Titel: | Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. |
Autor: | M. Richter |
Fundstelle: | Band 320, Jahrgang 1905, S. 633 |
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Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der
Gegenwart.
Von Ingenieur M. Richter,
Bingen.
(Fortsetzung von S. 620 d. Bd.)
Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
B. Verbundlokomotiven.
Im allgemeinen ging man von der Zwillingsmaschine bei der „Atlantic“-Bauart
aus verschiedenen Gründen, besonders nach amerikanischem Vorgang, unvermittelt zur
Vierzylinder-Verbundmaschine über, so dass überhaupt nur drei Muster von ⅖
Zweizylinder-Verbund aufzutreiben sind, und von diesen sind zwei nur in je einem
Stück ausgeführt worden. Gar nicht vorhanden ist hier die Dreizylindermaschine, und
bei den vierzylindrigen finden sich nur die Bauarten Vauclain, de Glehn und v. Borries nebst den
Modifikationen Courtin-Gölsdorf- Vauclain, endlich Cole seit 1903.
A. Zweizylinder-Verbundlokomotiven.
Hierunter ist über die in die Tabelle S. 575 aufgenommenen Lokomotiven folgendes
zu bemerken:
11. Die Schnellzuglokomotive der Ungarischen
Staatsbahnen, gebaut 1900 von der Maschinenfabrik der Ungarischen
Staatsbahn in Budapest, war im gleichen Jahre in Paris ausgestellt. Der Bau
dieser Maschine konnte unternommen werden, nachdem infolge des neuen Oberbaues
der zulässige Achsdruck von 14 auf 15,5 t erhöht worden war.
Die Verteilung der Achsen und die Anordnung der Feuerbüchse, welche zwischen den
hinteren Triebrädern liegt und noch durch die hintere Laufachse gestützt ist,
ist dieselbe wie bei der Maschine der Kaiser
Ferdinand-Nordbahn. Die Rahmen liegen jedoch sämtlich innen, so dass
die Feuerbüchse noch schmäler und länger ausfallen musste, als bei dieser. Sie
ist mit Feuergewölbe versehen. Der hochliegende Kessel hat reichliche
Abmessungen und besitzt auf dem vorderen und hinteren Schuss je einen Dom; die
beiden Dome sind durch ein Rohr von 300 mm lichter Weite miteinander verbunden,
welches durch den auf dem Mittelschuss sitzenden Sandkasten hindurchgeht und so
zur Trockenhaltung des Sandes beiträgt.
Die grosse Verbundmaschine hat aussenliegende Zylinder mit einem
Kolbenflächenverhältnis von 1: 2,25. Der Hochdruckzylinder liegt rechts. Die
Schieber liegen auswärts geneigt über den Zylindern; es sind Tricksche Flachschieber mit Entlastung von v. Borries.
Die beiden Heusinger-Steuerungen sind unabhängig
voneinander verstellbar, indem die Steuerschraube auf geteilte Zugstangen wirkt;
durch eine Kupplung kann auch die gleichzeitige Verstellung erreicht werden.
Das Anfahren wird erleichtert durch einen Wechselschieber, der willkürlich
die Umschaltung der Zwillingsmaschine in Verbundmaschine und umgekehrt
bewerkstelligen lässt.
Textabbildung Bd. 320, S. 632
Fig. 16a. Ungarische Staatsbahn.
Das Drehgestell hat kugelige Auflage 50 mm hinter der Mitte mit 30 mm
Seitenspiel; die Hinterachse hat 8 mm Seitenverschiebung in den Lagern und diese
selbst 15 mm Längsverschiebung mit kraftschlüssiger Rückstellung durch den
Federdruck. Miteinander durch Längshebel verbunden sind nur die Federn der
Triebachsen, so dass das Ganze auf fünf Punkten gestützt ist (Fig. 16).
Textabbildung Bd. 320, S. 632
Fig. 16b. Ungarische Staatsbahn.
Die Westinghouse-Bremse wirkt auf die Triebachsen
einseitig. Der Tender ist dreiachsig. Für eine höchste Geschwindigkeit von nur
90 km/St. sind
die Triebräder wohl etwas zu gross angenommen; es würde statt 2,1 m Durchmesser
ein solcher von 1,75 m genügt haben, wie in Preussen zu beobachten ist.
Diese durchweg schön ausgeführte imposante Lokomotive ist neuerdings mit
Zwillingsmaschine in einem weiteren Exemplar ausgeführt worden. Der
Zylinderdurchmesser beträgt 485 mm, so dass dieselbe Zugkraft erreicht wird. Die
Schieber sind Kolbenschieber mit innerer Einströmung, und haben sich so bewährt,
dass nun auch die Verbundmaschine mit solchen umgebaut worden ist.
Beide Lokomotiven fahren auf der Linie Budapest–Marchegg, und befördern 200 t h.
T. auf Steigungen von 1 : 143 mit 60 bis 65 km/st., wobei etwa 850 PS zu leisten
sind. Die in die Tab. S. 575 eingetragene Höchstleistung von 1220 PS könnte nur
mit Verfeuerung von Kohle von sieben- bis achtfacher Verdampfung erreicht
werden, während der ungarischen Staatsbahn nur solche von sechsfacher
Verdampfung zur Verfügung steht. Was dies ausmacht, erhellt am besten daraus,
dass die Maschine der Pfalzbahn (No. 2 dieser Besprechung) 220 t h. T. auf 1 :
100 mit derselben Geschwindigkeit zu befördern hat, entsprechend einer
Mehrleistung von etwa 150 bis 200 PS.
Auf der erwähnten Strecke finden übrigens die schnellsten Fahrten der ungarischen
Bahnen (und zugleich der österreichischen) statt, nämlich:
Pressburg–Neuhäusel
91
km
1
St.
9
Min.
79,1
km/St.
Neuhäusel–Budapest W.
122
„
1
„
35
„
77,2
„
Es ist dies der Zug 105, bestehend aus fünf D-Wagen zu 34 t und einem Kopfwagen
von 12 t, zusammen 182 t h. T. (leer). Rückwärts ist mit Zug 108 die Fahrzeit
Neuhäusel–Pressburg 1 Min. länger, also 78,0 km/St. Das Längenprofil der Strecke
ist sehr günstig; gleich bei der Ausfahrt aus Pressburg ist ein Gefälle von 1:
150, dann eine Reihe von solchen von 1: 300 vorhanden, wenn auch einzelne
Gegensteigungen von 1 : 300 nicht fehlen.
Eine ähnliche Lokomotive von kleineren Abmessungen wurde 1901 auf der österreichischen Nordwestbahn in Dienst gestellt,
um die Schnellzüge Wien–Znaim und Wien–Gross Wossek–Tetschen bei einem Gewicht
von 220 t h. T. mit 80 km/St. zu befördern über das Hügelland von Mähren
und im Elbetal.
Textabbildung Bd. 320, S. 633
Fig. 17. Oesterreichische Nordwestbahn.
Die Anordnung ist ziemlich dieselbe wie bei der vorigen Lokomotive, nur hat die
Maschine Verbundwirkung nach System Gölsdorf (ohne
Anfahrvorrichtung, indem bei Ueberschreiten einer gewissen Füllung, d.h. eines
bestimmten Schieberweges Einkerbungen im Gesicht des Niederdruckschiebers frei
werden, so dass Füllungen bis 94 v. H. entstehen, und zwar in beiden Zylindern,
da diese Einkerbungen durch eine Rohrleitung mit dem Einströmrohr des
Hochdruckzylinders in Verbindung stehen). Die im Elbetal laufenden Maschinen
werden mit Braunkohle gefeuert und haben deshalb Funkenfangaufsatz auf dem Kamin
mit hinterem Windschirm (Fig. 17).
Die Hauptabmessungen sind:
Zylinderdurchmesser
500/760
mm
Kolbenflächenverhältnis
1 : 2,3
Kolbenhub
650
mm
Triebraddurchmesser
1920
„
Kesseldruck
13
at
innere Heizfläche
158,0
qm
Rostfläche
2,9
„
Adhäsionsgewicht
28,0
t
Dienstgewicht
61,5
t
12. Die Schnellzuglokomotive „Dr. v. Clemm“ der
Pfalzbahn ist im Jahre 1900 von Krauss-München erbaut und in Paris ausgestellt worden, freilich in einer
ganz anderen Form, als sie jetzt im Betrieb aufweist.
Die Geschichte dieser Maschine ist so interessant, dass sie füglich hier die
Besprechung verdient.
Textabbildung Bd. 320, S. 633
Fig. 18. Krausssche Schnellzuglokomotive mit Vorspannachse, Paris
1900.
Die ursprüngliche Form ist durch die äussere Abbildung (Fig. 18) und durch die Zusammenstellungszeichnungen (Fig. 19a–e) wiedergegeben; sie war dazu
berufen, im Schnellbetrieb eine hervorragende Rolle zu spielen, da sowohl das
Anfahr- als auch das Massenausgleichs-Problem in theoretisch vollkommener Weise
an ihr gelöst war. Zunächst möge beschrieben werden, was ausserhalb dieser
Besonderheiten liegt und bis heute beibehalten ist.
Die Hauptmaschine ist ⅖ gekuppelt. Die beiden vorderen Laufachsen (d.h. die erste
und dritte Achse) bilden ein Drehgestell, dessen Zapfen 380 mm vor der Mitte
liegt, und zwar aus konstruktiven Rücksichten; dasselbe hat Seitenverschiebung
mit Rückstellung durch Kegelschneckenfedern. Die Belastung des Gestells
geschieht durch zwei in der Längsmitte beiderseits in Rotguss-Gleitpfannen
aufliegende halbkugelige Tragzapfen, welche in einem an die Zylinder sich
anlehnenden Querträger eingelassen sind. Die Achsbüchsen der Vorderachse sind
durch zwei parallele untenliegende Querfedern verbunden, während die Hinterachse
des Gestells in jeder Achsbüchse einzeln durch Längsfedern belastet ist. So ist
also das Gestell in drei Punkten gestützt.
Die hintere Laufachse unter dem Führerstand liegt in einem Bisselgestell mit 1570
mm Deichsellänge, welche mit dem Radius der hinteren Drehgestellachse in bezug
auf den Drehzapfen übereinstimmt. Die Belastung sowie die Rückstellung geschieht
durch Keilflächenstützen, und zwar sind die Tragfedern Blattfedern, aber wegen
Platzmangels der Querrichtung nach aufgestellt und unabhängig voneinander. Die
inneren Gehänge waren an den wagerechten Hebeln einer vor der Achse parallel zu
ihr liegenden Ausgleichswelle, die äusseren zur Erzielung von besonderer
Weichheit in drei Gummiringen von 200 m Durchmesser aufgehängt. Die
Ausgleichswelle war durch Kniehebel und Zugstange mit den Tragfedern der
hinteren Triebachse verbunden. Die Tragfedern beider Triebachsen sind
Blattfedern von 1100 mm Länge, stehen über den Achsbüchsen und sind unter sich
jederseits durch Längshebel ausgeglichen.
Die Stützung des Ganzen erfolgt also in vier Punkten. Der Drehgestell- wie der
Hauptrahmen liegt durchweg innen, und der letzte, obwohl aus zwei Stücken
gebildet, ist ganz durchgeführt; die Stosstelle (mit Ueberlappung) befindet sich
hinter der vorderen Triebachse. Um den tiefen breiten Rost aufzunehmen, ist der
Rahmen in senkrechter
Textabbildung Bd. 320, S. 634
Fig. 19 a–e. Krausssche Schnellzuglokomotive mit Vorspannachse
(ursprüngliche Form).
Textabbildung Bd. 320, S. 635
Fig. 19c.
Ebene an dieser Stelle stark abwärts gekröpft. An
Versteifung der Quere nach ist genügend gesorgt durch vordere Stirnwand,
Hauptzylinder, Gleitbahnträger, wagerechte Wand über der Kuppelachse, senkrechte
Wand vor und hinter der Feuerbüchse, Kupplungskasten und hintere Stirnwand;
ferner ist zwisehen die beiden Triebachsen ein Kasten eingebaut, welcher (wie
bei der Lokomotive No. 2 dieser Besprechung) während der Fahrt bestiegen werden
kann und das Nachsehen der Hauptmaschine gestattet.
Textabbildung Bd. 320, S. 635
Fig. 19d.
Der Kessel ist der Bauart nach derselbe wie bei der soeben erwähnten anderen
Lokomotive der Pfalzbahn, aber ziemlich grösser: Wagon-top mit breiter tiefer
Feuerkiste über den Rahmen; jedoch ist der konische Schuss zur Vergrösserung des
Dampfraumes hier zwischen den zweiten und dritten zylindrischen Langkesselschuss
eingeschaltet; der dritte trägt den Dom. Die Kesselhöhe von 2,64 m über S. O.
ist für Deutschland damals beträchtlich gewesen. Die Feuerbüchse hat zwei Türen
zur bequemen abwechselnden Beschickung, aber kein Feuergewölbe.
Textabbildung Bd. 320, S. 635
Fig. 19e.
Bei der grossen Rohrlänge von 5,1 m wurde eine Stützwand gegen das Durchhängen im
Abstand von 2,1 m vor der Feuerbüchse angebracht.
In die damals unerreicht lange Rauchkammer (2,375 m) ragt das Kamin tief hinein.
Der Sturmsche Funkenfänger ist wie bei der
Lokomotive „v. Neuffer“ auch hier vorgesehen. Derselbe besteht aus einem
umgekehrten Pyramidenstumpf aus gelochten Blechen; die Vorder- und Hinterwand
sind nach oben bezw. unten aufklappbar, und zwar wird das Aufklappen besorgt
durch einen kleinen, aussen an der Rauchkammer liegenden Dampfzylinder mit
Kurbel. Sobald die Maschine arbeitet, steht der Kolben dieses mit dem
Einströmrohr in Verbindung gesetzten Zylinders unter Druck, und der Kasten
schliesst sich; ist Dampf abgestellt, so öffnet sich derselbe wieder, so dass
die Abgase geringeren Austrittswiderstand haben und die Siederohre zum Putzen
zugänglich sind, während bei geschlossenem Kasten durch die Tätigkeit des
Blasrohres, das am Boden des Kastens sitzt, die Gase zum Durchgang gezwungen
werden.
Die Hauptdampfmaschine ist eine Zweizylinder-Verbundmaschine, deren Zylinder die
Neigung 1 : 14 aus konstruktiven Gründen erhalten haben. Die vordere der beiden
Triebachsen wird angetrieben; gleichwohl ist die Zylindermittellinie nach der
hinteren Triebachse gerichtet, so dass eine ziemlich grosse „Schränkung“
entsteht. Die beiden ungleichen Zylinder konnten nicht anders zwischen den
Rahmen untergebracht werden, als dadurch, dass man sie unsymmetrisch einbaute;
die rechte Mittellinie liegt 270, die linke 355 mm aus der Mitte, so dass auch
die Kröpfachse unsymmetrisch ist. Zylinder und Schieberkasten bilden alle
zusammen ein einziges Gusstück und zwar liegen die Schieberkästen schief
auswärts geneigt auf den Zylindern, so dass sie frei zwischen Laufblech und
Rauchkammer liegen. Die Schieber selbst sind Tricksche Flachschieber.
Die Steuerschraube liegt nach dem Muster der französischen Westbahn senkrecht in einer auf dem Laufblech stehenden
gusseisernen Säule unmittelbar bei der Kulisse, so dass sie den Stein durch eine
kurze Zugstange stellt. Sie erhält ihre Bewegung mittels Kegelräderpaares von
einer wagerechten Welle durch das gewöhnliche Steuerrad. Die Vorteile dieser
Anordnung sind: Wegfall der schweren, federnden und klirrenden Zugstange, sowie
des schwerfälligen federnden Steuerbockes.
Die Anfahrvorrichtung ist die alte Lindnersche,
bestehend aus Anfahrhahn und Entlastungskanälen im Hochdruckschieber, in
Verbindung mit dem Kraussschen
Unterbrechungsschieber, durch welchen die Zufuhr von Frischdampf zum
Niederdruckzylinder in solchen Kurbelstellungen verhindert wird, in welcher der
Gegendruck schädliche (hemmende) Folgen haben würde. Diese Vorrichtung ist mit
der rechten Steuerungskulisse zwangläufig verbunden, und versagt nie, wenn man
den Zylindern eine grösste Füllung von mindestens 86 v. H. geben kann. Dies
wurde hier bei der Niederdruckseite von selbst schon erreicht, bei der
Hochdruckseite dagegen durch 16 mm tiefe und 20 mm breite Einkerbungen im
Schieberlappen hergestellt.
Der Lindnersche Wechselschieber sitzt in einem an
die Vorderseite des Niederdruck-Schieberkastens angestossenen Zylinder; dieser
Kasten selbst trägt in einem Stück ein Sicherheitsventil für 6 atm und ein Ricoursches Luftsaugeventil für Leerfahrt.
(Fortsetzung folgt.)