Titel: | Kinetik und Kinetostatik des Schubkurbelgetriebes. |
Autor: | Hermann Meuth |
Fundstelle: | Band 320, Jahrgang 1905, S. 466 |
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Kinetik und Kinetostatik des
Schubkurbelgetriebes.
Von Dr. ing. Hermann Meuth.
Karlsruhe.
Kinetik und Kinetostatik des Schubkurbelgetriebes.
Einleitung.
Das Kurbelgetriebe hat in der technischen Literatur eine eingehende Behandlung
erfahren. In einem Teil der Arbeiten über dasselbe kommt mehr die kinematische
Seite, d. i. die Betrachtung der Geschwindigkeit und Beschleunigung der einzelnen
Glieder des Getriebes nach dessen Konfiguration, zur Geltung, wie bei:
Kirsch: Ueber die graphische
Bestimmung der Kolbenbeschleunigung.Z. d. V. d.
I. 1890, S. 1320.
Wittenberg: Bestimmung des
Massendrucks.Z. d. V. d. I. 1896,
S. 580.
Land: Geschwindigkeits- und
Beschleunigungsplan für Mechanismen, nebst Anwendung auf die kinematische und
dynamische Wirkungsweise der Schubkurbel.Z. d.
V. d. L 1896, S. 983.
Die Kinetik oder Dynamik des Kurbelgetriebes im strengen Sinne, d. i. die Betrachtung
der Bewegung unter der Einwirkung aller äusseren Kräfte, behandelt eine Schrift von
Lorenz: Die Dynamik der Kurbelgetriebe; Teubner,
1902. Der kinetostatische Teil derselben findet sich auch in der Z. d. V. d. I.
1897, S. 998. Hierher gehören auch die einschlägigen Kapitel in Grashofs: Theoretische Maschinenlehre, Bd. 2, S. 353,
in Weisbachs: Ingenieur- und Maschinenmechanik, 3.
Teil, 1. Abt., S. 744; ferner Radingers: Dampfmaschinen
mit hoher Kolbengeschwindigkeit und Hartmanns:
Dynamische Theorie der Dampfmaschine.Z. d. V. d.
I. 1892, S. 1.
Die kinetostatische Seite, d. i. die Betrachtung der Reaktionen in den Lagern und
Führungen des Getriebes sowie der Spannungen im Gestänge, welche unter dem Einfluss
der gesamten Kräfte auftreten, kommt zum Teil in den Arbeiten von Wehage: Ueber den ruhigen Gang der Dampfmaschinen mit
KurbelwelleZ. d. V. d. I. 1884,
S. 637. und von Stribeck: Die bei
den Dampfmaschinen auftretenden Stösse an Kurbel- und KreuzkopfzapfenZ. d. V. d. I. 1893, S. 10. zum
Ausdruck. Die spezielle Betrachtung der Reaktionen, welche durch die Bewegungskräfte
allein hervorgerufen werden, hat zu dem Problem des Massenausgleichs geführt, mit
welchem sich hauptsächlich die Arbeiten von SchlickZ. d. V. d. I. 1894,
S. 1091., BerlingZ. d. V. d. I. 1899, S. 981., LorenzZ. d. V. d.
I. 1897, S. 353. und SchubertSchubert, Zur
Theorie des Schlickschen Problems.
beschäftigen.
In den angeführten Arbeiten ist neben dem analytischen Verfahren die graphische
Darstellung in weitgehendem Masse in Anwendung gekommen, namentlich zur Bestimmung
der kinematischen und kinetostatischen Grössen. Der graphischen Ermittlung der
Bewegung des Getriebes aus den gegebenen äusseren Kräften und Massen stellen sich
einige Schwierigkeiten entgegen, denen man durch die Einführung konstanter,
reduzierter Massen entgeht. Eine neuere Arbeit auf diesem Gebiete, Graphische
Dynamik von Wittenbauer,Z. f. Mathem. u. Phys. 1904. hebt
den wesentlichen Punkt dabei besonders hervor, nämlich die Notwendigkeit, eine
veränderliche reduzierte Masse für solche Teile einzuführen, welche keine rein
rotierende oder oszillierende Bewegung haben. Neben dieser Arbeit gibt eine
Abhandlung von Koob: Das Regulierproblem in vorwiegend
graphischer BehandlungZ. d. V. d. I. 1904,
S. 296. eine schöne Anwendung graphischer Methoden auf dynamische
Probleme.
Bei der Mehrzahl dieser Arbeiten ist für die Bestimmung der rein kinematischen
Beziehungen und der Massenkräfte des Getriebes eine konstante Winkelgeschwindigkeit
im Kurbelkreis vorausgesetzt. Wenn es sich um die Ermittlung des Schwungrades
handelt, dessen Grösse von einer vorgeschriebenen Geschwindigkeitsschwankung
abhängig ist, muss diese Voraussetzung natürlich wieder fallen gelassen werden.
Indessen abgesehen davon, dass es auch in dem erstgenannten Falle unter Umständen
nicht angängig ist, die Veränderlichkeit der Winkelgeschwindigkeit zu
vernachlässigen, erledigen sich die Rechnungen mit Berücksichtigung der
Veränderlichkeit ebenso einfach und übersichtlich und dabei gerät der dynamische
Charakter des Problems nicht in Gefahr, verwischt zu werden.
Es mag gleich hier auf die Verschiedenheit in der Behandlung mechanischer Probleme
hingewiesen werden.
Die Eigentümlichkeit der Behandlung in der technischen Mechanik geht schon aus dem
Vorstehenden hervor. In fast jedem einzelnen Falle ist der eingeschlagene Weg ein
individueller und selbständiger. Je nach Bedürfnis wird das zuerst für einen
bestimmten Zweck in Angriff genommene Problem weiter ausgebaut, werden früher
gemachte Einschränkungen fallen gelassen und neue Voraussetzungen gemacht.
Dem gegenüber steht die systematische Mechanik. Es ist bemerkenswert, dass die
Prinzipien derselben zur Lösung technischer Aufgaben zwar vollkommen entwickelt
waren, hier und da auch Ansätze und vollständige Lösungen technischer Probleme sich
fanden, wie z.B. von der Bewegung des Kurbelmechanismus, des Regulators, aber in der
Technik fast nicht benutzt wurden, weil eben keine zwingende Notwendigkeit
einer eingehenden Untersuchung vorlag oder weil man, als diese später eintrat,
lieber zum Ausbau der selbständig ausgebildeten technischen Methoden schritt – und
dadurch auch manche tiefe Einsicht in die mechanischen Verhältnisse gewann – als zur
Benutzung der fernerliegenden systematischen Mechanik.
In letzterer werden zwei Wege eingeschlagen. Den einen könnte man als den
synthetischen bezeichnen: zur Bestimmung der Bewegung eines Systems wird dieses in
seine einzelnen starren Elemente zerlegt und auf letztere dann die Gesetze für den
starren Körper angewendet. Man benutzt hierbei meist das d'Alembertsche Prinzip oder das Prinzip der Erhaltung der lebendigen
Kraft. Diese Methode hat den, besonders für die Einführung in die Mechanik wichtigen
Vorzug, dass die mechanischen Grössen, die bei der Bewegung des einzelnen starren
Körpers auftreten, der Vorstellung leichter zugänglich sind als diejenigen Grössen,
welche sich auf die Bewegung des ganzen Getriebes beziehen. Diese Richtung kommt
auch in den meisten der oben angeführten Arbeiten über das Kurbelgetriebe zum
Ausdruck.
Der andere Weg der systematischen Mechanik geht von der Betrachtung des ganzen
Systemes aus und rührt von Lagrange her. Der Vorzug der
Lagrangeschen Methode tritt am stärksten bei
Problemen mit mehreren Freiheitsgraden hervor. Der Ingenieur ist mit dieser Methode
zur Zeit im allgemeinen noch wenig vertraut; indessen kann sie ihm bei schwierigeren
kinetischen Problemen doch von Nutzen sein, ein Grund, der es berechtigt erscheinen
lässt, die Anwendung der Methode an dem einfachen Beispiel des Kurbelgetriebes,s. auch die Darstellung von Heun in dessen Referat: Die kinetischen
Probleme der wissenschaftlichen Technik. Sonderabdruck aus dem Jahresbericht
der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. Teubner, 1900. das ein
System von nur einem Freiheitsgrad darstellt, zu zeigen
und durch die mannigfachen Anknüpfungspunkte an die dem Techniker geläufigen
Beziehungen denselben damit bekannt zu machen.
Die Gliederung der zu behandelnden Aufgabe, der Untersuchung des
Schubkurbelgetriebes, erfolgt nach den schon eingangs bezeichneten Richtungen in
einen kinetischen oder dynamischen Teil und in einen kinetostatischen Teil.
A. Kinetischer Teil.
Es handelt sich hier um die Beschreibung des Bewegungsverlaufes im Kurbelgetriebe
unter der Einwirkung aller Kräfte, analytisch ausgedrückt um die Aufstellung der
Bewegungsgleichung, d. i. der Darstellung des Geschwindigkeits- und
Beschleunigungsprozesses in Abhängigkeit von einer Grundvariabeln – vom Kurbelwinkel
oder vom Kolbenweg –, auf welche die Bewegung des Getriebes bezogen wird.
Wie schon eingangs angedeutet, verfährt die synthetische Methode zur Lösung dieser
Aufgabe folgendermassen: sie zerlegt den Mechanismus in seine Einzelglieder und
wendet auf dieselben die Mechanik des starren Körpers an, wobei die an den
Schnittstellen (Gelenken) auftretenden Reaktionen als Ersatzkräfte angebracht
werden. Die Gleichgewichtsbedingung zwischen diesen Reaktionskräften, den äusseren
Kräften und den Trägheitskräften, welche an einem Gliede angreifen, ergibt alsdann
die Bewegungsgleichung.
Lagrange hat auf andere Weise einen Ausdruck für die
Bewegung eines beliebigen, aus starren Gliedern bestehenden Systems aufgestellt, von
der Erkenntnis ausgehend, dass der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsprozess
eines beliebigen Systems nur durch die Grösse, Form und durch den Verlauf der lebendigen Kraft oder kinetischen Energie bestimmt ist. Die Schwankungen der kinetischen Energie
sind nun lediglich eine Folge der Arbeitsleistung der äusseren Kräfte; die in den
Lagern und Führungen auftretenden Reaktionen leisten keine Arbeit, kommen daher für
die kinetische Energie nicht in Betracht. Mit anderen Worten: der
Beschleunigungsprozess eines beliebigen Systems verläuft ohne Rücksicht auf die in
den Bewegungsbahnen der einzelnen Glieder auftretenden Reaktionen lediglich bedingt
durch die Konstitution, Bewegungsfähigkeit, Massenverteilung des Systems und durch
die treibenden Kräfte.
Für den allgemeinsten Fall der Bewegung eines beliebigen Systems von n-Freiheitsgraden haben die Lagrangeschen Bewegungsgleichungen die
Form
\frac{d}{d\,t}\,\left(\frac{\partial\,L}{\partial\,\frac{d\,q_n}{d\,t}}\right)-\frac{\partial\,L}{\partial\,q_n}=Q_n,s. Föppls Dynamik (Vorlesungen über Technische
Mechanik 4. Bd. S. 285). . . . 1)
worin L die lebendige Kraft oder
kinetische Energie des ganzen bewegten Systems und qn die Variabein bedeuten, auf welche die Bewegung
bezogen wird, die sogen. Koordinaten des Systems. Wenn es sich um eine Drehung
handelt, ist qn ein
Winkel, im Falle einer Verschiebung eine Strecke. \frac{d\,q_n}{d\,t} ist die
Koordinatengeschwindigkeit. Das Glied auf der rechten stellt im Falle einer
Verschiebung die Summe der äusseren Kräfte, im Falle einer Drehung deren Momente in
bezug auf den Drehpunkt dar. Allgemein ist Qn dadurch bestimmt, dass \sum_1^n\,Q_n\,\delta\,q_n gleich der
Arbeit der treibenden Kräfte bei einer willkürlichen virtuellen, d.h. bloss
gedachten, unendlich kleinen Verschiebung δqn des Systems ist. Es ist schon oben darauf
hingewiesen worden, dass unter den äusseren Kräften nur die treibenden Kräfte mit
Ausschluss der Reaktionen und der aus der Bewegung entstehenden KräfteZu den Kräften, welche aus der Bewegung
entstehen, sind eigentlich auch die Reibungskräfte zu rechnen: es sollen
darunter aber nur die sogen. Massenkräfte verstanden werden, während der
Reibungswiderstand zu den äusseren Kräften gerechnet wird. zu
verstehen sind. Hierin liegt der wesentlichste Unterschied zwischen der Lagrungeschen Methode und dem synthetischen
Verfahren.
Eine Interpretation der Lagrangeschen
Bewegungsgleichungen mit Hilfe der üblichen Vorstellungen und Begriffe der
technischen Mechanik ist wegen der Allgemeinheit der Koordinaten q nur mit Einschränkungen befriedigend gelungen.
Betrachten wir zunächst die Bewegung eines starren Körpers in der Ebene! Wirken auf
den Körper äussere Kräfte, so ist nach dem Flächensatze die zeitliche Aenderung des
statischen Momentes der Bewegungsgrösse (d. i. in diesem Falle das erste Glied auf
der linken der Lagrangeschen Gleichung) gleich der
Summe der statischen Momente aller äusseren Kräfte in bezug auf jeden beliebigen
Momentenpunkt, also gleich der Grösse Q auf der rechten
Seite. Für diesen Fall des starren Körpers verschwindet das zweite Glied -\frac{\partial\,L}{\partial\,q}
aus der Gleichung, da schon das erste Glied gleich Q
ist.Eigentlich deshalb,
weil q in L in
diesem Falle nicht vorkommt. Das Glied -\frac{\partial\,L}{\partial\,q} kann daher als
eine der Bewegung eines Systems von starren Gliedern
eigentümliche Grösse gedeutet werden.
Von welcher Art dieses zweite Glied \frac{\partial\,L}{\partial\,q} im besonderen Falle ist, erkennt
man z.B. bei der Betrachtung eines zwangläufigen Systems von Gliedern mit den Massen
M1
M2 usw. Der Schwerpunkt
von M1 führe eine
Drehung um einen festen Punkt aus mit der Winkelgeschwindigkeit \frac{d\,q}{d\,t}, die
übrigen Massen seien alle auf den Schwerpunkt von M1 reduziert = M und daher
mit dem Drehwinkel q veränderlich. Die lebendige Kraft
des Systems ist alsdann
L=\frac{1}{2}\,(M_1+M)\,\left(r\,\frac{d\,q}{d\,t}\right)^2;
führt man diesen Wert in die Lagrangesche Gleichung ein, so erhält man aus dem 1. Glied
\frac{d}{d\,t}\,(M_1+M)\,r^2\,\frac{d\,q}{d\,t}=(M_1+M)\,r^2\,\frac{d^2\,q}{dt^2}+\frac{d}{d\,t}\,M\,\left(r^2\,\frac{d\,q}{d\,t}\right)
aus dem 2. Glied
-\frac{\partial\,L}{\partial\,q}=-\frac{1}{2}\,\frac{\partial\,M}{\partial\,q}\,\left(r\,\frac{d\,q}{d\,t}\right)^2.
Berücksichtigt man, dass M von q abhängig ist, so kann im 1. Glied für \frac{d\,M}{d\,t} gesetzt werden
\frac{\partial\,M}{\partial\,q\,\frac{d\,t}{d\,q}}, wodurch der zweite Ausdruck im 1. Glied bis auf den Faktor \frac{1}{2}
mit dem 2. Gliede identisch wird.
Jetzt wird es auch in diesem besonderen Falle deutlich, welche begriffliche Bedeutung
dem 2. Gliede \frac{\partial\,L}{\partial\,q} zukommt. Setzt man nämlich die Koordinatengeschwindigkeit,
welche in diesem Falle zugleich auch die Geschwindigkeit des Systems ist,
\frac{d\,q}{d\,t}=\mbox{const.}, so ändert sich trotzdem die kinetische Energie, weil sich M mit q ändert; es
verschwindet nur der erste Ausdruck im 1. Gliede mit \frac{d^2\,q}{d\,t^2}, welcher sonach
denjenigen Teil des von aussen aufzuwendenden Momentes darstellt, welcher zur
Aenderung der Systemgeschwindigkeit, also zur Aenderung der lebendigen Kraft des
Systems, soweit sie in der Hauptsache von der Systemgeschwindigkeit abhängt,
notwendig ist. Die übrig bleibenden Glieder geben dann denjenigen Teil des äusseren
Momentes an, welcher zur Aenderung der lebendigen Kraft des Systems nach seinem
inneren geometrischen Zusammenhang, zur Aenderung der Bewegung der einzelnen
Glieder, welche dieselben nach kinematischen Forderungen ausführen, also
gewissermassen zur inneren Aenderung der lebendigen
Kraft des Systems aufgewendet werden muss.
Im vorstehenden sind die Verhältnisse beim Kurbelgetriebe schon im allgemeinen
charakterisiert. Wir werden speziell in den zuletzt genannten Gliedern nach den
später folgenden Entwicklungen den bekannten Ausdruck für das Massendruckdrehmoment
der bewegten Getriebeteile erkennen.
Dass in der Lagrangeschen Bewegungsgleichung gerade die
Differenz zweier Anteile des äusseren Momentes auftritt, ist in dem vorliegenden
speziellen Falle einfach dadurch zu erklären, dass der zur inneren Aenderung der
lebendigen Kraft aufzuwendende Anteil des äusseren Momentes im 1. Gliede mit seinem
doppelten Betrag
M\,r^2\,\left(\frac{d\,q}{d\,t}\right)^2,
wie es aus der vorhergehenden Entwicklung hervorgeht, enthalten ist und daher
ein entsprechender Abzug durch das 2. Glied eintreten muss.
Die Lagrangesche Bewegungsgleichung erscheint
gewissermassen als algebraische Umformung eines ursprünglich einzigen AusdrucksDie Entwicklung der Lagrangeschen Gleichung in Föppls
Dynamik S. 286. der dynamischen Grundgleichung zu dem Zwecke,
unter Einführung einer einzigen Bezugsgrösse, der lebendigen Kraft des Systems, die
Lösung eines kinetischen Problems durch bekannte rechnerische Operationen zu
erreichen.Bei einem Grad der
Freiheit ist die Lagrangesche Gleichung
identisch mit der Gleichung des Effekts, deren Zeitintegral das Prinzip der
lebendigen Kraft oder die Energiegleichung ist.
Bei dem zu betrachtenden Kurbelgetriebe liegt ein System vor, bei welchem ein Glied,
die Kurbel, eine Kreisbewegung ausführt, auf welche die Bewegung der übrigen, mit
der Kurbel in zwangläufigem Zusammenhang stehenden Glieder bezogen wird. Der
Drehwinkel φ der Kurbel, gemessen von der inneren
(gestreckten) Totlage, ist also die Grundvariable der Systembewegung, \frac{d\,\varphi}{d\,t} die
Systemgeschwindigkeit.
Die Aufstellung der Bewegungsgleichung erfordert zunächst die Bestimmung des
1. Ausdruckes für die lebendige Kraft.
Die lebendige Kraft des Kurbelgetriebes ergibt sich als Summe der lebendigen Kräfte
seiner einzelnen Glieder, nämlich der rotierenden Teile: Kurbel, Welle, Schwungrad
usw., der hin- und hergehenden Teile: Kolben, Kolbenstange und Kreuzkopf, und der
Lenkstange mit einer gemischten Bewegung von Rotation und Translation. Die
Aufstellung des Ausdruckes für die lebendige Kraft des ganzen Systems gestaltet sich
einfach; man kann auch vorher eine geeignete Veränderung desselben durch Reduktion
und Verlegung der Massen vornehmen. Ein solches Verfahren beeinflusst das Resultat
in kinetischer Beziehung nur dann nicht, wenn durch die Reduktion bezw. Verlegung
der bewegten Massen ihre lebendige Kraft ungeändert bleibt.
Es mag an dieser Stelle schon bemerkt werden, dass, so lange es sich lediglich um die
Untersuchung der Bewegungsverhältnisse handelt, in derselben Weise auch mit den an
dem Getriebe angreifenden äusseren Kräften verfahren werden kann, wenn nur deren
Arbeitsleistung ΣP . v durch die Reduktion nicht
verändert wird.
Unter Beachtung dieser Bedingung können alle rein rotierenden Massen ohne weiteres
auf den Kurbelzapfen reduziert und die translatorischen Massen in den
Kreuzkopfzapfen verlegt gedacht werden. Bei der Lenkstange ist ein so einfaches
Verfahren nicht möglich. Es wird zwar meist eine Verlegung der Lenkstangenmasse in
ihre zwei Endpunkte, den Kurbel- und Kreuzkopfzapfen, vorgenommen – der dadurch
entstehende Fehler ist für viele praktische Fälle auch ohne Bedeutung und nur mit
Rücksicht auf mehrfach in der Literatur vorkommende irrtümliche Darstellungen ist im
folgenden der strenge Sachverhalt hervorgehoben – streng genommen ist aber der
Ersatz der Lenkstangenmasse nur durch drei Massenpunkte,s. Reye, Einfache
Darstellung der Trägheitsmomente ebener Figuren. Z. d. V. d. I. 1875, S.
401.Es lässt sich auch die Reduktion der Massen eines Getriebes auf einen
einzigen Punkt ausführen, dessen lebendige Kraft diejenige des ganzen
Getriebes repräsentiert, dessen reduzierte Masse jedoch bei der Bewegung
veränderlich anzunehmen wäre. Danach kann die Bewegung eines zwangläufigen
Getriebes auf die Bewegung eines Punktes mit veränderlicher reduzierter
Masse zurückgeführt werden. durch Verlegung der Masse in die
Endpunkte und in
den Schwerpunkt der Stange, möglich.Ausser den
Bedingungen m1
+ m2 + m0
= M3 und m1a = m2 . b muss die
neue Massenverteilung in drei Punkten noch der Forderung entsprechen m1 . a2 + m2. b2 = dem
Trägheitsmoment der Stange in bezug auf den Schwerpunkt, wenn a und b die
Abstände von m1
und m2 vom
Schwerpunkt bedeuten, in welchem die Masse m0 konzentriert ist. – Wir könnten
eine solche Massenverlegung in den drei Punkten jetzt vornehmen, lassen jedoch
zunächst die Masse der Lenkstange M3 in ihrer wirklichen Verteilung bestehen, während
wir auf den Kurbelzapfen alle rotierenden Massen M1 reduzieren und in den Kreuzkopfzapfen alle hin-
und hergehenden Massen M2 verlegen. Denkt man sich die Massen M1 und M2 als zur Lenkstange gehörig, deren Enden
gewissermassen mit diesen Massen belastet, so repräsentiert die Stange in dieser
Belastungsweise das ganze Getriebe. Hiervon ausgehend ist es nun leicht, die
lebendige Kraft des ganzen Systems aufzustellen.
Ist m ein Massenteilchen der Lenkstange in der obigen
Belastungsweise, v dessen augenblickliche
Geschwindigkeit, so ist
L=\frac{1}{2}\,\Sigma\,m\,v^2.
Für ein Achsenkreuz XY durch das Wellenmittel können die
Komponenten der Geschwindigkeit v leicht bestimmt
werden und daraus v selbst (s. Fig. 1).
Textabbildung Bd. 320, S. 468
Fig. 1.
Sind x und y die
Koordinaten des Schwerpunktes des Massenteilchens m
(M3 auf der Stangenachse konzentriert
angenommen)Der allgemeine Fall
erledigt sich zwar ebenso einfach. in bezug auf das Achsenkreuz
XY, so liefert der geometrische Zusammenhang des
Getriebes hierfür die Ausdrücke
x = r cos
φ + z cos η
und
y = r sin φ –
z sin η
wenn r den Kurbelradius und z den Abstand des Massenteilchens vom Kurbelzapfen
bedeutet. Die Geschwindigkeitskomponenten des Massenteilchens in den Achsrichtungen
sind dann
\frac{dx}{dt}=-\left(r\,\mbox{sin}\,\varphi+z\,\mbox{sin}\,\eta\,\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\right)\,\frac{d\,\varphi}{d\,t}
und
\frac{dy}{dt}=\ \ \left(r\,\mbox{cos}\,\varphi-z\,\mbox{cos}\,\eta\,\frac{d\,\eta}{d\,t}\right)\,\frac{d\,\varphi}{d\,t}
Die Resultierende aus den Geschwindigkeitskomponenten
ergibt
v=\sqrt{\left(\frac{d\,x}{d\,t}\right)^2+\left(\frac{d\,y}{d\,t}\right)^2}
Im folgenden werden die ersten und zweiten Ableitungen der Variabeln φ nach der Zeit d.h. die Winkelgeschwindigkeit
\frac{d\,\varphi}{d\,t} und die Winkelbeschleunigung \frac{d^2\,\varphi}{d\,t^2} in
vereinfachter Weise mit \dot{\varphi} und \ddot{\varphi} bezeichnet. Damit lautet der
Ausdruck für die lebendige Kraft
L=\frac{1}{2}\,\Sigma\,m\,v^2=\frac{1}{2}\,\Sigma\,\left(m\,r^2-m\,z^2\,\left(\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\right)^2-2\,m\,r\,z\,\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\,\mbox{cos}\,(\varphi+\eta)\right)\,\varphi^2=\frac{1}{2}\,\varphi^2\,\left[r^2\,\Sigma\,m+\left(\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\right)^2\,\Sigma\,m\,z^2-2\,r\,\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\,\mbox{cos}\,(\varphi+\eta)\,\Sigma\,m\,z\right]
In diesem Ausdruck ist
Σm = M1
+ M2
+ M3,
ferner nach dem Schwerpunktssatze
Σmz – z
0
Σm = z
0
(M
1
+ M
2
+ M
3
),
wenn z0 den Schwerpunktsabstand der Lenkstange für unsere Belastungsweise
bedeutet. Derselbe lässt sich aus der Momentengleichung in bezug auf den
Kurbelzapfen finden
\int_o^1\,z\,m_3\,d\,z+l\,M_2=(M_1+M_2+M_3)\,z_0..
Hierbei ist
\int_0^1\,z\,m_3\,d\,z=z'_o\,M_3
mit z'0 als Schwerpunktsabstand der Lenkstange allein vom Kurbelzapfen; es sei
z'0
= al. Schliesslich ist Σmz2 das Trägheitsmoment der ganzen
bewegten Masse des Getriebes in bezug auf den Kurbelzapfen = (M1
+ M2 M3) k2, wenn k den
Trägheitsradius der gesamten Masse in bezug auf den Kurbelzapfen bedeutet. k findet man wieder aus einer Momentengleichung für den
Kurbelzapfen als Drehpunkt, wenn man jetzt die Produkte aus den Massen und ihren
Abständen vom Kurbelzapfen als Kräfte betrachtet, welche die Lenkstange
belasten:
\int_o^1\,(m_3\,z)\,z\,d\,z+(M_2\,l)\,l=[(M_1+M_2+M_3)\,k]\cdot k.
Hierbei ist
\int_o^1\,m_3\,z^2\,d\,z=z'^2\,M_3
mit z' als Trägheitsradius der
Lenkstange allein in bezug auf den Kurbelzapfen; es sei
z'2 = b . l2.
Zur Kenntnis der Grössen z0 und k ist demnach die Bestimmung des
Schwerpunktsabstandes und des Trägheitsradius der wirklichen Lenkstange
erforderlich; das kann durch eine graphische Ausmittlung nach dem Verfahren von Nehls oder Mohr oder für
eine ausgeführte Lenkstange durch einen Wäge- und Schwingungsversuch geschehen. Für
die prismatische Lenkstange von gleichförmigem Querschnitt ist a=\frac{1}{2};
b=\frac{1}{3}. Ueber diese Grössen bei ausgeführten Stangen kann nachstehende
Tabelles. Mollier, Der Beschleunigungsdruck der
Schubstange, Z. d. V. d. I. 1903, S. 1638. einen Anhalt geben (in
der letzten Kolonne ist der konstante Anteil der Lenkstangenmasse an der
Schwungradwirkung angegeben (s. S. 469).
Führt man jetzt die Werte
Σm = M1
+ M2
+ M3,
Σmz = l (M2+ a M3) und Σmz2
= l2
(M2
+ b M3)
in den Ausdruck für die lebendige Kraft ein, so lautet dieser
L=\frac{1}{2}\,\varphi^2\,\left[(M_1+M_2+M_3)\,r^2+\left(\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\right)^2\,l^2\,(M_2+b\,M_3)\right
\left-2\,r\,l\,\frac{d\,\eta}{d\,\varphi}\,\mbox{cos}\,(\varphi+\eta)\,(M_2+a\,M_3)\right] . . 2)
Dieser Ausdruck bildet die Grundlage für die Aufstellung der Bewegungsgleichung des
Kurbelgetriebes.
No.
Art der Stange
Schwerpunktsabstandvom Kurbelzapfen z'0
Trägheitsradius in bezugauf den Kurbelzapfen z'
a
b
1-a+\frac{b}{2}
1
Lokomotive (alt)
0,37 l
0,584 l
0,37
0,34
0,80
2
Kleine Schnellauf ende Dampfmaschine
0,35 l
0,459 l
0,35
0,21
0,76
3
Kleiner Kompressor
0,259 l
0,464 l
0,295
0,215
0,81
4
Dampfmaschine
0,35 l
0,548 l
0,35
0,30
0,8
5
Dampfmaschine
0,36 l
0,53 l
0,36
0,28
0,78
6
Schiffsmaschine
0,45 l
0,633 l
0,45
0,40
0,75
7
Gasmotor (alt)
0,45 l
0,648 l
0,45
0,42
0,76
8
Gasmotor
0,45 l
0,533 l
0,45
0,34
0,72
9
Gasmotor
0,40 l
0,533 l
0,4
0,34
0,77
10
Kleiner Petroleummotor
0,429 l
0,649 l
0,420
0,42
0,79
(Fortsetzung folgt.)