Titel: | Die deutsche Industrie und die Arbeiterversicherung. |
Autor: | A. Bantlin |
Fundstelle: | Band 316, Jahrgang 1901, S. 197 |
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Die deutsche Industrie und die
Arbeiterversicherung.
Festrede, gehalten am Geburtsfest S. M. des Königs
Wilhelm II. von Württemberg
am 25. Februar 1901 in der Aula der Technischen Hochschule in
Stuttgart von A. Bantlin, Professor des
Maschineningenieurwesens.
Die deutsche Industrie und die Arbeiterversicherung.
Bereits vor anderthalb Jahrzehnten ist in Deutschland die sozialpolitische
Gesetzgebung in Kraft getreten. Keine Erfahrung anderer Staaten, kein Vorbild
erleichterte dem deutschen Gesetzgeber seine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe.
Da drängt sich uns naturgemäss die Frage auf, ob der kühne, gross angelegte Versuch,
den Deutschland allen anderen Kulturstaaten voran mit der Einführung eines
Reformwerkes ohnegleichen unternommen hatte, die erwartete Wirkung gehabt hat, und
ob die erhofften Früchte gezeitigt worden sind.
Um die Frage nach dem heutigen Stand der eingetretenen Wirkung auf die deutsche
Industrie, wie auf die Arbeiterbevölkerung unseres Vaterlandes richtig beantworten
zu können, müssen wir uns zunächst die Vorfrage stellen: Welche Ziele setzte sich die deutsche Arbeiterversicherung?
Man kann die grossartige Aufgabe, die hier dem deutschen Volke gestellt wurde, nicht
zutreffender und nicht schöner kennzeichnen, als dies Kaiser Wilhelm I. in der
bekannten Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 gethan hat. Es heisst
dort:
„Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Ueberzeugung aussprechen lassen,
dass die Heilung der sozialen Schäden nicht
ausschliesslich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen,
sondern gleichmässig auf dem der positiven Förderung des
Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde. Wir halten es für Unsere
Kaiserliche Pflicht, dem Reichstag diese Aufgabe von neuem ans Herz zu legen,
und würden Wir mit um so grösserer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott
Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge,
dereinst das Bewusstsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde
Bürgschaften seines inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen grössere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes,
auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In Unseren darauf gerichteten
Bestrebungen sind Wir der Zustimmung aller verbündeten Regierungen gewiss und
vertrauen auf die Unterstützung des Reichstages ohne Unterschied der
Parteistellung.
In diesem Sinne wird zunächst der von den verbündeten Regierungen in der vorigen
Session vorgelegte Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle mit Rücksicht auf die
im Reichstag stattgehabten Verhandlungen über denselben einer Umarbeitung
unterzogen, um die erneute Beratung desselben vorzubereiten. Ergänzend wird ihm
eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmässige Organisation des Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt.
Aber auch diejenigen, welche durch Alter und
Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen
begründeten Anspruch auf ein höheres Mass staatlicher
Fürsorge, als ihnen bisher hat zu teil werden können.
Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zufinden, ist eine
schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben eines jeden Gemeinwesens,
welches auf den sittlichen Fundamenten christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluss an die realen Kräfte dieses
Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer
Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Fürsorge
werden, wie Wir hoffen, die Lösung auch von Aufgaben ermöglichen, denen die
Staatsgewalt allein in gleichem Umfang nicht gewachsen sein würde. Immerhin aber
wird auch auf diesem Wege das Ziel nicht ohne die Aufwendung erheblicher Mittel
zu erreichen sein.“
In diesen Worten liegt das ganze Programm der Arbeiterversicherung ausgesprochen,
deren Ausgestaltung demgemäss die drei grossen Zweige umfasst:
1. Das Krankenversicherungsgesetz, in Kraft seit dem 1.
Dezember 1884.
2. Das Unfallversicherungsgesetz, in Kraft seit dem 1.
Oktober 1885.
3. Das Invalidenversicherungsgesetz, in Kraft seit dem 1. Januar 1891.
Was vor Inkrafttreten der genannten Gesetze zu Gunsten des Arbeiters im Falle von
Krankheit, Unfall und Invalidität geschehen war, beschränkte sich auf wenige,
unzulängliche Massnahmen. Auch hatte man mit einzelnen dieser Gesetze schlechte
Erfahrungen gemacht, so z.B. mit dem Reichshaftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871, das
die Kluft zwischen Arbeiter und Unternehmer noch zu erweitern geeignet war.
Von den drei grossen Gesetzen der Arbeiterversicherung ist die Krankenversicherung der älteste Teil, der auch der Zahl der Fälle nach,
wie das in der Natur der Dinge liegt, am häufigsten in Wirksamkeit tritt. Der Kreis
der versicherten Personen beläuft sich heute auf rund 9 Millionen mit 23000
verschiedenen Kassen, so dass auf jede Kasse durchschnittlich 400 Mitglieder
entfallen. Schon vor der Einführung der grossen deutschen Versicherungsgesetze ist
auf dem Gebiet der Krankenfürsorge verhältnismässig am meisten gethan worden. Es
bestanden einzelne gesetzliche Bestimmungen über die Fürsorge in Krankheitsfällen
bei gewissen Gruppen der Bevölkerung, z.B. dem Gesinde, den Handlungsgehilfen, den
Seeleuten u.s.w. Es waren die Knappschaftskassen, die Innungskassen und ähnliche
Kassen vorhanden. Auch die Gemeinden nahmen sich ihrer erkrankten Angehörigen an,
doch fehlte es an einer einheitlichen geordneten Fürsorge für den erkrankten
Arbeiter. Diese hat uns erst das Krankenversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883
(revidierte Fassung vom 10. April 1892) gebracht. Die Krankenversicherung hat sich
dann im Laufe der Jahre zu ganz bedeutendem Umfang entfaltet.
Ueber die Zahl der Mitglieder der Krankenversicherung des Deutschen Reiches gibt Fig. 1 AuskunftDie
Zahlenunterlagen für die nachfolgenden graphischen Darstellungen sind in der
Hauptsache dem sehr lesenswerten Werke entnommen: Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung.
Denkschrift für die Weltausstellung in Paris 1900 im Auftrag des
Reichsversicherungsamts bearbeitet von Regierungsrat Dr. Ludwig Lass und Regierungsrat Dr. Friedrich Zahn. Verlag von A. Asher und Co. in
Berlin.. Die Zahl der männlichen Versicherten ist von 3,5 Millionen im
Jahr 1885 auf 6,45 Millionen im Jahr 1897 gestiegen, die der
Textabbildung Bd. 316, S. 198
Fig. 1.Umfang der Krankenversicherung
Textabbildung Bd. 316, S. 198
Fig. 2.Beiträge und Vermögen der Krankenversicherung.
weiblichen Versicherten in demselben Zeitraum von 0,78
Millionen auf 1,9 Millionen angewachsen, so dass sich für 1897 eine Gesamtzahl von
8,3 Millionen versicherte Personen(ohne die Knappschaftskassen) ergibt. Die
stetige Zunahme der Zahl der versicherten Personen, die sich in dem Kurvenverlauf
deutlich zeigt, ist in der Hauptsache begründet in der gesetzlichen Erweiterung des
Kreises der Versicherungspflichtigen (vgl. z.B. Gesetz über die Ausdehnung der
Unfall- und Krankenversicherung vom 28. Mai 1885, Gesetz, betreffend die Unfall- und
Krankenversicherung der in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben beschäftigten
Personen vom 5. Mai 1886 u.s.w.), die im Laufe der Zeit vorgenommen wurde. Die in
Fig. 1 dargestellten Kurven umfassen nicht allein
industrielle und landwirtschaftliche Arbeiter, sondern sämtliche
Versicherungspflichtige Personen überhaupt.
Neben dem schon erwähnten Grund hat auf die Entwickelung der Krankenversicherung
naturgemäss auch der Aufschwung von Industrie und Handel eingewirkt. Mit diesem ging
Hand in Hand eine gesteigerte Thätigkeit, d.h. auch eine erhöhte Einstellung von
Arbeitskräften in denjenigen Berufszweigen, die der Versicherungspflicht
unterliegen.
Die Zahl der Erkrankungsfälle lässt Fig. 1 ebenfalls
erkennen. Auch diese haben sich entsprechend der Zahl der Versicherten vermehrt. Die
Zahl der Erkrankten auf je 100 Kassenmitglieder schwankte innerhalb des angegebenen
Zeitraumes zwischen 32 und 39.
Im Zusammenhang mit den Krankheitsfällen stehen die Krankheitskosten und ihre
Steigerung in derselben Zeitdauer. Diese Kosten wuchsen von 47,4 Millionen auf 120,5
Millionen Mark an. In der letztgenannten Summe sind als der weitaus grösste Posten
die Krankengelder zu erwähnen, z.B. in der Höhe von 52 Millionen Mark für das Jahr
1897, die an Mitglieder und Angehörige von Mitgliedern der Krankenkassen abgegeben
werden. Hiernach gibt die Krankenversicherung am meisten für das Krankengeld aus,
das den Erkrankten bezw. dessen Angehörige vor eintretender Notlage zu schützen
bestimmt ist. Der Hest entfälltauf: Aerztliche Behandlung, Arznei, sonstige
Heilmittel, Kur- und Verpflegungskosten.
Bei der Betrachtung der Krankheitskosten ist daran zu erinnern, dass nach § 65 des
Krankenversicherungsgesetzes die Beiträge für die Versicherungspflichtigen Personen
zu einem Drittel von den Unternehmern und zu zwei Dritteln
von den Arbeitern aufgebracht werden.
Wir ersehen dies aus Fig. 2. Kurve U bezeichnet die Beiträge der Unternehmer, Kurve A diejenigen der Arbeiter. Die Gesamtsumme der Beiträge
überhauptAlso einschliesslich
der Eintrittsgelder, Zuschüsse der Unternehmer
u.s.w. stieg von 56,2 Millionen auf 135,5 Millionen Mark, im
besonderen die der Arbeitgeber von 14,5 auf 39,8 Millionen, die der Arbeiter von
41,7 auf 95,7 Millionen.
Trotz des bedeutenden Aufwandes für die Krankheitskosten (vgl. Fig. 1) ist es noch möglich gewesen, die vorhandenen
Ueberschüsse zur Bildung eines Reservefonds zu verwenden. Das angesammelte Vermögen
sämtlicher Krankenkassen betrug nach Fig. 2 im Jahr
1897 nicht weniger als 133,5 Millionen Mark, d.h. 16 Mark pro Kopf der Versicherten,
gegenüber 26 Millionen Mark im Jahr 1885. Hiernach ist der Vermögensstand der
Krankenversicherung im allgemeinen ein sehr günstiger zu nennen.
Der zweite Zweig der sozialen Gesetzgebung ist die Unfallversicherung. Sie erstreckt sich auf den weitesten Personenkreis und
umfasste 1898 rund 18 Millionen Personen, d.h. doppelt so viel als die
Krankenversicherung oder rund ⅓ der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs. Die
genannte Zahl begreift allerdings nicht allein industrielle Arbeiter und
Betriebsbeamte in sich, sondern es sind darunter etwa 4,5 Millionen kleine
landwirtschaftliche Unternehmer und kleine Baugewerbetreibende.
Die Zahl der gewerblichen Arbeiter, die gegen Unfälle versichert sind, erhellt aus
Fig. 3; sie ist von 2,9 Millionen im Jahr 1885
auf 6,3 Millionen im Jahr 1898 gestiegen. Ein ähnliches Anwachsen zeigen auch die
versicherten gewerblichen Betriebe. Die gewerblichen Berufsgenossenschaften sind auf
65 gestiegen, so dass eine Berufsgenossenschaft durchschnittlich etwa 100000
Personen umfasst. Wir haben es also hier, im Gegensatz zur Krankenversicherung, mit
sehr grossen, widerstandsfähigen Verbänden zu thun. Damit ist auch eine hinreichende
Sicherheit gegenüber dem übernommenen Risiko gewährleistet.
Der zunehmende Umfang der Unfallversicherung ist zunächst wieder zurückzuführen auf
die schon früher erwähnten Ausdehnungsgesetze, die seit 1885 erlassen worden sind.
Ferner kommt aber noch hinzu die in den letzten 15 Jahren in immer gesteigerterem
Masse stattgehabte Verwendung des Motoren- und Maschinenbetriebes, sowie damit im
Zusammenhang die rasche Entwickelung des Grossbetriebes. Beide Umstände bewirkten
eine Vermehrung der versicherungspflichtigen Betriebe.
Je mehr die Unfallversicherung ausgedehnt wurde, desto mehr wuchs naturgemäss auch
die Zahl der Unfälle. Hierüber gibt Fig. 4 Auskunft,
die sich nur auf die gewerblichen Berufsgenossenschaften bezieht. Das Anwachsen der
gemeldeten Unfälle zeigt die Kurve A, die von rund 92
000 auf 270000 ansteigt, und zwar ist diese Zunahme nicht bloss eine absolute,
sondern auch eine relative, was aber nicht allein für die Industrie, sondern z.B.
auch für die Landwirtschaft zutrifft. Das relative Anwachsen, bezogen auf 1000
Versicherte, von 26 auf 43 bringt Kurve B zum
Ausdruck.
Die Zahl der entschädigten Unfälle zeigen die Kurven C
und D, die ein ähnliches Wachstum aufweisen wie A und B. Kurve E zeigt die Zahl der zum erstenmal Entschädigten, die
im Jahr 1898 44881 beträgt.
Einen besseren Einblick in die
Textabbildung Bd. 316, S. 199
Fig. 3.Ausdehnung der Unfallversicherung.
Gewerbliche Berufsgenossenschaften.
Textabbildung Bd. 316, S. 199
Fig. 4.Unfallversicherung. Anzahl der Unfälle.
Einen besseren Einblick in die Gewerbliche Berufsgenossenschaften (ausschl.
Baugewerks-B. u. Tiefbau-B.)
Zahl, Art und Wirkung der
Betriebsunfälle gibt Fig. 5Vgl. Statistik der
Unfallfolgen, bearbeitet im Reichsversicherungsamt Berlin,
1899., die auf 100 Verletzte bezogen ist und in den ausgezogenen
Linien den Anteil der gewerblichen Berufsgenossenschaften an den Unfällen erkennen
lässt. Zum Vergleich ist der Anteil der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften
---------eingetragen.
Textabbildung Bd. 316, S. 200
Fig. 5.Zahl, Art und Wirkung der
Betriebsunfälle. (Zahl der verletzten Personen mit erstmaliger
Entschädigung.)
Eine besonders erfreuliche Erscheinung bietet sich in dem andauernden Sinken der
Todesfälle dar, die infolge Unfall eintraten. Innerhalb 12 Jahren sank die Ziffer
der Todesfälle in der Industrie allein von 25,9 auf 10,28, in der Landwirtschaft
allein seit 1888 von 44,7 auf 5,5. Auch die Fälle, in denen eine dauernde völlige
Erwerbsunfähigkeit eintritt, nehmen immer mehr ab; sie verminderten sich in
demselben Zeitraum von 3,5 auf 1,2 bezw. von 3,2 auf 0,7. Die Kurven von Industrie
und Landwirtschaft zeigen hier nur geringe Unterschiede.
Der gemeinsame Grund für beide Erscheinungen ist vor allem in den mannigfachen
Bestrebungen zu suchen, Unfälle zu verhüten und ihre Folgen durch rasche und
gründliche Heilung zu bekämpfen. Wie man aus dem Kurven verlauf ersieht, war das
Eingreifen des Gesetzgebers bei den landwirtschaftlichen Betrieben viel notwendiger,
aber auch wirksamer, als bei den industriellen. Heute (1898) kommen in der Industrie
auf 100 Verletzte 10,3 Todesfälle (abs. 4613 Tote), in der Landwirtschaft 5,5 (abs.
2598 Tote, also zusammen 7211 Tote).
Fasst man die, absolut genommen, sehr grosse Zahl der Toten ins Auge und nimmt die
ebenfalls bedeutende Zahl der Fälle der dauernden teilweisen Erwerbsunfähigkeit
(22348 + 23366 = 45714) hinzu, so erkennt man, dass die Verluste an Menschenmaterial
bezw. den Einbussen an Gesundheit und Erwerbsfähigkeit, die
hier Jahr für Jahr im Kampf ums Dasein entstehen, nicht weniger schmerzlich
und folgenschwer sind, als die eines blutigen Krieges. – Die soeben genannten Fälle
der dauernden teilweisen Erwerbsunfähigkeit waren in der ersten Zeit in rascher
Zunahme begriffen, sind jedoch heute nach Ueberschreitung ihres Höhepunkts
anscheinend im Beharrungszustand angelangt.
Nur die leichteren Unfälle, die eine vorübergehende Erwerbsunfähigkeit zur Folge
haben, vermehren sich dauernd. Dies hat jedoch nichts Bedenkliches an sich. Als
Grund für diese Erscheinung geben die Berufsgenossenschaften an:
1. Die seit dem Jahr 1890 verschärfte Kontrolle über die Anmeldung der
Betriebsunfälle.
2. Die Zunahme der Maschinenbetriebe.
3. Die angespannte Thätigkeit der Industrie infolge der günstigen wirtschaftlichen
Lage und die dadurch veranlasste Einstellung von nicht genügend angelernten und
geübten Arbeitern.
4. Die wachsende Vertrautheit der Arbeiterschaft mit den Bestimmungen des
Unfallversicherungsgesetzes. Die Arbeiter bringen heute eine weit grössere Anzahl
von Unfällen (namentlich die früher wenig beachteten leichteren, wie
Fingerquetschungen, Hautschürfungen u.s.w.) zur Anmeldung als früher, um einen
Entschädigungsanspruch durchzusetzen.
Bei den leichteren Unfällen weist die Landwirtschaft einen höheren Satz auf, als die
Industrie, was mit der Art der Unfälle zusammenhängt. In der Industrie ereignen sich
die meisten Unfälle bei der Maschinenbedienung, dann beim Zusammenbruch und Einsturz
von Gerüsten, beim Sturz von Leitern und Treppen; in der Landwirtschaft entstehen
sie namentlich beim Fall aus Luken, von Leitern und Treppen, durch Fuhrwerke und
Tiere (Biss, Schlag, Unfälle beim Reiten). Besonders bemerkenswert ist aber in
dieser Hinsicht, dass die Unfallhäufigkeit in den maschinell hochentwickelten Eisen-
und Stahl-, sowie Holzberufsgenossenschaften verhältnismässig gering ist, ein Beweis
dafür, dass die genannten Industriezweige es verstanden haben, die Gefährlichkeit
ihrer Maschinen mit Erfolg zu bekämpfen.
Dass die Unfälle im DampfkesselbetriebVgl. hierüber
auch: C. Bach, Ueber die Wirksamkeit der
Dampfkesselüberwachung im Deutschen Reich (Zeitschrift des Vereines
deutscher Ingenieure, 1900 S. 811)., an Dampf leitungen und
Dampfkochapparaten (Explosionen und sonstige) überhaupt am seltensten sind –
zweifellos ein Verdienst der Dampfkesselüberwachung, sowie der hervorragenden
Leistungen des deutschen Maschinen- und Kesselbaus –, ist zwar eine bekannte Sache,
doch ist der Dampfkessel immer noch insofern ein Liebling der Behörden, als er sehr
häufig mit allerhand Vorschriften und Beanstandungen bedacht wird.
Jedenfalls darf man aus dem Anwachsen der leichteren Unfälle nach Fig. 5 nicht die Schlussfolgerung ziehen, es seien die
Arbeiter leichtsinniger gegenüber den Gefahren ihres Berufes geworden, weil sie
Aussicht auf eine sichere Unfallrente haben. Ein solches Verhalten widerstrebt schon
dem jedem Menschen tief eingewurzelten Selbsterhaltungstrieb.
Textabbildung Bd. 316, S. 201
Fig. 5a.Unfallversicherung.
Für württembergische Verhältnisse sind einige kennzeichnende Fälle herausgegriffen
und in Fig. 5a dargestellt. Die Kurven zeigen die
Zahl der Todesfälle, bezogen auf 100 Verletzte, in der württembergischen
Baugewerksberufsgenossenschaft, in den landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften
des Neckar-, Schwarzwald-, Jagst- und Donaukreises und in der süddeutschen Eisen-
und Stahlberufsgenossenschaft. Die letztere zeigt im ganzen Verlauf der Kurven die
niedrigsten Todesziffern, ein Beweis für die oben gemachte Ausführung.
Wie hat nun die Unfallversicherung ihre Aufgabe gelöst, dem
verletzten Arbeiter und seinen Angehörigen Unterstützung zu gewähren?
Nicht weniger als 71,1 Millionen Mark wurden im Jahr 1898 im ganzen an
Unfallentschädigungen ausbezahlt, davonentfallen allein 47,7 Millionen oder 67%
auf die gewerblichen Berufsgenossenschaften. Die Verteilung der genannten Summe
erfolgte nach Massgabe der Fig. 6. Der weitaus
grösste Teil der Gesamtsumme entfällt somit auf Renten: ihm zunächst stehen die
Rentenbeträge für die Kinder und Witwen der Getöteten. Auch die Kur- und
Verpflegungskosten in Krankenhäusern erreichen noch einen ansehnlichen Betrag. Die
Zahlen sprechen eine beredte Sprache. Sie zeigen uns, dass Mangel und Elend unter
den Betroffenen und ihren Hinterbliebenen durch das Eingreifen der Versicherung
wenigstens gemildert wurden. Die Not, die infolge eines Unfalls in die Familie des
Arbeiters einzieht, wird auch deshalb um so schmerzlicher empfunden, weil die
Störung der Erwerbsfähigkeit plötzlich und ganz unvermittelt auftritt.
Textabbildung Bd. 316, S. 201
Fig. 6.Unfallversicherung. Verwendung der
Entschädigungsbeträge von 71,1 Millionen Mark. 1898.
Die ausbezahlten Entschädigungsbeträge sind seit dem Inkrafttreten des Gesetzes
fortdauernd gestiegen, wie das in der Natur der Verhältnisse zunächst begründet
liegt. Die Ursachen sind zu suchen einmal in den mehrfach schon erwähnten
Ausdehnungsgesetzen, sowie in dem aus Fig. 4
ersichtlichen Anwachsen der gemeldeten Unfälle, ferner treten zu den aus früheren
Jahren vorhandenen, entschädigungspflichtigen Unfällen immer neue hinzu.
Fig. 7 zeigt in der Kurve A das Anwachsen der Entschädigungsbeträge für die gesamte
Unfallversicherung. Davon entfallen die durch Kurve B
ausgedrückten Teile allein auf die gewerblichen Berufsgenossenschaften, die z.B. im
Jahr 1898, wie schon oben erwähnt, 47,7 Millionen Mark zu tragen hatten. Die
Gesamtausgaben der gewerblichen Unfallversicherung lässt Kurve C erkennen. Die letzteren stiegen von 0,98 Millionen
auf 56,4 Millionen Mark. Von besonderem Interesse ist die Kurve D. Sie zeigt den Anteil der Verwaltungskosten in
Prozenten der Gesamtausgaben. Hiernach sanken diese anfangs rasch, später langsam
aber stetig von 27,7% auf 9,7%, d.h. nahezu auf den dritten Teil, ein Prozentsatz,
der dauernd immer noch mehr zurückgeht, was gewiss als ein Beweis dafür angesehen
werden kann, dass sich die Unfallversicherung immer mehr vereinfacht und sich immer
mehr einlebt. Kurve E gibt über die Ausgaben der
gesamten Unfallversicherung Aufschluss. Die Summe der Gesamtausgaben von rund 84
Millionen Mark im Jahr 1898 ist etwa so gross wie die gesamten Jahresausgaben des
Königreichs Württemberg (ohne den Militäretat). Der Abstand der Kurven C und E lässt erkennen, in
welchem Masse die übrigen Berufsgenossenschaften an den Ausgaben beteiligt sind.
Bei Betrachtung der Ausgaben (Kurve E und C) ist nicht zu übersehen, dass die
Berufsgenossenschaften nicht allein Geldentschädigungen an den Verletzten bezw. an
die Hinterbliebenen des Verunglückten leisten, sondern sie gewähren auch ärztliche
Behandlung und zwar suchen sie die eingebüsste Erwerbsfähigkeit durch ein möglichst
vollkommenes Heilverfahren thunlichst zu beschränken. Auch machen sie vielfach von
dem Recht Gebrauch, an Stelle der Unfallrente bis zum beendigten Heilverfahren freie
Kur und Verpflegung in einem Krankenhaus treten zu lassen, wobei sie neben dieser
Krankenhausverpflegung noch die Angehörigen des Verletzten mit Geldleistungen
unterstützen. Nach Fig. 6 beträgt dieser Aufwand für
1898 nahezu 4 Millionen.
Textabbildung Bd. 316, S. 202
Fig. 7.Unfallversicherung.
Entschädigungsbeträge.
An Entschädigungen bezahlten die gewerblichen bezw. landwirtschaftlichen
Berufsgenossenschaften die aus den Kurven G bezw. L ersichtlichen durchschnittlichen Entschädigungsbeträge für einen Unfall, d.h. 190 bezw.
79 Mark im Jahr 1898. Dieser Betrag ist hiernach in den letzten 8 Jahren in der
Industrie mehr als doppelt so gross gewesen, als in der Landwirtschaft. Beide Kurven
sind aber im Sinken begriffen, weil die schweren Unfälle, wie schon aus Fig. 5 hervorgegangen ist, abgenommen haben, und die
Unfallfolgen sich, dank der Heilthätigkeit der Berufsgenossenschaften, immer mehr
gemildert haben. Die durchschnittliche Entschädigung erscheint an und für sich
gering, doch ist nicht zu vergessen, dass die Entschädigung ja nach der Schwere des
Unfalls bemessen wird, und die leichteren Unfälle weit überwiegend sind, also den
Durchschnitt herabdrücken. In demselben Sinne wirkt der Umstand, dass die sehr
häufigen Unfälle berücksichtigt sind, in denen nur für einen Teil des Jahres die
Entschädigung zu zahlen ist. Wie aus dem Angeführten hervorgeht, ist man mit Erfolg
bestrebt, die Unfallfolgen abzuschwächen. Der früherePräsident des Reichs
Versicherungsamts Dr. Bödiker sagt darüber folgendes:
„Die obligatorische Unfallversicherung hat in der That eine bessere Heilung
der Verletzten und folgeweise eine möglichste Verminderung des Grades der
Erwerbsunfähigkeit zur Folge gehabt. Es wird dadurch in den Familien viel
Schmerz, Kummer und Sorge beseitigt. Wo sonst der Tod eintrat, wird das Leben
erhalten; wo sonst Verkrüppelung die Folge gewesen wäre, tritt jetzt die
Erhaltung gerader Gliedmassen ein. Aus Hunderten, ja Tausenden von ganz oder
teilweise Erwerbsunfähigen werden arbeitende, nützliche Glieder der Gesellschaft
gemacht, und an die Stelle der Last, Krüppel zu erhalten, tritt die
produzierende Kraft der Genesenen. Die drei Millionen Mark, welche die
Berufsgenossenschaften für diesen Zweck alljährlich etwa aufwenden, sind eine
höchst nützliche produktive Ausgabe. Es ist nicht zu viel behauptet, wenn gesagt
wird, dass vor Einführung der Unfallversicherung nicht der dritte Teil dieser
Summe auf die bedauernswerten Verletzten verwendet wurde.“
Aber nicht allein die Folgen der Unfälle werden durch das Eingreifen der
Unfallversicherung gemildert, man sucht die Unfälle selbst, soweit es in
menschlicher Macht steht, zu verhindern. Dieser Teil der Unfallversicherung, die Unfallverhütung, hat in der Folge eine der wichtigsten
Thätigkeiten der Berufsgenossenschaften hervorgerufen. Es entstanden in weitaus den
meisten der 65 gewerblichen Berufsgenossenschaften eingehende
Unfallverhütungsvorschriften. Die Massnahmen, die hierbei getroffen wurden, waren
meist derart, dass teils die Betriebseinrichtungen von vornherein schon bei ihrem
Entwurf mit Rücksicht auf die thunlichste Vermeidung von Unfallgefahren gestaltet
wurden, teils wurden bei den schon vorhandenen zweckentsprechende Schutz
Vorkehrungen getroffen. Es würde zu weit führen, wollte man alles hier aufzählen,
was in dieser Beziehung geleistet worden ist. Die erwähnten Massnahmen beziehen sich
nicht bloss auf Schutzvorrichtungen an Maschinen und Transmissionen, sondern es wird
nunmehr überhaupt auf zweckmässigere Einrichtung der Arbeitsräume geachtet,
insbesondere hat man im Auge die Schaffung ausreichender Arbeitsplätze zwischen den
Maschinen, bequemer Treppen, ausreichender Gänge, Nottreppen, Feuerleitern, man
achtet vor allem auf gute Beleuchtung, Lüftung, Heizung, zuverlässige Fahrstuhl
anlagen und Transportvorrichtungen in den Fabriken u.s.w.
Mit dem Erlass der Unfallverhütungsvorschriften geht eine ständige Ueberwachung der
Betriebe Hand in Hand, da ohne eine solche die Vorschriften wirkungslos bleiben
würden. Neben den staatlichen Gewerbeaufsichtsbeamten unterziehen sich die
„Beauftragten“ der Berufsgenossenschaften dieser wichtigen Aufgabe. Die
Unfallverhütungsthätigkeit hat sich, wie schon aus den Erörterungen zu Fig. 5 hervorgegangen ist, ausgezeichnet bewährt: Die
schweren Unfälle sind ganz erheblich vermindert worden, und wenn dasselbe bei den
leichteren Unfällen nicht auch bewirkt werden konnte, so ist dies auf Rechnung von
Einflüssen anderer Art zu setzen, von denen oben die Rede war.
Erwähnenswert im Hinblick auf die günstige Wirkung der Unfallverhütung ist, was der
Vorstand einer Holzberufsgenossenschaft im Jahr 1895 schreibt: „Das
Unfallversicherungsgesetz fand bei seinem Inkrafttreten die Schutzvorrichtungen
in der Holzbearbeitungsindustrie sehr spärlich und mangelhaft vor. Die
ausserordentlich zahlreichen Variationen in der Bauart und der Verwendungsweise
der Holzbearbeitungsmaschinen, sowie die hohen Anforderungen hinsichtlich der
Leistungsfähigkeit, die an diese Maschinen und an ihre Bedienungsarbeiter
gestellt werden, schienen es früher unmöglich zu machen, hier bestimmte
Schutzvorschriften festzustellen.“ Und ferner heisst es dort: „Thatsächlich hat infolge unserer intensiven allseitigen
Bemühungen die Schwere der maschinellen Unfälle sehr abgenommen; einzelne
charakteristische Arten von schweren Verletzungen, die früher sehr häufig
waren, kommen kaum noch vor.“
Bei all den angeführten Leistungen der Unfallversicherung ist nicht zu vergessen,
dass die Arbeiter der Unfall -versicherten Betriebe zur Deckung der Kosten sehr
wenig beitragen, dass sie also die Wohlthat des Gesetzes geniessen, ohne eine
nennenswerte Gegenleistung dafür aufbringen zu müssen, da die Beiträge für die
Unfallversicherung von den Unternehmern fast ausschliesslich getragenwerden.
Die versicherten Arbeiter beteiligen sich nur insofern an den Lasten, als sie zu den
Kosten der Krankenkassen, denen die Pflege des Verletzten während der ersten 13
Wochen obliegt, beitragen. Dieser Teil der Unfallkosten, der auf die Krankenkassen
entfällt, beträgt nur 12% der Gesamtkosten und hiervon haben die Arbeiter wiederum
nur ⅔ d. i. 8%, zu tragen, so dass 92% der Unfallkosten auf die Unternehmer
entfallen.
Trotz dieser grossen dauernden und jedes Jahr sich vermehrenden Ausgaben sind die
Vermögens Verhältnisse der Berufsgenossenschaften sehr günstige. Es waren nämlich
1898 137 Millionen Mark Reserven vorhanden, davon gehören den landwirtschaftlichen
Berufsgenossenschaften 5,9, den gewerblichen 131,4 Millionen Mark. Im Interesse
einer fortdauernden Leistungsfähigkeit der Unfallversicherung ist diese solide
Grundlage mit Befriedigung zu begrüssen.
(Schluss folgt.)