Titel: | Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart. |
Autor: | M. Richter |
Fundstelle: | Band 320, Jahrgang 1905, S. 649 |
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Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der
Gegenwart.
Von Ingenieur M. Richter,
Bingen.
(Fortsetzung von S. 636 d. Bd.)
Schnellbetrieb auf den Eisenbahnen der Gegenwart.
Die Besonderheiten der ursprünglichen Lokomotive sind nun die Vorspannachse und
der Massenausgleich.
Zwischen den beiden Drehgestellachsen, aber nicht in den Drehgestellrahmen,
sondern in den entsprechend ausgeschnittenen Hauptrahmen ist die Vorspann- oder Hilftriebachse eingelagert. Die Räder derselben haben 1 m Durchmesser wie die
Laufräder, aber keine Spurkränze, und werden gewöhnlich etwa 30 mm über den Schienen
in Schwebe gehalten. Bei Bedarf jedoch wird diese Achse heruntergelassen, nämlich
beim Anziehen schwerer Züge und bei Bewältigung starker Steigungen, und durch
Dampfkraft gegen die Schienen gedrückt, und zwar mit Hilfe zweier über der
Vorderachse liegenden Dampfzylinder, die beiderseits aussen unter dem Laufblech sich
befinden. Dieselben wirken durch Zwischenwelle mit Winkelhebeln auf eine an dem
Lagerkörper der Vorspannachse in der Mitte angreifende Druckstange.
Durch die zugehörige Reaktion werden nur die zwei Achsen des Drehgestells entlastet,
weil die Vorspannachse genau die Mitte desselben einnimmt, und zwar nimmt dieselbe
13,8 t auf sich. Um eine gefährliche Entlastung der führenden Vorderachse des
Drehgestells zu vermeiden, befindet sich 280 mm hinter der hinteren Drehgestellachse
eine aus zwei Schneckenfedern bestehende Spannvorrichtung, welche das Hinterende des
Drehgestells an den Gleitbahnträger anzuheben sucht und deshalb von vornherein, auch
ohne Betätigung der Vorspannachse, von der auf dem Drehgestell liegenden Gesamtlast
3,9 t mehr der Vorderachse zuweist als der Hinterachse, so dass die erstere auch im
Entlastungsfalle noch 8,1 t zu tragen hat.
Die Antriebsmaschine der Vorspannachse ist, da es auf ihren nur kurze Zeit überhaupt
benötigten Dampfverbrauch nicht ankommt und aus Einfachheitsgründen als
Zwillingsmaschine mit 260 mm Zylinderdurchmesser und 400 mm Hub ausgeführt. Sie
entwickelt deshalb bei 14 atm Druck etwa 2,5 t Zugkraft, halb so viel als die
Hauptmaschine, so dass die Gesamtzugkraft für die Dauer der Tätigkeit der
Hilfsmaschine einer regelrechten dreifach gekuppelten Maschine entspricht.
Es kann also gewissermassen die gegebene zweifach gekuppelte Maschine im Bedarfsfall
sofort in eine dreifach gekuppelte verwandelt werden. Dies hat den grossen Vorteil
vor einer wirklichen dreifach gekuppelten Maschine, dass der Gang viel leichter, die
Beanspruchung im Triebwerk und der Kohlenverbrauch geringer ist, umsomehr, als die
zweifach gekuppelte Maschine der Adhäsion noch in den weitaus meisten Fällen zur
Beförderung der Züge genügt, so dass es sich nicht verlohnt, wegen der kurzen
Zeitdauer des Anziehens oder wegen ähnlicher vorübergehender Fälle auf die ganze
Fahrt die Nachteile der dreifach gekuppelten Maschine mit in Kauf zu nehmen, welche
zudem im allgemeinen die Unterbringung einer grossen Rostfläche, wie sie bei
hinterer Laufachse so leicht zu erreichen ist, unmöglich macht.
Was endlich den scheinbaren Nachteil der Gewichtsvermehrung durch das Hilfstriebwerk
betrifft, so ist derselbe wirklich gering, da nämlich die ganze Vorrichtung nicht
mehr wiegt als eine Kuppelachse mit grossen Rädern und Zubehör, oder als die
Gewichtsvermehrung durch die zweite Dampfmaschine der vierzylindrigen Maschinen
beträgt. –
Das Wiederabheben der Achse geschieht beim Auslassen des Druckes aus den
Belastungszylindern infolge der Reaktion von Schraubenfedern.
Die Steuerung der Hilfsmaschine ist eine Abart der Joyschen; der Auspuff geht in ein besonderes Blasrohr, welches das
Hauptblasrohr ringförmig umgibt, und zwar zuerst in einen Dampfkasten, der zwischen
den Rahmen als Versteifung der beiden Hilfszylinder gegeneinander eingebaut ist und
auch den Abdampf der Bremsluftpumpe und der Schlammhähne der Haupt- und der
Hilfsmaschine aufnimmt und am Boden mit Spuckrohr versehen ist.
Die Steuerung der Hauptmaschine ist die Heusingersche,
aber wieder wie bei der anderen ⅖-gekuppelten Maschine der Pfalzbahn, mit Antrieb
der Schwinge durch eine Abart der Joyschen
Lenkerverbindung, infolge Platzmangels für das Exzenter. Durch
verschiedenartige Teilung der beiden Voreilhebel, durch verschiedenartige äussere
Ueberdeckung der beiden Schieber, sowie durch eine Lenkervorkehrung an der
Niederdrucksteuerung, welche eine Beschleunigung des Steins gegen die
Totpunktstellung zu bewirkt, sind folgende zueinander passende Füllungsgrade
hergestellt, denen die Füllungsgrade der Hilfsmaschine, deren Steuerwelle mit der
Welle der Hauptmaschine gekuppelt ist, gegenübergestellt seien:
Fahrtrichtung
Hochdruck
Niederdruck
Vorspann
Vorwärts„„„„
78½ (87)60504030
87 78½72 64½ 53½
77½ 35½ 23½16–
Rückwärts
78 (86½)
87
77½
Die Massenausgleichung endlich ist versuchsweise durch
sogenannte Bob-Gewichte nach Yarrow bewirkt. Dieselben
liegen ausserhalb der Rahmen unterhalb der Feuerbüchse, in der Verlängerung der
Zylindermittelebene. Infolge der endlichen Stangenlängen bleiben ganz geringe
Störungen noch zurück, wie z.B. 0,2 mm Zuck-Amplitude.
Die Triebzapfen der Bob-Gewichte wurden hart an die Radnabe innerhalb der
Triebkuppelzapfen verlegt, da der Ausgleich am besten an der Triebachse selbst
erfolgt. Zwischen die eigentliche Pleuelstange jedes Bobgewichtes und die
Triebzapfen musste deshalb noch eine Verbindungsstange eingelegt werden, welche
drehende Bewegung erhält wie die Kuppelstange selbst, und durch ein Gelenkstück am
Kuppelzapfen der Hinterachse aufgehängt ist. Rechnerisch bestimmte sich der
Versetzungswinkel zwischen den Antriebskurbeln der Bobgewichte zu 37°. Von Rechts
wegen sollte ja die Halbierungslinie des Bobkurbelwinkels gerade die Verlängerung
der Halbierungslinie des Maschinenkurbelwinkels von 90° bilden; jedoch spricht hier
die Unsymmetrie der Dampfmaschine und ihre Neigung mit, so dass sich eine Abweichung
von 4° zwischen beiden ergab. Dieser Winkel von 37° ist aber viel zu klein für den
Winkel der Kuppelkurbeln, da sonst die Kuppelachse nicht zur Bedeutung als solche
hätte kommen können. Infolgedesssen ist der Kuppelstirnzapfen des Triebrades auf dem
Bob-Halszapfen um 50½ mm exzentrisch aufgesetzt, was einem Winkel von 9½°
entspricht; folglich beträgt der wahre Winkel der Kuppelkurbeln 37 + 2 . 9½ = 56°.
Der Hub der Triebkurbeln ist 660, derjenige der Kuppelkurbeln 610 mm; also ist der
Hebelarm der Kuppelstange, wenn die andere im toten Punkt steht \frac{610}{2}\mbox{ sin }56^{\circ}=253\mbox{ mm}, was auf alle Fälle genügt.
Soweit über die bemerkenswerten theoretischen Ueberlegenheiten dieser Maschine.
Nach der Rückkehr von Paris wurde dieselbe von der Pfalzbahn angekauft. Bald aber
zeigten sich im Betrieb die schwersten Uebelstände, indem die vielteiligen
Neuerungen unausgesetzt nach kurzen Fahrten Anlass zu Reparaturen gaben. Vor allem
war es auffallenderweise die Vorspannmaschine, bei der unaufhörlich der Joy-Lenker im Steinauge zerbrach: infolge der von
Aengstlichkeit hervorgerufenen übermässigen Schmierung der Hilfsmaschine, die
fortwährend von Oel triefte, litt auch die Adhäsion der Hauptmaschine. Dadurch wurde
natürlich der Vorteil der Vorspannmaschine trügerisch. Bei diesem Schleudern aber
litt nun auch der Massenausgleich; die Bobgewichte schlugen die Triebachslager in
wagerechter Richtung aus, und zwar umso eher, als sie nicht, wie die Kolben, durch
Dampfpolster in den toten Punkten sanft aufgefangen wurden. Dieser Nachteil zeigte sich
bei ihnen aber auch ohne Radschleifen, im gewöhnlichen Gang, so dass wenigstens in
betreff der Bobgewichte die amerikanische Prophezeiung über diese Maschine zutraf:
„Die Abhilfe ist schlimmer als das Uebel!“ In betreff der Vorspannachse
nämlich traf sie nur ganz zufällig zu; denn die ¼-gekuppelte Schnellzuglokomotive
der bayerischen Staatsbahnen mit Vorspannachse (D. p. J. 1902, 317, S. 558), welche auf der Nürnberger Ausstellung 1896 sich zeigte und
seitdem unaufhörlich im Betriebe steht, hat sich vorzüglich gehalten; Anlässe zu
Reparaturen hat es noch nicht gegeben, die Abnutzung der Hilfsmaschine ist überhaupt
äusserst gering und der Kohlenverbrauch ist nur 6,97 kg/km, während er bei den gewöhnlichen 2/4-gekuppelten
Maschinen der bayerischen Staatsbahnen 7,77 kg/km zu betragen pflegt. Die Vorspannachse wird auf
der Salzburger Linie 20 km weit gebraucht auf Steigungen von 1 : 107 bis 1 : 94 mit
Zügen von 200 t h. T. Bei doppelter Besetzung sind im Jahre 1897 nicht weniger als
rund 92000 km durchlaufen worden.
Mit Rücksicht auf die erwähnten Uebelstände wurde im Winter 1891–92 die Lokomotive
von der Baufirma umgebaut insofern, als die Vorspannachse samt dem ganzen Zubehör,
die Spannvorrichtung, die Antriebsmaschine, die Senkvorrichtung, die Rohrleitungen
usw., dann die Bobgewichte mit dem ganzen Stangenwerk endgültig beseitigt
wurden.
An Stelle des bayerischen vierachsigen Tenders hatte schon vorher die Pfalzbahn einen
normalen dreiachsigen Tender angehängt, da die Lokomotive für die Drehscheiben zu
lang gewesen war.
Textabbildung Bd. 320, S. 651
Fig. 20. Krausssche Schnellzuglokomotive nach dem ersten Umbau.
Nach dem Umbau wurde die vorher auf 120 km/St. festgesetzte Höchstgeschwindigkeit (n = 340!) auf 100 km/St. herabgesetzt (n = 285). In dieser neuen Form vom Frühjahr 1902 ist
die Maschine dargestellt durch Fig. 20.
Im Sommer 1902 jedoch zeigten sich erneute Uebelstände, nämlich mit der inneren
Steuerung, und zwar brach fortgesetzt der von Winterthur modifizierte Joy-Lenker,
sonderbarerweise nur rechts, während links alles in Ordnung blieb. Endlich wurde
nach einem derartigen Missgeschick, das sich auf der Leerfahrt zu Thal von Enkenbach
nach Münster a. Stein ereignete, ein erneuter Umbau ins Werk gesetzt, die Lenker
beseitigt, und der Antrieb der Schwinge nach aussen verlegt, indem eine
Gegenkurbel an der Kuppelachse aufgesetzt wurde, welche durch eine lange Stange
mit Zwischenwelle die Schwinge zu bewegen hatte, nach Winterthurer Muster (2/4 der N. O. B., D. p. J. 1903, 318, S. 810).
Das Adhäsionsgewicht wurde auf 30,4 t gebracht, der Sandkasten zurückgesetzt und vor
beide Triebachsen geführt, und die Westinghouse-Bremse
durch die Schleifersche ersetzt.
Textabbildung Bd. 320, S. 651
Fig. 21. Krauss'sche Schnellzuglokomotive nach dem zweiten Umbau.
Nun wurden auch die Räder auf der Kröpfachse gedreht, um normalen Kurbelwinkel
anzunehmen; jedoch wurden die Kuppelkurbeln nicht um 180° gegen die inneren
Triebkurbeln versetzt, sondern, um die Achslager zu schonen, mit diesen
gleichgerichtet, ebenfalls eine vereinzelte Ausführung. Ferner wurde die Rauchkammer
nach amerikanischer Weise durch zwei Streben gegen die Kopfschwelle abgesteift. In
dieser letzten Form ist die Lokomotive dargestellt durch die Zeichnung (Fig. 21).
Es ist bedauerlich, dass die wertvollen theoretischen Errungenschaften, welche diese
Lokomotive besessen hatte, nicht auch in praktische sich umsetzen liessen, indem
eben eine sonderbare Kette von Hindernissen, die an sich mit den grundsätzlichen
Vorzügen nichts zu tun hatten, den letzteren den Garaus machte.
In der jetzigen Gestalt ist die Lokomotive beim Personal als ausdauernder Renner
beliebt und hat sich bezüglich Zugkraft, Verdampfung, Ruhe des Ganges bewährt. Vor
dem Erscheinen der „v. Neuffer“ konnte sie als einzige die
„Manteuffel“-D-Züge bewältigen und hatte deshalb täglich die Strecken
Ludwigshafen–Strassburg–Neustadt–Strassburg–Ludwigshafen zu machen, zusammen (145 +
116 + 116 + 145) = 522 km, eine gehörige Leistung, die nur durch die grossen
badischen Schnellzuglokomotiven eingeholt wurde.
Ein Einbau des Pielock-Ueberhitzers oder des
Ueberhitzers der Lancashire-Yorkshire Bahn (Fig. 7) würde ihr aber auch wieder zum Sieg über die
„v. Neuffer“ verhelfen, so dass die rechnungsmässig zu erwartende
Leistung von 1330 PS mit geringerem Materialverbrauch zu erzielen wäre. –
Für die liebenswürdige Ueberlassung des Materials über diese Lokomotive spricht der
Verfasser hiermit dem Oberingenieur der Firma Krauss
& Co., München, Herrn R. v.
Helmholtz, seinen besten Dank aus.
(Fortsetzung folgt.)