Titel: | Das Eisenbahn- und Verkehrswesen auf der Weltausstellung in St. Louis 1904. |
Autor: | M. Buhle, W. Pfitzner |
Fundstelle: | Band 320, Jahrgang 1905, S. 369 |
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Das Eisenbahn- und Verkehrswesen auf der
Weltausstellung in St. Louis 1904.
Von Professor M. Buhle und Dipl.-Ing. W.
Pfitzner,
Dresden.
(Fortsetzung von S. 356 d. Bd.)
Das Eisenbahn- und Verkehrswesen auf der Weltausstellung in St.
Louis 1904.
5. Besondere Einzelteile von Lokomotiven.
Wie schon eingangs erwähnt, ist der Bezug von Ausrüstungsteilen, Ventilen, Bremsen
usw. seitens der Lokomotivfabriken von Spezialfabriken in Amerika sehr ausgedehnt,
und dies Verfahren geht oft so weit, dass sogar die wichtigsten Teile der
Dampfmaschine aus anderen Fabriken stammen. Auf der Ausstellung waren eine Reihe von
Firmen vertreten, die solche Hilfsteile ausstellten; am interessantesten waren
darunter die von der American Balanced Valve Co.
vorgeführten Schieberkonstruktionen.
Textabbildung Bd. 320, S. 369
Fig. 78. Kolbenschieber der American Locomotive Co.
Im allgemeinen ist in Amerika ein Uebergang vom Flachschieber zum Kolbenschieber zu
bemerken. Die American Lokomotive Co. z.B. hat bereits
im Jahre 1903 etwa die Hälfte aller Lokomotiven mit Kolbenschiebern ausgerüstet,
hauptsächlich um bei den immer grösser werdenden Dampfdrücken eine geringere
Schieberreibung zu haben, dann auch, um günstigere Dampfwege mit geringerer
Oberfläche zu bekommen. Die von der American Locomotive
Co. ausgeführte Konstruktion ist in Fig. 78
dargestellt. Der Kolbenschieber ist mit Kolbenringen von winkelförmigem Querschnitt
gedichtet, so dass die Dampfabschlüsse sehr scharf erfolgen und keine Drosselung
durch den Schieberkörper eintritt. Die Dampfwege sind sehr kurz. Als
Sicherheitsventile bei Ueberdruck im Zylinder sind Umströmventile vorgesehen, die
zwischen Frischdampfkammer und Zylinderkanälen liegen (in Fig. 78 einmal geschnitten, einmal geschlossen dargestellt) und sich nach
der Frischdampfkammer hin öffnen. Diese Ventile dienen gleichzeitig dazu, beim
Leerfahren der Lokomotive eine Verbindung zwischen den beiden Kolbenseiten
herzustellen, um die sonst eintretende Kompression der Luft zu vermeiden.
Textabbildung Bd. 320, S. 369
Kolbenschieber der American Balanced Valve Co.
Textabbildung Bd. 320, S. 369
Fig. 81. Anpressung der Kolbenringe von Fig. 79.
Die American Balanced Valve Co., San Francisco, Cal.,
führte nun neben einigen bekannten Konstruktionen von entlasteten Flachschiebern
einen Kolbenschieber vor, der verschiedene Mängel der gewöhnlichen Ausführungen
vermeiden soll, vor allem die Undichtheit der eingeschliffenen Kolbenschieber ohne
Dichtungsringe, und die übermässige Abnutzung der durch Dampfdruck angepressten
Dichtungsringe. Die Konstruktion ist in Fig. 79–81 dargestellt.
Es werden an jedem Schieberende drei geschlitzte, ausdehnbare, und zwei ungeteilte
Ringe verwendet, die mit Kegelflächen aufeinander liegen. Durch eingegossene
Oeffnungen im Schieberkörper wird der Frischdampf unter die Ringe geleitet, die
geteilten Ringe (in der Fig. 79 von schwarzem
Querschnitt) werden also nach aussen gepresst. Dabei legt sich der mittlere Ring
gegen die beiden geschlossenen Ringe, die äusseren Ringe suchen sich dagegen unter
dem Dampfdruck nach aussen, unter der Einwirkung der festen Ringe nach innen zu
bewegen. Es findet also eine Entlastung der steuernden Ringe statt; die Grösse der
Entlastung ist durch die Wahl der Ringbreiten und die Lage der Kegelflächen ziemlich
beliebig. In Fig. 81 ist die Kräfteverteilung näher
dargestellt, ohne Berücksichtigung der Reibung, die bei bewegtem Schieber als nicht
vorhanden angesehen werden kann. Der Dampfdruck M auf
den mittleren Ring liefert die Anpressungskräfte a
gegen die geschlossenen Ringe. Kraft a zerlegt sich in
eine weitere Anpressungskomponente b und in eine nach
aussen gerichtete Kraft C, die von dem geschlossenen
Ringe aufgenommen wird. Die Kraft b liefert eine dem
Dampfdruck S entgegengerichtete Komponente N und eine Anpressungskraft D gegen die Wände des Schieberkörpers. Die Kraft R, mit der die steuernden Ringe an die Schieberspiegel angepresst werden,
ist also die Differenz von S und N.
Während also die Steuerringe mit einer verhältnismässig kleinen Kraft angepresst
werden, sind zur Dichtung der seitlichen Berührungsflächen ziemlich grosse
Komponenten vorhanden, Die Firma gibt an, dass besondere Sicherheitsventile an den
Zylindern nicht nötig sind, dass also die Ringe bei Wasserdruck aus dem Zylinder her
genügend nachgeben. Die Schlitzstellen aller Ringe sind sowohl am inneren Umfang als
auch seitlich überlappt, wie es in Fig. 80 zu sehen
ist.
Im Anschluss an diese Konstruktion sei hier noch eine Neuerung vorgeführt, die zwar
nicht unmittelbar auf der Ausstellung zu sehen war, die jedoch vom Konstrukteur in
St. Louis an anderer Stelle vorgeführt wurde. Es ist dies eine Verbesserung an der
Stephenson-Steuerung, ausgeführt von der Locomotive Appliance Co., Chicago, III.
Die Verbesserung zielt darauf ab, die bei allen Kulissensteuerungen sehr
frühzeitig beginnende Kompression später anfangen zu lassen, ebenso die
Vorausströmung einzuschränken, kurz mit den Kulissensteuerungen ein dem Diagramm
stationärer Dampfmaschinen ähnliches Diagramm zu erzielen. Wenn dies möglich ist,
dann ergibt sich bei gegebenen Zylinderabmessungen eine wesentliche bessere
Dampfausnutzung, einmal wegen der volleren Diagramme, dann aber auch infolge der
möglichen Verkleinerung des schädlichen Raumes oder besser der schädlichen Flächen.
Die bei kleinen Füllungen sehr frühzeitig beginnende Kompression zwingt bei
Lokomotiven zur Ausführung verhältnismässig sehr grosser schädlicher Räume, um die
Kompressionsendspannung nicht allzu hoch werden zu lassen. Damit stehen stets grosse
Abkühlungsflächen in Verbindung, die bei jeder Füllung entsprechende
Kondensationsverluste und auch Spannungsverluste verursachen. Alle diese Verluste
können eingeschränkt werden, wenn eine geringere Kompressionsdauer kleinere
schädliche Räume auszuführen erlaubt.
Die Verbesserung, nach den Konstrukteuren Allfree-Hubbell-Steuerung genannt, besteht in einer Beeinflussung der
normalen Schieberbewegung durch eine vom Kreuzkopf der Maschine abgeleitete
Zusatzbewegung, ohne Aenderung der gewöhnlichen Steuerung und der gewöhnlichen
Schieberformen, abgesehen, wenn der schädliche Raum das verlangt.
Textabbildung Bd. 320, S. 370
Fig. 82 und 83. Allfree-Hubbell-Steuerung
Die konstruktive Ausführung der wesentlichen Teile ist in Fig. 82–84 dargestellt. Fig. 83 zeigt die
Schwinge, die die Ueberleitung der Bewegung von der innen liegenden Kulisse nach dem
aussen befindlichen Schieberkasten vermittelt, in der Längsrichtung der Lokomotive
gesehen. Bei a greift die Stange von der Kulisse an,
bei b die Schieberstange. Dieser Angriff bei b geschieht unter Vermittlung eines drehbaren
exzentrischen Bolzens, der aussen ein kleines Zahnrad trägt, in das ein vom
Kreuzkopf mit Gegenhebel (Fig. 82) bewegtes
Zahnsegment eingreift. Bei festgehaltener Kulisse bringt der Kreuzkopf demnach eine
Drehung des exzentrischen Bolzens und damit eine kleine Schieberbewegung hervor, die
sinusartig verläuft. Einem Hub des Kreuzkopfes entsprechen etwa 1½ Umdrehungen des
Bolzens. Diese Bewegung setzt sich nun mit der von der Kulisse kommenden normalen
Schieberbewegung zusammen, der exzentrische Bolzen beschreibt auf dem Schwingbogen des
Haupthebels zykloidische Kurven, der Schieber selbst wird auf einigen Punkten seines
Weges kurze Zeit festgehalten, andere Teile legt er mit beschleunigter
Geschwindigkeit zurück. Die Schieberbewegung ist am besten aus dem
Schieberwegdiagramm (Fig. 85) zu ersehen. Die
ursprünglichen Ellipsen der Stephenson-Steuerung
erscheinen an zwei Stellen nach unten und oben verdrückt, die Folge der flachen
Sinusbewegung, die etwa der strichpunktierten Kurve entspricht. Bei dieser Form der
Schieberellipsen rücken die Punkte der Vorausströmung und der Kompression mehr an
die Enden des Diagrammes, im zweiten Drittel des Hin- und Rückganges ist die
Schieberbewegung für eine kurze Zeit fest Null. Die lineare Voreilung wird gegenüber
der reinen Stephenson-Steuerung etwas vergrössert, die
Voreinströmung selbst ist etwas verzögert. Nicht schön ist der bei grösseren
Füllungen schleichend werdende Abschluss, der bei kleinen Füllungen dagegen etwas
verbessert erscheint.
Textabbildung Bd. 320, S. 371
Fig. 84. Allfree-Hubbell-Steuerung.
Textabbildung Bd. 320, S. 371
Fig. 85. Schieberellipsen der Allfree-Hubbell-Steuerung.
Die Wirkung der neuen Dampfverteilung ist in einem Vergleich mit der gewöhnlichen
Steuerung in Fig. 86 zu ersehen. Die Fig. 86 enthält zwei Diagramme kleinerer Füllung der
Stephenson-Steuerung, gestrichelt, dazu zwei
Diagramme, die nach Anbringung des Allfree-Hubbell-Mechanismus mit demselben Zylinder ohne jede weitere Aenderung
erhalten wurden. Augenscheinlich ist die Füllung bei den letzteren Diagrammen etwas
kleiner als bei den anderen, trotzdem ist der mittlere Druck eine Kleinigkeit
grösser, durch die später beginnende Kompression werden ziemlich bedeutende
Diagrammflächen gewonnen.
Textabbildung Bd. 320, S. 371
Fig. 86. Dampfdiagramm der gewöhnlichen Stephenson- und der
Allfree-Hubbell-Steuerung.
Textabbildung Bd. 320, S. 371
Fig. 87. Diagramme mit wachsender Füllung, Allfree-Hubbell-Steuerung.
Aus dem Diagrammbündel der Fig. 87 ist die Wirkung
der Steuerung für weitere Füllungsgrenzen zu sehen, einen noch besseren Einblick in
den erzielbaren Gewinn gibt Fig. 88, in der zwei
Diagramme übereinander gezeichnet sind, von denen das eine einer gewöhnlichen, das
andere einer Allfree-Hubbell-Lokomotive entnommen
worden ist, und zwar unter fast ganz gleichen Belastungsbedingungen. Bei der Allfree-Hubbell-Maschine waren die schädlichen Räume,
soweit es die Kompression erlaubt, verkleinert, auf 2,4 v. H. gegen 8,81 v. H.
beider normalen Maschine. Es geschieht dies durch Teilung des Schiebers und
Verkürzung der Dampfwege im Zylinder, unter möglichster Verringerung der
Wandungsflächen. Die Folge dieser Aenderung, die eben nur durch die Aenderung in der
Steuerwirkung möglich wird, ist eine bedeutend verringerte Zylinderkondensation,
während bei der gewöhnlichen Steuerung 39 v. H. Füllung notwendig waren, um die
verlangte Leistung zu erreichen, sind bei der geänderten Maschine nur noch 30 v. H.
nötig. Diese Dampfersparnis macht sich bei den mit der neuen Steuerung ausgerüsteten
Lokomotiven sehr bemerkbar. Die Vergleichsfahrten, denen die Diagramme in Fig. 88 entnommen sind, ergaben folgende
Resultate:
Lokomotive: ⅘-gek- G.-L.
No. 124.
No. 275.
Steuerung:
Stephenson.
Allfree-H.
Zylinderdurchmesser
508 mm
508 mm
Hub
660 mm
660 mm
Schädlicher Raum
8,81 v. H.
2,4 v. H.
Gewicht der Maschine
6,4 t
64 t
Wagenzahl
61
62
Zuggewicht
2240 t
2280 t
Strecke
65 km
65 km
Wirkliche Fahrzeit
3 St. 01 Min.
2 St. 32 Min.
Mittlere Geschwindigkeit
21,6 km/st
25,7 km/st
Wasserverbrauch
30,0 cbm
23,7 cbm
Diese Fahrten, die zugleich ein Bild vom Betriebe eines amerikanischen Güterzuges
geben (grosses Gewicht, beliebige Fahrzeit, da meist kein bestimmter Fahrplan für Güterzüge vorhanden
ist), zeigen, dass die Allfree-Hubbell-Lokomotive
ausser einer Zeitersparnis von 16 v. H. eine Wasser- und damit Kohlenersparnis von
21 v. H. erreicht hat, dass also die Lokomotive bedeutend leistungsfähiger geworden
ist als ihre sonst gleichartig gebaute Schwestermaschine.
Textabbildung Bd. 320, S. 372
Fig. 88. Diagramme der Vergleichsfahrten 371.
Nach diesen, auf mehreren Bahnen durch ähnliche Versuche von durchaus glaubwürdiger
bestätigten Angaben dürfte der Gewinn dem durch Verbundwirkung oder Heissdampf
erzielten ungefähr gleichkommen. In Anbetracht der geringen Komplikation der
Steuerung, die nach Angabe der Bahnverwaltungen ohne besonders grosse Kosten
angebracht und in Stand gehalten werden kann, ist das ein sehr günstiges Ergebnis,
das weitere Beachtung verdient.
Die Anbringung der Allfree-Hubbell-Steuerung ist an
jeder Kulissensteuerung möglich, und zwar ohne wesentliche Aenderung in der
allgemeinen Anordnung im jeweiligen Fall. Verschiedene Bahnen haben alte Lokomotiven
nachträglich umbauen lassen, ohne Aenderung der Zylinder, und sie haben stets
zufriedenstellende Ergebnisse berichtet. Insbesondere hat sich auch gezeigte dass das Zahnsegment und Zahnrad keinen Anlass
zu besonderen Bedenken gibt. Es ist dies ein Vorwurf, den man der Steuerung machen
könnte, dass sie eine Zahnübertragung benötigt, die wahrscheinlich einer starken
Abnutzung unterworfen ist. Wenn man aber bedenkt, dass zwischen dem Angriffspunkt
der Schieberstange an dem exzentrischen Bolzen und der Stelle des Zahneingriffes (s.
Fig.
83) eine bedeutende Hebelübersetzung liegt, dass man ferner durch
Entlastungen oder Kolbenschieber den Bewegungswiderstand sehr erniedrigen kann, dass
auch einer genügenden Breite der Verzahnung kein Hindernis entgegen steht, dann wird
die Haltbarkeit der Verzahnung auf grössere Zeit sehr wahrscheinlich. In der Tat
zeigten Zähne, die nach Angabe der Firma einen zweijährigen Betrieb durchgemacht
hatten, kaum eine Abnutzung.
(Fortsetzung folgt.)