Titel: | Die Kettenschaltgetriebe am mechanischen Webstuhle. |
Autor: | Siegm. Edelstein |
Fundstelle: | Band 319, Jahrgang 1904, S. 331 |
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Die Kettenschaltgetriebe am mechanischen
Webstuhle.
Von Prof. Siegm. Edelstein.
(Fortsetzung von S. 317 d. Bd.)
Die Kettenschaltgetriebe am mechanischen Webstuhle.
δ) Die Differentialbremsen.
Bei den bisher betrachteten Anordnungen von Kettenbaumbremsen muss die entsprechende
Verkleinerung des Belastungszuges behufs Kompensation der Abnahme des
Kettenbaumdurchmessers bei der fortschreitenden Kettenabwicklung von Hand aus
zeitweilig besorgt werden. Es wurde schon früher ausgeführt, dass man zur Erfüllung
dieser Aufgabe auch eigene Getriebe der Bremse zugeben kann und dass derartig
ausgeführte Anordnungen als selbsttätige Bremsen oder Differentialbremsen bezeichnet
werden. Die Konstruktionsbedingung, welche diesem Getriebe zugrunde zu legen ist,
hat sich unter der Annahme, dass der Bremswiderstand am Umfang der Bremsscheibe
einfach und direkt proportional dem Belastungszuge wachse oder abnehme, ergeben mit
(Gleichung 5)
\frac{d\,L}{d\,d}=m
wenn das ursprüngliche Verhältnis
\frac{L_0}{d_0}=m
angeordnet wird. Es spricht sich diese Bedingung dahin aus,
dass das zu wählende Getriebe den Kraftarm des Belastungszuges (L) im selben Verhältnisse (m) verändern müsse, in welchem sich der Kettenbaumdurchmesser (d) verändert.
Wenn wir die Möglichkeit der praktischen Ausführung derartiger Bremsen ins Auge
fassen, so erkennen wir sofort, dass es wohl keiner Schwierigkeit unterliegen wird,
einen Mechanismus anzuordnen, der eine nach Gleichung 5 festgelegte und konstant
bleibende Uebersetzung bezw. Uebertragung einer linearen Grösse ermöglicht, dass
aber dieser nur unter ganz einschränkenden Annahmen erhobene Fall in dem Augenblick
verwickelt wird und zu einem ziemlich komplizierten Apparate führen muss, wenn wir
die genannte Einschränkung fallen lassen und mit der praktisch meist vorkommenden
Form der Bremse rechnen wollen.
Im Nachstehenden möge der näheren Erläuterung die Type der Hartmannschen Differentialbremse unterlegt werden.
Textabbildung Bd. 319, S. 331
Die Bremsscheibe B (Fig. 22 und 23) liegt
direkt auf der Mulde M auf, wie dies bei der einfachen
Muldenbremse üblich ist, und wird etwa ½ bis ⅔ ihres Umfanges von dem Bremsbande
umgriffen, das selbst bei p befestigt und auf der
entgegengesetzten Seite durch das Bremsgewicht unter Anwendung eines eigenen
Hebelwerkes belastet wird. Dieses letztere besteht zunächst aus dem Winkelgleithebel
Ll3, dessen
lotrecht stehender Arm L durch den Zug der Zugstange
c vermittels der Rolle r nach links gedrängt wird, wodurch der kurze horizontale Arm l3, der das freie Ende
des Stahlbandes erfasst, dieses letztere im gewünschten Maasse anspannt. Der zu
diesem Behufe der Stange c zu erteilende Zug wird durch
das Belastungsgewicht Q ausgeübt, das auf den
horizontalen Arm l1 des
Winkelhebels l1l2 aufgesetzt ist und
je nach Bedarf verstellt oder ausgewechselt werden kann. Der auf das freie Bandende
wirksame Zug rechnet sich sonach mit
Z=Q\,\frac{l_1}{l_2}\,\cdot\,\frac{L}{l_3} . . . . 27)
Dieser Belastungszug wird durch das Fühlwalzenge-Webe automatisch verändert, indem
der Hebelarm L durch Höher- oder Tieferstellen der
Zugstange c bezw. der Rolle r eine Veränderung erfährt. Zu diesem Zwecke ist die Stange c mittels des Stängelchens t durch den Arm b eines Winkelhebels in ihrer
Höhenlage gehalten, und dieser Hebel trägt an seinem anderen Arme a eine Fühlwalze w, die
sich gegen den Garnkörper des Kettenbaumes anlegt, so zwar, dass sie bei der
fortschreitenden Abnahme desselben während des Webens immer näher der Achse
desselben rückt, wodurch wieder durch Hebel a, b und
Stängelchen t ein entsprechendes Sinken der Rolle r, mithin eine Verkleinerung des Hebelarmes L eintritt. Das Maass dieser letzteren bestimmt sich
natürlich aus dem angewendeten Uebersetzungsverhältnisse und es ist im vorliegenden
Falle, wenn δ die Aenderung des Durchmessers d und λ jene der Hebelänge
L bedeutet:
\begin{array}{rcl}\frac{\delta}{2}\,:\,\lambda\,\frac{d'}{c}&=&a\,:\,b\\ \frac{\delta}{\lambda}&=&2\,\frac{a\,d'}{b\,c} \end{array} . . . 28)
Das Verhältnis \frac{\delta}{\lambda} ist nach zwei Richtungen bestimmt, erstens durch die
konstruktive Anordnung, d.h. durch die Längen der Hebelarme a, b, c und d' und weiter durch die
technologische Aufgabe, die das Getriebe zu erfüllen hat, und die eben darin
besteht, die Aenderungen der Belastungsgrösse am Umfange der Bremsscheibe in solchem
Sinne vorzunehmen, dass durch sie die Abnahme des Kettenbaumdurchmessers kompensiert
werde. Da diese beiden Bedingungen gleichzeitig erfüllt werden müssen, so leitet
sich aus ihnen die Konstruktionsbedingung für das Getriebe dahin ab, dass die
Hebelarme a, b, c und d'
so zu wählen sind, dass \frac{\delta}{\lambda} den aus der zweiten Bedingung geschöpften Wert
auch tatsächlich erhalte. Sei dieser etwa m, so
muss
\frac{2\,a\,d'}{b\,c}=m
gemacht werden, woraus sich dann die Hebelarme unter
Berücksichtigung der sonstigen praktischen Momente ermitteln lassen.
Wäre nun die Kettenspannung einfach und direkt proportional dem Belastungszuge Z, wie dies beispielsweise nahezu bei der einfachen
Seilbremse der Fall ist, so hätte man nach Gleichung 16 etwa
K=Z\,\frac{D}{d}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}
und im vorliegenden Falle
K=Q\,\frac{l_1\,L\,D}{l_2\,l_3\,d}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}
zu setzen, und wenn alle unveränderlichen Grössen durch den
Faktor G ersetzt werden
K=G\,\cdot\,\frac{L}{d}
Damit nun K = konstant bleibe,
muss auch
\frac{L}{d}=\mbox{ konst.}
sein und ebenso müssen auch die Veränderungen im konstanten
Verhältnisse stehen.
\frac{\lambda}{\delta}=\mbox{ konst.}
Nach Gleichung 28 ist
\frac{\lambda}{\delta}=\frac{1}{2}\,\frac{b\,c}{ad'}
Diese Bedingung \frac{\lambda}{\delta}=\mbox{ konst.} ist daher erfüllt, und es kommt jetzt nur noch auf
das ursprüngliche Wertverhältnis \frac{L_0}{d_0} an, um für die Hebelübersetzung die
bestimmte Grösse aufzufinden.
Ist, wie üblich, so ist
L_0=\frac{d_0}{2}
so ist
\lambda=\frac{1}{2}\,\delta
\frac{\lambda}{\delta}=\frac{1}{2}
und daraus
\frac{1}{2}\,\frac{b\,c}{a\,d'}=\frac{1}{2}
b c = a d'
und für die Hebelübersetzung ergibt sich die
KonstruktionsbedingungVergl. Reh, Mechanische Weberei.
a : b = c : d' . . . . . 29)
Würde allgemein
L
o
= m d
o
so wäre
λ = mδ
\frac{\lambda}{\delta}=m
\frac{1}{2}\,\frac{b\,c}{ad'}=m
b c = 2 m
ad'
und es ergäbe sich
2 ma : b = c : d' . . . . . . 30)
als Konstruktionsbedingung.
Diese einfache Beziehung verliert aber ihre Geltung, wenn die Voraussetzung der
Proportionalität zwischen Kettenspannung und Belastungszug nicht mehr zutrifft. Für
die einfache Muldenbremse ergab sich der Wert der Kettenspannung nach Gleichung 25,
wenn für den Belastungszug Z gesetzt wird, unter
Verwendung der oben erläuterten Bezeichnungen, mit:
K=Z\,\frac{D}{d\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}}+\left(Z\,\frac{e\,f^a+1}{e\,f^a}-Z\,\frac{D}{d}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}+G\right)\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D}
und führt man
Z=Q\,\frac{l_1}{l_2}\,\frac{L}{l_3}
ein, so wird
K=Q\,\frac{l_1\,L}{l_2\,l_3}\,\frac{D}{d}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}
+\,\left(Q\,\frac{l_1\,L}{l_2\,l_3}\,\frac{e\,f^a+1}{e\,f^a}-Q\,\frac{l_1\,L}{l_2\,l_3}\,\frac{D}{d}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}+G\right)\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D}
Um über das Verhältnis \frac{L}{d} Klarheit zu gewinnen, wollen wir alle Grössen,
welche konstant bleiben, zusammenfassenund durch Koeffizienten c1 und c2 andeuten, es sei
daher
Q\,\frac{l_1\,D}{l_2\,l_3}\,\frac{e\,f^a-1}{e\,f^a}=c_1
Q\,\frac{l_1}{l_2\,l_3}\,\frac{e\,f^a+1}{e\,f^{\alpha}}=c_2, dann wird
K=c_1\,\frac{L}{d}+\left(c_2\,L-c_1\,\frac{L}{d}+G\right)\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D}
K=c_1\,\frac{L}{d}+c_2\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D}\,L-c_1\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D}\,\frac{L}{d}+G\,\frac{\varphi\,D}{d+\varphi\,D} . . 31)
Wir erkennen sofort, dass durch Konstanthaltung des Wertes \frac{L}{d} die
Kettenspannung K nicht konstant bleiben wird; denn wenn
auch die erste Grösse c_1\,\frac{L}{d} dadurch, dass wir \frac{L}{d} mit Hilfe des
Differentialhebelgetriebes zu einem unveränderlich bleibenden Verhältnisse
gestalten, einen unveränderlich bleibenden Teilbetrag der Kettenspannung ergibt, so
erleiden doch die anderen integrierenden Bestandteile der Kettenspannung
Veränderungen, da nicht auch gleichzeitig die Verhältnisse
\frac{L}{d+\varphi\,D}
des zweiten,
\frac{L}{d\,(d+\varphi\,D)}
des dritten und
\frac{1}{d+\varphi\,D}
des vierten Ausdruckes in sich kompensiert werden oder sich
diese Ausdrücke gegenseitig kompensieren. Welcher Art die Veränderung der
Getriebeteile der Bremse sein müsste, um die Abnahme des Kettenbaumdurchmessers d zu kompensieren, ist vorläufig gleichgültig, denn das
eine geht aus dem eben Entwickelten klar hervor, dass der übliche und oben
beschriebene Mechanismus, der das Wertverhältnis \frac{L}{d} bezw. \frac{\delta}{\lambda}
fixiert, die hier gestellte Aufgabe zu lösen nicht imstande ist. Erst wenn der durch
die Muldenreibung hervorgerufene Bremswiderstand bezw. die Zapfenreibung bei
Anwendung der Bandbremse ausser Betracht fallen kann, d.h. so klein ist, dass man
näherungsweise φ = 0 setzen könnte, dann reduziert sich
die rechte Seite der Gleichung 31 und es wird
K=c_1\,\frac{L}{d}
als Kennzeichen jener Bremstypen, die oben des näheren
betrachtet wurden und für welche die Möglichkeit der Kompensation näherungsweise
besteht. –
Aber gerade bei der Betrachtung der Muldenbremsen, die heute die üblichste Form
derjenigen Kettenbaumbremsen vorstellen, die man noch mit dem Differentialwerke
ausstattet, haben wir erkannt, dass der von der Muldenreibung herrührende Anteil an
der Kettenspannung einen nicht unerheblichen Wert bilde, und für diese kann daher
festgestellt werden, dass hier das übliche Differentialgetriebe die ihm
zugeschriebene Wirkung zu erfüllen nicht in der Lage sei.
Man gibt sich auch in der Praxis gar keiner Täuschung über die Bewertung dieser
Anordnungen hin, man hat die Erfahrung gewonnen, dass sie ihrer Aufgabe nicht
entsprechen, und die vielen Fälle, dass am Stuhle etwa ursprünglich angeordnete
Differentialwerke einfach ausgeschaltet, abmontiert werden – die Rolle an den
Gleithebel eventuell durch eine primitive Verbindung festgelegt wird – beweisen am
deutlichsten die praktische Bewertung dieser Bremsentype. Freilich kommen hier noch
andere Umstände hinzu. Vor allem die meist übliche Kombination der
Differentialbremse mit einer einfachen Muldenbremse, so zwar, dass die eine rechts,
die andere links am Kettenbaume angebracht ist. Es ist einleuchtend, dass durch
diese Anfügung einer einfach wirkenden Muldenbremse an dem einen Kettenbaumende die
Kompensation, welche man von der Differentialbremse am anderen Ende erwarten kann,
nur um so weniger befriedigend eintreten, und dass nichts übrig bleibt, als dass der
Weber von Hand aus von Zeit zu Zeit seine Kettenspannung einstellt. Und neben diesem
Umstände, dass er die Differentialbremse genau so bedienen muss wie eine einfache
Bremse, muss er noch den Nachteil in Kauf nehmen, einen komplizierteren Apparat am
Stuhl zu haben, der namentlich beim Einlegen frischer Kettenbäume ein umständliches
Hantieren erfordert.
Die vorliegende Anordnung hat aber neben dem oben entwickelten prinzipiellen Fehler
auch in ihrer konstruktiven Einrichtung liegende Fehlerquellen, durch welche eine
ungünstige Beeinflussung der Kettenspannung hervorgerufen wird. Die Lage der
einzelnen Teile des Gestänges verändert sich durch verschiedene Umstände während des
Betriebes der Bremse; die Dehnung des Bremsbandes, das Lockern der Verbindungen
durch die Erschütterungen und die von der Veränderung der Lageder Fühlwalze
abgeleitete Verstellung sind die Ursachen, dass die der Rechnung zugrunde gelegte
Lage der Gestängeteile nicht unerhebliche Abweichungen erfährt, welche naturgemäss
auch auf das Kräftespiel der Bremse Einfluss nehmen. Die Kettenspannung, als das
Resultat dieses Kräftespieles, wird daher Schwankungen unterworfen sein, wodurch die
automatische Regulierung eine beträchtliche Einbusse erleidet. Aus all dem ist
ersichtlich, dass die Differentialbremse nur dann eine einigermaassen befriedigende
Gleichmässigkeit der Kettenspannung zu bieten vermag, wenn sie an sich als einfache Bandbremse oder reine
Gewichtsbremse und nur allein, nicht in
Kombination mit einer ohne Regulierapparat ausgestatteten Bremse anderer Art zur
Wirkung kommt und in ihrem Zusammenhange einen derartigen Aufbau aufweist, dass den
oben angeführten Fehlerquellen vorgebeugt wird.
Von diesen Ansprüchen ist der erst angeführte gewiss unschwer zu befriedigen, und es
kann nur als eine Verkennung der Aufgabe der Differentialbremse betrachtet werden,
wenn ihm – und praktische Ausführungen von Webstühlen zeigen dies gar nicht selten –
nicht Rechnung getragen wird. Viel schwerer ist es,
der zweiten Bedingung gerecht zu werden, in dieser Hinsicht zeigen auch andere
Typen, als die der Betrachtung zugrunde gelegte Anordnung Mängel, und es ist daher
nicht zu verwundern, wenn die Praxis diese gewiss interessante Art von
Kettenbaumbremsen ziemlich ausgeschaltet hat und zu den einfachen Typen
zurückgekehrt ist. Immerhin stellen sie bemerkenswerte Anordnungen vor und es sollen
im späteren die beiden hervorragendsten Vertreter derselben durch Skizzen vorgeführt
werden.
(Fortsetzung folgt.)