Titel: | Kraft, Gewicht, Masse, Stoff, Substanz. |
Autor: | K. Schreber |
Fundstelle: | Band 319, Jahrgang 1904, S. 673 |
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Kraft, Gewicht, Masse, Stoff, Substanz.Vorgetragen in Abteilung 3. Angewandte Physik und
Ingenieurwissenschaften der Naturforscherversammlung zu Breslau September
1904.
Von Dr. K. Schreber.
Kraft, Gewicht, Masse, Stoff, Substanz.
Die Fortschritte der Naturwissenschaften gegenüber den Beobachtungen des
klassischen Altertums sind wesentlich durch die strenge Methode der Messung bedingt,
welche Galilei zum erstenmale systematisch auf
naturwissenschaftliche Beobachtungen angewendet hat.
Es ist deshalb wohl berechtigt, eingehender über die Massysteme zu diskutieren.
Solche Diskussionen haben sich in der Physik namentlich in den achtziger Jahren des
vorigen Jahrhunderts abgespielt und haben ihre Reflexe auch in die Technik
hinübergeworfen. Im allgemeinen ist diese aber von ihnen verschont geblieben,
wesentlich wohl deshalb, weil sie sich gegenüber den Anforderungen der Physiker von
vornherein ablehnend verhalten hat.
Wenn ich nun hier trotzdem mit einem Vortrag über Masssysteme komme, so hoffe ich mit
meinem Vorschlag auf einen besseren Erfolg, weil ich in der Lage bin, Ihren
berechtigten Wünschen besser Rechnung zu tragen, als die bisherigen Vorschläge, ohne
dabei die Forderungen einer strengen Wissenschaft auch nur im geringsten ausser Acht
lassen zu müssen.
M. H.! Die in der Ueberschrift meines Vortrages genannten Begriffe haben einen
gewissen Zusammenhang miteinander, der zum Teil so eng ist, dass sie miteinander
verwechselt werden, und hierin liegt ein grosser Teil der Veranlassung, dass über
Massysteme noch verhandelt werden muss.
Der Begriff der Substanz ist von allen der allgemeinste,
weil wir als Substanz S jede Grösse bezeichnen dürfen,
welche der Bedingung ΣδS = 0 genügt; d.h. in einem
abgeschlossenen System ist die Summe der Aenderungen der verschiedenen Teile jener
Grösse Null oder mit anderen Worten, so sehr sich auch die einzelnen Teile ändern,
der Gesamtbetrag aller Teile bleibt ungeändert. Derartiger Substanzen gibt es eine
grosse Zahl: so ist die Energie eine Substanz, Masse und Stoff, aber auch
Bewegungsgrösse, Elektrizitätsmenge usw. sind Substanzen. Selbst Entfernung, Volumen
und dergl. sind als Substanzen zu bezeichnen. Als Beispiel von Grössen, welche nicht
der Bedingung der Substanz genügen, nenne ich die Entropie, die nur bei umkehrbaren
Vorgängen als Substanz erscheint. Wegen dieses grossen Umfanges des Begriffes
Substanz kann dieser wohl zur Charakterisierung einer physikalischen Grösse benutzt
werden, ist aber für sich allein kein physikalischer Begriff.
Anders ist es mit dem Begriff des Stoffes, welcher
häufig mit dem der Substanz verwechselt wird, weil er, wie schon erwähnt, die
Bedingung der Substantialität erfüllt. Stoffe haben wir ja auch eine sehr grosse
Zahl, aber alle haben das Gemeinsame, dass sie durch die Angabe ihrer chemischen
Reaktionen und sonstigen spezifischenEigenschaften charakterisiert werden. Der
Begriff des Stoffes ist durch das Vorhandensein chemischer Reaktionen bestimmt. Der
Stoff ist, wenn ich hier die Ostwaldsche Nomenklatur
anwenden darf, der Kapazitätsfaktor der chemischen Energie. Wer z.B. beim Kaufmann 1
kg Käse kauft, wünscht eine bestimmte Menge gewisser chemischer Reaktionen zu
erhalten; ob der Käse Gewicht, Masse oder dergl. ausserdem noch hat, ist ihm
gleichgültig; nur die seiner Zunge angenehmen, seinem Magen zuträglichen chemischen
Reaktionen wünscht er in bestimmter Menge zu erhalten.
Stoff ist also wirklich ein naturwissenschaftlicher Begriff; während Substanz nur
durch die mathematisch formale, naturwissenschaftlich inhaltlose Gleichung ΣδS = 0 bestimmt ist.
Das Wort Materie, welches auch häufig gebraucht wird und
dann bald mit Stoff, bald mit Substanz verwechselt wird, bedeutet meist den Stoff
überhaupt, den Urstoff; es bildet gewissermaassen die Grundlage einer, der Proutschen ähnlichen Hypothese von der
Zusammengehörigkeit der verschiedenen Stoffe. Materie ist also ähnlich wie der
Aether (Lichtäther) ein hypothetischer Stoff, dessen chemische Reaktionen und
spezifischen Eigenschaften je nach der Hypothese verschieden sind.
Die Bedeutung der noch übrigen drei Begriffe Kraft,
Gewicht und Masse will ich erst im Laufe des
weiteren Vortrages festlegen, denn gerade sie sind es, welche die Streitigkeiten um
die Massysteme bedingt haben, während die Begriffe Stoff und Substanz meist ziemlich
unschuldig an der durch die Verwechslung jener drei bedingten Verwirrung sind,
trotzdem in den Diskussionen auch mit ihnen viel herumgeworfen worden ist.
Wie weit diese Verirrung reicht, zeigt recht anschaulich das Reichsgesetz vom 26.
April 1893 über die Masse und Gewichte, in welchem folgende Definition gesetzlich
festgelegt ist: „Das Kilogramm ist die Einheit des Gewichtes. Es wird dargestellt
durch die Masse desjenigen Gewichtsstückes usw.“ Daraus, dass hier Masse und
Gewicht als gleiche physikalische Begriffe behandelt werden, hat man vielfach
geschlossen, man müsse sie nun auch in der Physik als gleiche Begriffe auffassen.
Glücklicherweise brauchen wir uns in der Physik, was die Begriffsbildung anbelangt,
nicht an die Staatsgesetzgeber zu halten. In dieser Beziehung sind uns Gesetzgeber
wie Galilei, Isaak Newton usw. die massgebenderen. Und
da es für den vom Staatsgesetzgeber beabsichtigten Zweck vollständig gleichgültig
ist, ob er in jenem Gesetz Masse oder Gewicht sagt, – der Staatsgesetzgeber will nur
ein Mittel angeben, Stoffmengen bestimmen zu können, und diese sind, wie die
Erfahrung gelehrt hat, unter den in der Praxis vorliegenden physikalischen
Bedingungen sowohl dem Gewicht als auch der Masse proportional – so ist es ihm auch vollständig
gleichgültig, ob wir uns bei unserer physikalischen Begriffsbildung um ihn kümmern
oder nicht. Wir dürfen also, ohne damit die Brauchbarkeit jenes Gesetzes irgendwie
anzutasten, sagen, der Staatsgesetzgeber hat die beiden verschiedenen physikalischen
Begriffe nicht auseinander zu halten gewusst.
Dieses Zusammenwerfen von Masse und Gewicht ist nun so alt wie die neuere Physik
überhaupt, und das ist historisch ganz begründet und deshalb zu entschuldigen. Als
Galilei seine ersten, für die Entwicklung der
Physik grundlegenden Messungen anstellte, beschäftigte er sich mit dem Gebiete der
Physik, in welchem ein speziell physikalischer Begriff noch nicht vorkommt. Die
beiden Begriffe, auf welche die ersten Gesetze Galileis, die Fallgesetze, aufgebaut sind, die des Raumes und der Zeit,
sind ja nicht im eigentlichen Sinne als physikalische Begriffe zu betrachten, sie
sind mathematische Begriffe, Anschauungsformen. Galilei
hatte also bei seinen ersten messenden Beobachtungen nicht nötig, physikalische
Begriffe zu bilden; er konnte die hierin liegende Schwierigkeit vermeiden.
An die Aufstellung der Fallgesetze schloss sich unmittelbar, d.h. schon durch Galilei angebahnt, die Ausbildung der Mechanik, in
welcher ja auch nur wenige physikalische Begriffe vorkommen. Mit dem Fortschreiten
der Entwicklung der Mechanik kam man immer mehr zu der Erkenntnis, dass die beiden
von Galilei in ebenso naiver Weise wie in dem oben
angeführten Reichsgesetz mit einander zusammengeworfenen Begriffe Masse und Kraft
scharf zu trennen sind. Am deutlichsten ist diese Trennung zu erkennen bei den
grossen französischen Geometern des 18. Jahrhunderts, welche die Hauptgleichung der
Mechanik aufgestellt haben. In derselben kommt stets, mag die spezielle Form
derselben sein, welche sie wolle, d'Alembert, Lagrange
usw., die Kraft und die Masse scharf von einander getrennt vor, jede verbunden mit
irgend einer uns hier nicht interessierenden Funktion von Ort und Zeit.
Trotzdem sie also scharf die Masse von der Kraft zu unterscheiden wussten, behielten
sie doch das alte von Galilei aus dem Altertum
übernommene Massystem bei, weil es, ohne irgendwo auf Schwierigkeiten zu führen,
seine Zwecke vollständig erfüllte. Neben den Einheiten von Raum und Zeit enthält
dieses von mir als Galileisches zu bezeichnende
Massystem als dritte, zum Vergleich von Stoffmengen dienende Einheit, die durch 1
ccm bezw. 1 cdcm Wasser im Maximum seines spezifischen Gewichtes bestimmte, welche
gleichzeitig noch sowohl als Einheit der Masse wie auch als Einheit der Kraft
aufgefasst wurde.
Der erste, welcher infolge dieser Unbestimmtheit auf Schwierigkeiten stiess, war Gauss, als er 1833 die magnetischen Messungen, welche
an verschiedenen Orten der Erde angestellt worden waren, vereinigen wollte.
Bei diesen magnetischen Messungen hatte man wesentlich die Grösse der magnetischen
Kraft bestimmen wollen und, weil sich Kräfte leicht mit Kräften vergleichen lassen,
jene Einheit der Stoffmenge als Einheit der Kraft aufgefasst. Als nun Gauss diese Messungen zusammenstellen wollte, zeigte
sich, dass er erst noch eine Umrechnung vornehmen musste, weil jene Einheit, als
Einheit der Kraft betrachtet, vom Ort, an welchem die Messung angestellt worden war,
abhängig ist. Um diese Umrechnung zu erleichtern, fasste Gauss jene Einheit als Einheit der Masse auf und erhielt so ein Massystem,
welches vom Ort auf der Erde unabhängig, oder wie er in seiner lateinischen Sprache
sich ausdrückte, „absolut“ war. Ich werde dieses Massystem, da es jetzt in
der Physik das herrschende geworden ist, das physikalische nennen.
In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat sich dieses Massystem immer
grössere Geltung verschafft, wesentlich weil seine Anhänger mit Hilfe des von Gauss in ganz anderer Bedeutung benutzten Wortes
„absolut“ behaupteten, es besässe vor allen anderen Massystemen einen
ganz besonderen Vorzug. Das ist nun durchaus nicht der Fall. Im Gegenteil, dieses
Massystem hat eine sehr leicht verwundbare Stelle, nämlich die Bestimmung des
Begriffes der Masse.
In wie vielen Lehrbüchern findet man nicht die nichtssagende Erklärung: Masse eines
Körpers ist sein Gehalt an Stoff, sein Gehalt an Materie, und ist nun natürlich
ebenso klug wie zuvor, denn was Materie, was Stoff sei, wird nicht gesagt und kann
auch garnicht gesagt werden, denn Stoff sowohl wie Materie gehören in das Gebiet der
Chemie, nicht der Mechanik. Höchst selten findet man die schon einigermassen
brauchbare Ableitung des Begriffes der Masse aus dem sog. Trägheitsvermögen, indem
die Masse eines Körpers der unter gleichen Umständen erhaltenen Beschleunigung
umgekehrt proportional gesetzt wird. Diese Beschreibung des Begriffes der Masse
setzt aber schon die Kenntnis des Begriffes der Kraft und ihrer Messbarkeit voraus,
welche unter den Worten „unter gleichen Umständen“ versteckt liegt. Wir
erhalten hier also die Masse nicht als Fundamentalbegriff, wie es das physikalische
Massystem verlangt, sondern abgeleitet aus dem noch nicht besprochenen Begriff der
Kraft, welcher doch als abgeleiteter Begriff gelten soll.
Der Bedingung einer von allen anderen physikalischen Begriffen unabhängigen
Definition genügt, soweit mir bekannt, einzig und allein die von Mach herstammende, welche in den Grundannahmen 5, 6, 7
der Prinzipe der Mechanik von Boltzmann scharf
präzisiert ist. Dieselben besagen, unter Vernachlässigung der Boltzmannschen Präzision gekürzt, dass, wenn zwei im
Raume allein vorhandene Körper aufeinander einwirken, sie sich Beschleunigungen
erteilen, welche in einem zu allen Zeiten und in allen Lagen konstanten Verhältnis
zu einander stehen. Der reziproke Wert dieses Verhältnisses wird als das Verhältnis
der Massen bezeichnet. Schreibt man einem Körper die Masse 1 zu, so ist hiernach die
Masse sämtlicher anderen Körper bekannt. In dieser Definition ist von Kraft keine
Rede, wenigstens braucht man von der Messbarkeit der Kraft noch gar nichts zu
wissen. Sie gibt also wirklich die Masse als Fundamentalbegriff, aber gleichzeitig
auch nur als mathematische Funktion ohne irgend welche physikalische
Anschaulichkeit. Sie ist deshalb nur in einem Kursus der theoretischen Physik für
Vorgeschrittene anzuwenden, und Boltzmann hat ja auch,
wie er selbst in der Vorrede sagt, beim Anblick seines Auditoriums seine Methode mit
einer einfacheren vertauscht.
Dieser vollständige Mangel an Anschaulichkeit der Machschen Definition ist wahrscheinlich auch der Grund, dass sie sich in den
nahezu 40 Jahren, seit sie bekannt gegeben, trotz ihrer sonstigen Strenge, keinen
Eingang in die Lehrbücher der Experimentalphysik und noch weniger in die Schulbücher
verschafft hat.
Mit dieser zwar mathematisch strengen, aber vollständig unphysikalischen Definition
der Masse sind aber die Schwierigkeiten des auf der Masse als Fundamentalbegriff
aufgebauten Systems noch nicht erschöpft. Der erste abgeleitete Begriff ist der der
Kraft; derselbe lässt sich in diesem System ausschliesslich geben durch die
Gleichung p = mg. Da die Masse keine Anschaulichkeit
hat, so hat die auf diese Weise definierte Kraft natürlich erst recht keine
Anschaulichkeit, d.h. sie bleibt eine mathematische Abkürzung für ein Produkt, ob
sie aber eine physikalische Grösse ist, ist nicht zu erkennen. Ausserdem ist diese
Definition sogar noch unzureichend, sie gibt nur dynamische Kräfte, nicht aber
statische. Die Kraft, mit welcher die Fahrbahn einer Brücke die einzelnen Stäbe des
Binders angreift, ist nach jener Gleichung weder zu definieren noch zu messen. Der
Begriff der Brücke verlangt ja, dass die Fahrbahn keine Beschleunigung hat, sondern
hübsch ruhig an ihrem Ort verharrt. Zu einem Mass für diese statischen Kräfte
gelangt man nur, indem man annimmt, die Brücke wäre zerstört, dann die
Beschleunigung der Fahrbahn beobachtet und nun die Hypothese macht, die mit dieser
Beschleunigung aus jener Definitionsgleichung sich ergebende Kraft wirke auch dann,
wenn die Fahrbahn keine Beschleunigung erfährt.
Das physikalische Massystem leidet also an dem Mangel, dass die Definition seines
Fundamentalbegriffes der Masse ohne jedwede Anschaulichkeit ist, dass dem daraus
abgeleiteten Begriff der Kraft ebenfalls die Anschaulichkeit vollständig abgeht und
ihm erst durch Zuhilfenahme von Hypothesen die völlige Brauchbarkeit verschafft
werden kann.
Diesen Mängeln steht der Vorzug, ein absolutes Massystem zu sein, gegenüber. Es fragt
sich, ob das physikalische Massystem diesen Vorzug für sich allein in Anspruch
nehmen darf.
Nimmt man die oben fixierte, ursprünglich zum Abmessen von Stoffmengen bestimmte
Einheit als Einheit der Kraft, so erhält man freilich ein Massystem, welches von dem
Ort auf der Erde, für welchen es definiert ist, abhängt. Ehe man aber deshalb den
Begriff der Kraft als Fundamentalbegriff verwirft, muss man sich die Frage vorlegen:
lässt sich nicht eine Einheit der Kraft definieren, welche von dem Ort, an welchem
sie definiert ist, unabhängig ist.
Ich will gleich bemerken, dass ich Ihnen eine solche Einheit der Kraft vorschlagen
werde. Was ist nun damit erreicht? Damit, m. H., erreicht man, dass der dritte zum
Massystem der Mechanik neben Raum und Zeit nötige, aus der Physik stammende
Fundamentalbegriff eine derartige Anschaulichkeit bietet, dass dieses Masssystem auf
den einfachsten Schulen ohne die geringste Inkonsequenz vorgetragen und dass auch
der Begriff der Masse aus diesem Fundamentalbegriff der Kraft in anschaulichster
Weise abgeleitet werden kann.
Diese Anschaulichkeit des Begriffes der Kraft als Fundamentalbegriff liegt darin
begründet, dass der Mensch, wie Redtenbacher sich
ausdrückt, in seinen Muskeln einen Kraftsinn hat. Man nennt jede Anstrengung der
Muskel eine Kraft, mag diese nun bedingt sein durch eine rein statische Kraft, z.B.
das ruhige Hochhalten eines Gewichtes, oder durch dynamische Kräfte, z.B. durch die
Beschleunigung, welche man einer Kegelkugel erteilen will, oder durch sonst irgend
eine Anstrengung unserer Muskel. Ueberall wo wir unsere Muskeln anstrengen müssen,
sprechen wir von Kräften, und zwar der wissenschaftlich vollständig ungeübte
Arbeiter genau ebenso wie der gelehrteste Physiker und Vertreter der theoretischen
Mechanik. Der Mensch hat ebenso wie für die Temperatur und das Licht einen Sinn für
die Kraft.
Kraft ist diejenige physikalische Grösse, welche der Mensch
durch eine Anstrengung seiner Muskeln ersetzen oder aufheben kann.
Die Vertreter der Technik sind also vollständig im Recht gewesen, wenn sie sich gegen
das physikalische Massystem ablehnend verhalten haben, welches ihnen den zur
Verständigung mit dem Arbeiter unerlässlichen Begriff der Kraft hat nehmen wollen.
Aber sie müssen sich eine andere Einheit der Kraft gefallen lassen, denn die
bisherige hat den schon erwähnten Uebelstand der Abhängigkeit vom Ort, welche
allerdings bis jetzt noch nicht viel schadet, aber bei der überall sich
bemerkbarmachenden Entwicklung zur exakten Genauigkeit doch sehr hinderlich
ist.
Die Veranlassung dazu, eine so wenig allgemein gültige Einheit der Kraft aufgestellt
zu haben, hat der Umstand gegeben, dass man das Gewicht als Prototyp der Kraft
überall und zu jeder Zeit bequem zur Verfügung hat.
M. H.! Während ich hier das Gewicht als eine spezielle Form der Kraft bezeichnet
habe, findet man häufig Gewicht mit Masse oder Stoffmenge identifiziert, weil man
mit den gewöhnlichen Hebelwaagen Gewichte, Massen und Stoffmengen vergleichen kann.
Das liegt aber nur daran, dass bei den normalen Hebelwaagen die äussseren
Verhältnisse derart liegen, dass Gewicht, Masse und Stoffmenge eines Körpers in
einem für alle Körper gleichen Verhältnis zu einander stehen. Sobald man der
Hebelwage Dimensionen gibt, welche mit denen der Erde vergleichbar sind, z.B. einen
Hebelarm gleich einem Erdquadranten, so dass die eine Schale am Pol, die andere am
Aequator hängt, oder eine den Hebel tragende sehr hohe Stange, so dass die eine
Schale bedeutend höher hängt als die andere, so hört sofort die Proportionalität
zwischen Gewicht einerseits und Masse und Stoffmenge anderseits auf. Von einer
Identität von Gewicht und Masse oder Gewicht und Stoffmenge kann also keine Rede
sein. Dagegen hat das Gewicht eine die Kraft charakterisierende Eigenschaft: es ist
eine gerichtete Grösse. Mag die Wage sonst eingerichtet sein wie sie wolle, sie ist
nur dann brauchbar, wenn ihre Schalen vertikal hängen, d.h. nach dem Mittelpunkt der
Erde gerichtet sind und sich nur in dieser Richtung bewegen. Da man nun das, was
durch die Wage festgestellt wird, als Gewicht bezeichnet, so ist das Gewicht eine
spezielle Kraft, nämlich die Kraft, mit welcher jeder zur Erde gehörige Körper nach
dem Erdmittelpunkte hingezogen wird.
Das Gewicht eines Körpers ändert sich aber, wie die Erfahrung gezeigt hat, von Ort zu
Ort auf der Erde. Wenn also auch das Gewicht als das Muster einer Kraft angesehen
werden darf, weil sie überall vorhanden und soweit die Erfahrung reicht, von der
Zeit unabhängig ist, so darf es doch nicht zur Definition der Krafteinheit benutzt
werden.
Nun ist aber, wie Isaak Newton gezeigt hat, das Gewicht
nur die auf unsere irdischen Verhältnisse bezogene Form einer Kraft, welche, soweit
unsere Beobachtungen reichen, alle Körper auf und ausserhalb der Erde beherrscht.
Wie die Erde jeden Teil ihrer selbst mit einer bestimmten, durch das Gewicht
gemessenen Kraft anzieht, so ziehen sich nach Newtons
Gravitationsgesetz sämtliche Körper an, mögen sie auf der Erde oder innerhalb des
Sonnensystems sich befinden oder auch nur innerhalb des unseren Beobachtungen
zugänglichen Weltalls enthalten sein.
Nimmt man diese allgemeinere Gravitationskraft als den Prototyp der Kraft, so erhält
man eine Einheit der Kraft, welche durch das ganze Weltall, soweit das Newtonsche Gesetz reicht, denselben Wert behält.
Ich definiere nach diesem Gesetz als Einheit der Kraft die Kraft, mit welcher sich
zwei Wasserkugeln von je 1 ccm Volumen beim Maximum des spezifischen Gewichts des
Wassers anziehen, wenn sich ihre Oberflächen gerade berühren. Diese Kraft nenne ich
nach dem Vornamen Newtons ein Isaak oder abgekürzt ein
Is.
Diese Krafteinheit hat nicht nur auf allen Punkten der Erde denselben Wert, sondern
auch auf denen des Mondes und aller Sterne und ebenso auch in den Indifferenzzonen
zwischen Erde und Mond usw., wo ein Körper weder nach der Erde noch nach dem Mond
angezogen, wo also sein Gewicht in bezug auf die Erde wie auf den Mond Null ist. Sie
ist von allen Zufälligkeiten des Ortes, an welchem sie hergestellt ist, unabhängig
und lässt sich
überall, wo der Stoff Wasser in dem angeführten Zustand vorhanden ist, ohne weiteres
herstellen.
Wir haben also hier eine Einheit der Kraft, welche dieselben und zwar genau dieselben
Anforderungen an Absolutheit erfüllt wie im physikalischen Massystem die Einheit der
Masse, haben aber ausserdem noch die Vorteile, welche aus der Anschaulichkeit des
Begriffs hervorgehen.
Wir müssen nun noch eine in unser System passende Einheit der Masse definieren.
Von dem durch den Kraftsinn gegebenen Begriff der Kraft kann man auf verschiedenen
Wegen zum Begriff der Masse gelangen: Man erteilt entweder demselben Körper mit
verschiedenen Kräften Beschleunigungen; die Beobachtung ergibt, dass diese von einer
als Masse zu bezeichnenden Eigenschaft des Körpers abhängen; auf diese Weise erhält
man die Masse als das Maass des schon von Galilei
erkannten Trägheitsvermögens der Körper. Oder man geht vom Begriff der Kraft zum
Begriff der Arbeit über, welcher ebenfalls ganz allgemein verständlich und
anschaulich ist und erhält dann aus dem Energiegesetz bei Umwandlung von Energie
irgendwelcher Art in Bewegungsenergie, dass jeder Körper eine für die
Aufnahmefähigkeit von Bewegungsenergie charakteristische Eigenschaft hat, welche wir
seine Masse nennen. Beide Wege ergeben die Masse als einen physikalischen,
anschaulichen Begriff.
Als Einheit der Masse wird man in diesem Masssystem konsequenterweise die Masse einer
Kugel Wasser im Maximum des spezifischen Gewichtes nehmen, welche auf eine ihr
gleiche Kugel, wenn sich ihre Oberflächen gerade berühren, die Einheit der Kraft, 1
Is ausübt. Erinnert man sich der oben gegebenen Definition des Is, so erkennt man,
dass die Einheit der Masse gleich der Masse von 1 ccm Wasser im Maximum des
spezifischen Gewichtes ist. Die Masseneinheit ist also der Grösse nach dieselbe wie
in dem jetzt gebräuchlichen physikalischen Massystem.
Damit haben wir ein Massystem erhalten, welches nicht nur alle Anforderungen an
Unabhängigkeit von den Eigenschaften der Erde erfüllt, welche man billigerweise
stellen kann und im physikalischen Massystem auch nur stellt, – es wäre ein
Leichtes, auch Längen- und Zeiteinheit absolut zu wählen – sondern welches auch
sowohl für seine Fundamental- wie für die abgeleiteten Einheiten vollkommene
Anschaulichkeit bietet. Ausser der Anschaulichkeit der Masse als Mass für das
Trägheitsvermögen bezw. als Mass für die Aufnahmefähigkeit von Bewegungsenergie ist
z.B. die Dimension der Arbeit [Is. cm] der Pferdestärke [Is. cm. sec–1], des Atmosphärendruckes [Is. cm–2] usw.; aus jeder Dimension kann man ohne
weiteres wieder rückwärts die Definitionen der betreffenden abgeleiteten Einheit
ablesen.
Der Uebergang zu diesem von mir vorgeschlagenen absoluten Massystem ist der Physik
dadurch erleichtert, dass die Grösse der Masseneinheit dieselbe geblieben ist; es
muss nur die Anordnung der Mechanik geändert werden, indem man wieder, wie früher,
mit dem Begriff der Kraft als Fundamentaleinheit anfängt.
Für die Technik wird eine derartige Aenderung nicht notwendig, da in ihr stets der
Kraftbegriff an dem Anfang der Mechanik gestanden hat. Auch ihre gewöhnliche
Krafteinheit, das Kilogrammgewicht, kann sie in der Praxis beibehalten. Da nämlich
das Is sehr klein ist, so muss man für die Praxis eine grössere Einheit definieren,
ebenso wie es in der Elektrotechnik geschieht, deren Einheiten Volt, Ampère usw.
auch nicht ohne weiteres in das C. G. S-System passen.
Statt nun durch Potenzen von 10 eine für die Praxis passende Grösse der Krafteinheit
zu schaffen, kann man das Kilogrammgewicht definieren als 2, 263. 1013. Is. Diese Definition des
Kilogrammgewichtesgilt natürlich nur für einen bestimmten Ort. Es ist aber ein
Leichtes, sobald die Genauigkeit technischer Kraftmessungen das verlangt, die
Abhängigkeit vom Ort in dieser Beziehung zum Ausdruck zu bringen, sodass man das
Kilogrammgewicht für jeden Ort in Is angeben kann.
Man könnte sich vielleicht daran stossen, dass die Beziehung zwischen
Kilogrammgewicht und Is nicht durch eine einfache Potenz von 10 anzugeben ist,
trotzdem doch überall das dekadische Zahlensystem benutzt wird. Eine derartige
scheinbare Inkonsequenz haben wir aber auch schon in unserem Längenmaass. Das Meter
war ursprünglich definiert als 10–7 Erdquadrant.
Bei den jetzigen genaueren Messungen hat sich herausgestellt, dass der Erdquadrant
mehr als 107 mal die Länge des in Paris
aufbewahrten als Meter bezeichneten Stabes ist. Man hat aber deshalb nicht die Länge
des Meterstabes geändert, sondern nimmt noch immer diesen Stab als die Einheit der
Länge und bemüht sich nur, die Beziehung dieses Stabes zum Erdquadranten möglichst
genau festzustellen. Dieselbe Aufgabe liegt hier vor. Das Is ist durch die
Definition vollkommen festgelegt; ebenso das Kilogrammgewicht durch das in Paris
aufbewahrte Platinstück. Aufgabe der messenden Physik ist es, die Beziehung zwischen
beiden möglichst genau festzustellen. Je genauer diese Beziehung bekannt ist, umso
genauer hat man das Kilogrammgewicht in absoluten Einheiten. Gerade so wie man durch
fortgesetzte Beobachtung auch die Beziehung des Ohm zur Quecksilbereinheit des
Widerstandes immer genauer festgestellt hat.
Man könnte mir nun vielleicht noch den Vorwurf machen, dass ich die Namen Gramm bezw.
Kilogramm bald für die Masse, bald für das Gewicht genommen und somit die jetzt
bestehende Möglichkeit, beide mit einander zu verwechseln, nicht aus der Welt
geschafft habe. Ein Mittel, diese Mehrdeutigkeit zu beseitigen, hat schon lange vor
mir Oberbeck vorgeschlagen:
Wie schon oben gesagt, dient das Kilogramm nach dem Reichsgesetz und in der Praxis
wesentlich zum Vergleichen von Stoffmengen. Die Chemiker nehmen zwar schon lange als
Einheit der Stoffmenge die Mole, d.h. das in Gramm ausgedrückte Molekelgewicht des
betreffenden Stoffes. Da aber für die meisten im bürgerlichen Leben gehandelten
Stoffe ein Molekelgewicht nicht angegeben werden kann, z.B. für Schweizerkäse, so
kann der Kaufmann diese wissenschaftliche Einheit nicht gebrauchen, sondern wird
stets Kilogramm anwenden müssen, wenn er eine bestimmte Menge eines Stoffes abmessen
will. Für diese häufigste Anwendung schlage ich vor, die Namen und Bezeichnungen,
wie sie vom Reichsgesetz vorgeschrieben sind, zu belassen. Für die in der
Wissenschaft und Technik vorkommenden Anwendungen schlage ich die schon von Oberbeck benutzten Namen Grammasse und Grammgewicht
bezw. Kilogrammasse und Kilogrammgewicht vor mit den Bezeichnungen gm und gg bezw. kgm und kgg, in denen an die vom Gesetz
vorgeschriebenen Bezeichnungen ein „m“ oder ein „g“ angehängt wird, je
nachdem man den für- die Messung des Stoffes bestimmten Namen auf die Messung der
Masse oder des Gewichtes übertragen will.
Zusammenfassend kann ich also sagen, das von mir vorgeschlagene Massystem vereinigt
die Unabhängigkeit der Einheiten vom Ort auf der Erde, wie sie das physikalische
System bietet, mit der Anschaulichkeit aller Einheiten des technischen Systems, ohne
dass seine Einheiten sich in ihrer Grösse von den bisher gebrauchten Einheiten
unterscheiden; nur die wissenschaftliche Definition wird eine andere, und in den
Bezeichnungen wird eine deutliche Unterscheidung zwischen den Einheiten für
Stoffmengen, für Massen und für Gewichte vorgeschlagen.