichen Erfolg in sich schliesst.
LilienthalMan wird diesem Forscher gewiss nicht den Vorwurf machen können, dass seine Arbeiten der elementaren Bearbeitung entbehrten. sagt übrigens:
„Man könnte ja die elementaren Luftwiderstandsversuche noch viel weiter ausdehnen; man könnte noch viel mehr in die Einzelheiten
der Flügelwölbungen und Flügelformen bei diesen Experimenten eingehen; man könnte elementare Versuche über den Flügelschlag beim Vorwärtsfliegen machen und die hebenden und tragenden Kräfte messen. Je weiter man aber in diese Einzelfragen eindringt, desto komplizierter
werden die Apparate, desto umständlicher werden die Versuche. Es ist schliesslich wirklich einfacher und wohlfeiler, man macht
sich einen Flugapparat, setzt sich hinein und sieht, wie weit man damit kommt. Geht es auch nicht gleich horizontal durch
die Luft, nun, danngeht es eben schräg abwärts. In dieser Weise geflogen, ist immer noch besser, als gar nicht geflogen.“
Der einzig praktische und unfehlbare Weg war ferner der Lilienthal'sche, weil er jede Kombination sofort und ohne viel Kosten an seinem einfachen System anbringen und unzähligemal erproben
konnte.
Dabei stellten sich neue Beobachtungen heraus, auf welche ein Flugkünstler auf der Erde ebenso wenig gekommen wäre, wie ein
Schwimmer auf dem Lande auf das Schwimmen; so ergänzten sich Versuch und Beobachtungen, Kombination, abermaliger Versuch und
Beobachtung zu einer sicher fortschreitenden Kette von Fortschritten, bis schliesslich dieses geschickte Heranplänkeln eines
Tages zum sicheren Sturm auf die Feste geführt hätte, wenn nicht der fatale Motor dar eingepatzt hätte.
Wenn ein Faden reisst, so knüpft man nicht bei der Zerreisstelle, sondern am guten Ende an; das hätte sich Stenzel zu sagen gehabt, als er die Motorversuche Lilienthal's fortsetzte und dabei das wichtigste, das „Mitfliegen“ aufgab.
Weg mit dem Motor, welcher den schon errungenen Segelflug vom Flecke weg störte, und versuchen, ob der Flügelschlag nicht
dennoch ohne Motor ginge!
Es war eine bessere Flügelantriebsübersetzung, eine richtigere Körperlage zu wählen; Befreiung der Beine von der Balanzierthätigkeit
und Anwendung richtiger Stabilitätsbedingungen: „Mechanische Verschiebbarkeit des Flügels, gleichlaufend mit dem Flügelschlage“ waren ein zweites Erfordernis.
Die Hände waren frei zu machen und das Fluggestelle so zu gestalten, dass im Notfalle ein Vor- und Zurückschieben des Körpers,
wie auf den Holmen eines Barrens, möglich war.
Die Flügel waren in einer selbstthätigen Spannlage auszubalanzieren, damit sie sich selbstthätig in einer gewissen Normalschwebelage
erhalten konnten und das Bestreben hatten, jeder unwillkürlichen Störung dieser Lage ein elastisches Gegengewicht entgegenzustellen.
Die Beine waren für die Bethätigung des mit den Flügeln ausbalanzierten, schwingenden Antriebshebels zu verwenden und hatten
nicht in der Fallrichtung zu wirken, sondern
mehr in der Flugrichtung, weil die Erschütterungen des Antriebes in dieser Richtung nicht so schädlich wirken.
Nimmt man dazu die gänzlich neuen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Flugarbeit, die uns die Spannungswirkungen des Flugmittels an die Hand geben, so wird man getrost die anfängliche
Mehranstrengung mit in den Kauf nehmen, lehrt sie uns doch, dass die Flugarbeit alsbald auf ein Minimum sinkt, wenn der schwungvolle
Segelvortrieb mit ausgenutzt wird.
Dass dies alles Lilienthal nicht konnte, wird jedermann begreifen, der Lilienthal's unbequeme Körperlage, Handgriffe zur Flügelbewegung bei so ungünstigen Hebelverhältnissen, kennt.
Sicherheitsvorrichtungen sind ausgeschlossen, weil sie die Aufmerksamkeit des Fliegenden zerstreuen, und überdies an der flugmässigen
Entfaltung der rapiden Bewegung hindern.
Unter diesen Verhältnissen war Lilienthal mit dem Oberkörper an einen bestimmten Punkt zwischen den „kippenden“ und
„bäumenden“ Flügeln gebunden, nur die pendelnden Beine waren frei zur Balanzierthätigkeit.
Lilienthal war daher gar nicht in der Lage, die richtige Lage seines Körperschwerpunktes auszuprobieren; es wirkte im ganzen Verlaufe
der Segelbahn ein vorn niederdrückendes Drehmoment; ein Aufrichten der Vorderkanten der Flügel war nur so lange möglich, als
die Beine noch nicht den Boden verlassen hatten; während des Fluges mussten die Kanten zunehmend niedergedrückt werden, um
so mehr, als ja der Unterarm mit seinem kurzen Hebel vom Auflagepunkte (Ellenbogen) bis zum Angriffspunkte (Hände) gar nicht
die Kraft hatte, die Flächenkanten dauernd aufzurichten.
Ein geringes Zurückrücken des Körpers mittels der freien Hände an holmartigen Teilen des Gestelles hätte dieses Manöver erleichtern
müssen; gleichzeitig konnten einzelne kurze Stösse mit den Beinen am schwingenden Antriebshebel die Flügelschläge einsetzen,
so lange noch die volle Segelwucht vorhanden war.
Diese Momente konnte man mit dem elastisch ausbalanzierten und daher gefühlvollen System leicht abfühlen, und immer nur dann
benutzen, wenn das ganze System, in der richtigen ruhigen Verfassung war.
Die Motorthätigkeit lässt sich solch subtilen Verhältnissen nicht anpassen; der Motor kommt zu früh oder zu spät, oder, dieweil
man die Aufmerksamkeit der Regulierung des Motors schenkt, gehen die günstigen Momente blitzschnell vorüber.
Ein Versäumnis, ein Vergessen, und die Verwirrung ist fertig, das eine hat ein anderes zur Folge, die Katastrophe wird unausbleiblich.
Will man also Flügelschläge machen, so müssen diese in der unmittelbaren Gewalt des Fliegers sein.
Man hatte endlich noch weiter zu gehen: in der feineren Auswahl des Baumaterials, alles zu thun, um die Starrheit der Rippen
des Flügels und die Schwere der Gerüstteile herabzusetzen.
Eschenholzstäbe aus dem Stamm gespalten, ähnlich den Peitschenstielen, sind das vorzüglichste Rippenmaterial, wenn sie konisch
verlaufend hergestellt werden.
Die Fassung hat nur an den vorderen Armteilen zu geschehen, Querspannungen innerhalb der Fläche, z.B. durch Drahtzüge wie
bei Lilienthal, sind zu vermeiden, weil diese die Starrheit der Fläche verursachen.
Die Rippen haben ganz frei nach rückwärts auszustrahlen.
Die Fahnen der Rippen können durch schwache Bandfederstücke (Blanchetts), welche quer durch die Stäbe gesteckt werden, und
deren Enden mittels eines schwachen Drahtes verspannt werden, hergestellt werden; dieses Gerippe wird mit leichtem Stoff überspannt,
und mit Kollodium oder Kautschukfirnis überstrichen.
Für die Gerüstteile werden, und zwar für das Mittelgestelle 32 mm + 1 mm Aluminium-Mannesmann-Rohre, für die Flügelarme 15
m + 1 mm Aluminiumscheiden verwendet; die Gelenke sind als ganz flache Kugellager herzustellen; die nötige Steifigkeit der
Arme durch ein Sprengsystem zu erwirken.
Die Armstellung ist das wesentlichste am System; ohne richtige Kombination derselben gibt es keine Flügelwirkung; dieselbe
ist so verwickelt, dass sie die vollkommenste Kenntnis der Sache erheischt.
Ferner genügt das bekannte Kreuzsteuer durchaus nicht; dasselbe wirkt wetterfahnenartig und selbstthätig; die Steuerunghat sich aber der Flügelthätigkeit anzupassen; darum wurde von mir eine regulierbare Uebersetzung der Oberarmbewegung auf
die Steuerung mittels kleiner Steuerhebel notwendig erachtet; damit ist man im stände, jeder Veränderung der Flugrichtung
durch die Flügel die stabilisierende Steuerwirkung (Begrenzung des Abfallwinkels) folgen zu lassen.
Das erreichbare Minimalgewicht kann heute schon und zwar mit den oben angegebenen Mitteln auf höchstens 10 kg reduziert werden,
während eine Flächenentwickelung von 8 bis 10 qm (gegen 15 qm früher) vollauf genügt, wenn die Flügel als Luftspannungsgeneratoren
(Schnellorgane) und nicht als Tragorgane wirken, wofür ja der natürliche Vogelflügel auch ganz augenfällig spricht.
Man sieht, eine Unzahl Gesichtspunkte ergeben sich noch für die Verbesserung: und den feinen Ausbau des Kunstflugapparates;
eine erdrückende Menge von Faktoren spricht für dieses System, abgesehen davon, dass es ja bis heute das einzige ist, welches
einen Menschen fliegend fortgebracht, und sich dabei in der kurzen Flugzeit so dirigieren liess, dass willkürliche Schwenkungen, ja sogar Umkehr möglich war.
Was spricht gegen die Ausgestaltung dieses Systems?
Nichts! rein gar nichts! als die Furcht, fortgetragen zu werden ins Reich der Lüfte.
Sonderbar! Man hat früher bewiesen, dass man mit solchen Apparaten an der Erde kleben bleiben müsse – und „keinen Meter weit“ fliegen könne! Und Lilienthal war des Sieges voll, als er die damals noch prophetischen WorteLilienthal's Werk: Der Vogelflug, S. 121. im Jahre 1891 praktisch beweisen konnte, er sagte:
„Was aber mit einem solchen Apparate auch ohne Flügelschläge sicher ausgeführt werden könnte, wäre ein längerer, schwach abwärts
geneigter Flug, der immerhin des Lehrreichen und Interessanten genug bieten möchte.“
Und später sagte er einmal siegesbewusst: „Was ich damals vermutete, ist jetzt zur Thatsache geworden!“
Welche Wandlungen in den Ansichten mussten vorgegangen sein, wenn Lilienthal so sprechen konnte, von einst und jetzt!?
Ich vermute, der traurige Tod Lilienthal's war für die Schüler wieder einmal nur dazu gut, um klüger sein zu wollen als der Lehrer und Meister.
Zum Schlusse nur noch etwas über den Gedankengang, welchen Lilienthal sich über die Fortentwickelung der Flugfrage machte.
Immer mahnte Lilienthal ab vor zu tiefen Grübeleien, immer richtete er das helle Auge auf Wirklichkeit und auf Thaten.
In jedem Briefe, den er an seine Anhänger schrieb, mahnte er: „Machen Sie nach! machen Sie nach!“
Leider waren nicht viele in der glücklichen Lage, so ohne weiteres die Kosten für einen Apparat aufzubringen, obwohl Lilienthal die Preise für seine viele Mühe nicht zu hoch stellte.
Die Vereinsthätigkeit (Turn-, Radlervereine) hätte angeeifert werden sollen, die Flugspiele zu pflegen, und zu diesem Zwecke
im Vereine Apparate anzukaufen.
Wenig glücklich war der Karlsbader Verein, der sie zu Gesundheitszwecken ausschliesslich verwenden wollte; was einmal krank
ist, ist zu bequem, um zu fliegen.
Die Gesunden, Mutigen, Frohmütigen aber wahren sich ihre Gesundheit lieber auf diesem Wege.
Kurz vor seinem Todessturz aber hatte Lilienthal dennoch die Freude, seinen Wunsch, das „persönliche Fliegen“ allenthalben gepflegt zu sehen, der Erfüllung nahe gerückt zu sehen! Da kam der Tod und gruselnd wandte man sich ab.
Soll aber damit der Weg zur idealsten Lösung der Flugfrage unversucht verschlossen werden?
Gewiss nicht, die Erfahrungen mit anderen Systemen werden auch die berufenen technischen Kreise wieder auf die Bahn Lilienthal's führen und damit wird auch einer allgemeinen Pflege der Flugspiele mit technisch vollkommenen Apparaten die Bahn geöffnet
werden.
Auf dieses Ziel heute schon die Augen zu lenken, ist der Zweck vorliegender Anregung.