Titel: | Die Weltausstellung in Lüttich 1905. |
Autor: | M. Richter |
Fundstelle: | Band 321, Jahrgang 1906, S. 6 |
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Die Weltausstellung in Lüttich 1905.
Das Eisenbahnwesen, mit besonderer
Berücksichtigung der Lokomotiven.
Von Ingenieur M.
Richter, Bingen.
Das Eisenbahnwesen auf der Weltausstellung in Lüttich
1905.
In dem grossen, jenseits der Ourthe im Lütticher Stadtteil „les Vennes“
befindlichen Hallenkomplex, welcher die Haupt-Industrieausstellung in sich barg, war
dem Eisenbahnwesen als Abschluss des Ganzen in wohlgelungener Weise der hinterste
Teil zugewiesen, völlig offen gegen die Nachbarabteilungen, deren nächste die
Deutsche Maschinenausstellung war, und mit drei Ausgängen in's Freie, d.h. in die
Geleisanlagen führend. Durch diese Lage, welche im Gegensatz zur Weltausstellung in
Paris 1900 als stiefmütterlich behandelt nicht bezeichnet werden konnte, war das
Eisenbahnwesen in gebührender Weise als vollwertiges Sondergebiet der
Maschinenausstellung aufgeführt und dem allgemeinen Interesse (auch des
Laienpublikums) näher gerückt.
Was zunächst den blossen Umfang der Eisenbahnausstellung
betrifft, so hatten die beiden Aussteller alle Anstrengungen gemacht, um auch in
dieser Beziehung Hervorragendes zu leisten. Der zur Verfügung gestellte und völlig
besetzte Raum, welcher freilich seiner Anlage nach eine beliebige Erweiterung bei
entsprechender Nachfrage zugelassen hätte, setzte sich aus drei in den Längsseiten
zusammenstossenden Schiffen zusammen. Bei einer Länge von 200 m und einer
Gesamtbreite von rund 41 m war die Eisenbahnhalle einschliesslich verschiedener
Nebenabteilungen rund 8000 qm gross in der Bodenfläche. Jedes der drei Schiffe
fasste zwei Geleise; die Gesamtlänge aller sechs parallelen Stränge betrug rund 1150
m. Ein Drittel des Ganzen mit einer Geleislänge von 325 m war von Frankreich belegt,
während die durch einen Quergang von 3,25 m Breite abgetrennte belgische Abteilung
die übrigen zwei Drittel beanspruchte.
Wie in allen übrigen Räumen der Gewerbeausstellung, so war auch in der Eisenbahnhalle
der Boden durchwegs mit Brettern belegt und so ein wirksamer Staubschutz geschaffen;
für gleichmässige, gute Beleuchtung war durch Lichtdächer, in der Schlusswand
auch durch hohe Wandfenster gesorgt.
Diese Halle genügte aber nicht, um das ganze Eisenbahnmaterial aufzunehmen; denn
ausserhalb derselben hatten in der grossen Maschinenhalle die Firmen Cockerill-Seraing und La Meuse
Lüttich ihre Sonderausstellungen von Lokomotiven; die internationale
Schlafwagengesellschaft in Brüssel hatte ihre besondere Ausstellung ausserhalb der
Industriehallen ganz in der Nähe des Festplatzes, und die bekannte Kleinbahnfirma
Decauville endlich hatte die mit Benzinmotorwagen
betriebene Ausstellungs-Trambahn geliefert, welche bei 60 cm Spurweite zur
Verbindung der Haupthalle und des Festplatzes mit den Anlagen im „Parc de la
Boverie“ auf der Insel zwischen Maas und Ourthe diente.
Im ganzen waren 91 Stück rollendes Material ausgestellt, nämlich 31 Lokomotiven und
60 Wagen und zwar von französischer Seite 11 Lokomotiven und 15 Wagen (26 Stück),
von belgischer Seite die übrigen 20 Lokomotiven und 45 Wagen (65 Stück),
einschliesslich derjenigen von der internationalen Schlafwagengesellschaft. Es
ergibt sich daher folgende Uebersicht:
Eigentümer
Lokomotiven
Wagen
Zusammen
FrankreichBelgienInternat. Schlafwag.-G.
1120–
1542 3
2662 3
Im ganzen
31
60
91
Die Anlage und Grösse der Hallen, sowie die Verteilung des ausgestellten
Eisenbahnmaterials ergibt sich aus dem Plan (Fig.
1).
Was ferner den Inhalt der Ausstellung betrifft, so bot
sie, wie kaum eine Weltausstellung bisher, in ausgezeichneter Weise ein wirklich
vollständiges Bild nicht nur vom belgischen Lokomotivbau an sich, sondern zugleich
von
Textabbildung Bd. 321, S. 7
Fig. 1. Verteilungsplan der Eisenbahnhalle.
seinen neuesten und besten Bestrebungen, und ausserdem
von den im Betrieb der belgischen Bahnen gegenwärtig sich zu Normalien
emporarbeitenden Lokomotivgattungen. Ausserdem wurden noch solche Bauarten gezeigt,
welche sich voraussichtlich die Zukunft erobern werden, oder welche reine
Versuchszwecke von grösster technisch-wissenschaftlicher Bedeutung verfolgen sollen,
während geschichtliches Material an Bauarten, auch wenn diese erst vor zehn Jahren
ihre Blütezeit erreicht hatten, gänzlich fehlte. Dasselbe gilt von der französischen
Abteilung, welche alle hervorragenden französischen Bauarten der Gegenwart vorführte
und ausserdem eine Anzahl bemerkenswerter Neuheiten bot. Die Eisenbahnabteilung muss
daher als eine der besten Darbietungen der ganzen Lütticher Weltausstellung
bezeichnet werden. Welcher Art die getroffene Auswahl war, geht schon daraus hervor,
dass auf französischer Seite sämtliche sieben grossen Hauptbahnen, auf belgischer
sämtliche zwölf Lokomotivfabriken vertreten waren.
Nicht so erquicklich freilich wie die Besichtigung gestaltete sich die Einholung des
zum Verständnis der Darbietungen unerlässlichen Materials an Zeichnungen, Berichten
usw. Hier verhielten sich die Firmen sehr verschieden; einige haben das Gesuch um
Ueberlassung des erforderlichen Materials nicht beantwortet, weder positiv noch
negativ, und hätten daher besser getan, überhaupt nichts auszustellen, da dem
Fachmann mit dem blossen Anblick einer oft recht bunten Lackierung und eines blanken
Firmenschildes sehr schlecht gedient ist; andere haben wenigstens erwidert, wenn
auch negativ. Im Gegensatz dazu haben die französischen Bahnen in anerkennenswerter
Weise sehr eingehende, schöne Erläuterungsberichte anfertigen lassen – ebenso auch
die belgische Staatsbahn – und ihnen, so wie den entgegenkommenden Firmen, sei für
ihre bereitwilligen Bemühungen hiermit bestens gedankt. So ist denn die Abfassung
eines Berichtes trotz den anfänglich sehr schlechten Aussichten doch möglich
geworden. –
Um nun auf die Beschreibung des ausgestellten Rollmaterials überzugehen, so kann nach
verschiedenen Gesichtspunkten eine Einteilung desselben vorgenommen werden, und zwar
sind dies ausser der Zugehörigkeit die Spurweite, der Betriebszweck, die Bauart,
welch letztere im besondern bei den Lokomotiven massgebend in Betracht kommt. Zur
besseren Uebersicht soll für das Folgende eine durchgehende Trennung von Lokomotiven
und Wagen vorgenommen werden.
a. Lokomotiven.
Wie bereits erwähnt, waren 31 Lokomotiven ausgestellt, und zwar 11 französische und
20 belgische.
Der Bestimmung und Zugehörigkeit nach verteilten sich diese folgendermassen:
Land
Bahn
Stuckzahl
Zu-sammen
Frankreich
StaatsbahnNordbahnSüdbahnOstbahnWestbahnParis–OrléansParis–Lyon–Mittelmeer
Hauptbahnen
1 2 1 1 1 1 1
11
Indochina
1
Ardennenbahn
1
(Décauvillesche) Kleinbahnen
1
Belgien
StaatsbahnNordbahn
Hauptbahnen
14 1
20
Nationale Nebenbahnen
1
Verschieden. Industriebahnen
4
Im ganzen 31
Nach der Herkunft gewinnt man dagegen folgende Uebersicht:
Land
Baufirma
Stückzahl
Frankreich
Soc. Alsacienne, BelfortSoc. des Bâtignolles, ParisSchneider
& Cie., CreusôtAteliers du Nord, ParisAteliers
d'EpernaySoc. française Cail, DenainDécauville Petit
BourgCorpet & Louvet, Paris
2 2 2 1 1 1 1 1
Im ganzen
11
Belgien
Soc. Cockerill, SeraingSoc. „La Meuse“, LiègeSoc. „St.
Léonard, LiègeSoc. Haine-St. PierreSoc. „La
Métallurgique“, TubizeSoc. „Energie“, MarcinelleSoc
Marcinelle et CouilletSoc. du Thiriau, La CroyèreNicolaieff, At de
la Biesme, BouffioulxSoc. de BoussuZimmermann, Hanrez & Cie.,
Monceaus/S.Soc. Franco-Belge, La Croyère
5 3 2 2 1 1 1 1 1 1 1 1
Im ganzen
20
Von diesen 31 Lokomotiven waren 19 solche mit Schlepptender und die übrigen 12
Tenderlokomotiven. Infolge Platzmangels waren jedoch bei sämtlichen 9 französischen
Lokomotiven (einschliesslich der „belgischen“ Nordbahn), so wie bei
denjenigen in den Sonderausstellungen von Cockerill und La Meuse die Tender nicht
mit ausgestellt, so dass von den erwähnten 19 nur 7 ihren Tender mit sich führten;
es waren daher ausgestellt:
7 Lokomotiven mit Tender, 12 ohne Tender, 12 Tenderlokomotiven
(zusammen 31).
Nach der Achsenzahl und dem Kupplungsverhältnis ist dagegen die Verteilung
folgende:
2 Achsen: 2 Stück 2/2 gek., (Tenderlokomotiven).
3 Achsen: 6 Stück 3/3 gek., (wovon 4 Tenderlokomotiven).
4 Achsen: 6 Stück, und zwar 3 Stück 2/4 gek., 1 Stück ¾ gek.,
(Tenderlokomotive) und 2 Stück 4/4 gek., (Tenderlokomotiven).
5 Achsen: 16 Stück, und zwar 4 Stück ⅖ gek., (wovon 2
Tenderlokomotiven), 11 Stück ⅗ gek., und 1 Stück ⅘ gek.
8 Achsen: 1 Stück 2 × ¾ gek., (Tenderlokomotive).
Eine Klassenteilung nach dem Betriebszweck ist heute im allgemeinen nur schwierig
vorzunehmen, da dieselben Bauarten für die verschiedensten Dienste benutzt werden,
zumal in gebirgigen Gegenden. Das Bestreben des Lokomotivbaues geht bekanntlich
dahin, die Zahl der Bauarten dadurch zu verringern, dass die einzelnen Bauarten
möglichst vielseitige Anpassungsfähigkeit erhalten; eine und dieselbe Gattung muss
imstande sein, langsame schwere Güterzüge, kurze Eilgüterzüge, Personenzüge im
Flach- und Hügelland, und Schnellzüge im Gebirge wirtschaftlich und betriebssicher
zu befördern. Nach diesen Gesichtspunkt ist daher auch die folgende
Klasseneinteilung zu verstehen, nach welcher ausgestellt waren:
SchnellzuglokomotivenPersonenzuglokomotivenGüterzuglokomotiven
(100–125 km/St.): (90–100 km/St.): (60–90 km/St.):
11 3 4
Stück.„„
Tenderlokomotiven
(50–100 km/St.):
5
„
Neben- und Kleinbahnlokomotiven
8
„
Aus dieser Zusammenstellung ist zu ersehen, wie hoch in Frankreich-Belgien die
zulässigen Geschwindigkeitsgrenzen hinauf gerückt sind, im Durchschnitt 25 km/St. höher als
die in Deutschland üblichen. Etwa die Hälfte aller ausgestellten Lokomotiven waren
solche von Höchstgeschwindigkeiten von 100 bis 125 km/St. eine Erscheinung, die sämtliche
vorausgegangenen Weltausstellungen ebenfalls aufgewiesen haben, und ein Beweis für
das Ansehen und die Bedeutung der schnellfahrenden Dampflokomotive.
Wesentlich ist ferner die Einteilung nach der Dampfwirkung. Es hatten:
einfache Dehnungzweifache Dehnung
19 Stück12 Stück
(31)
und zwar waren ausgerüstet mit
NassdampfmaschineHeissdampfmaschine
23 Stück 8 Stück
(31)
Letztere waren sämtlich belgischer Zugehörigkeit, während umgekehrt von den 12
Verbundlokomotiven 8 von Frankreich gestellt waren. Während in Belgien, unter
Tabelle 1.
Textabbildung Bd. 321, S. 8
Spurweite; Dampfdehnung; Zahl d.
Zylinder; Betriebszweck; Kuplung; Land; Frankreich; Belgien; Zusammen; Normal;
Schmal; Zwilling; Verbund; 2 Zylinder; 4 Zylinder; 4 Zyl.; 2 Zyl.; S. Z. L.; P.
Z. L.; G. Z. L.; Tender-L; mit Schlepptender; Im ganzen
Beibehaltung der Zwillingsmaschine mit dem Heissdampf
umfassende Versuche angestellt werden, ist in Frankreich auf den Hauptbahnen die
Verbundmaschine ausschliesslich zur Anwendung gelangt. Von Besonderheiten ist noch
zu erwähnen, dass auf belgischer Seite
1 Stück Vierzylinder Heissdampf, Nichtverbund2 Stück
Vierzylinder Heissdampf, Verbund
Maschinen
vertreten waren.
Der Zahl der Zylinder nach waren überhaupt vorhanden (bei im ganzen 31
Lokomotiven)
19 Stück mit zwei Zylindern, wovon 1 Stück mit Verbundmaschine, und
die übrigen 12 Stück
mit vier Zylindern, wovon 11 Stück mit Verbundmaschine.
Mit Rücksicht auf alle diese Gesichtspunkte gewinnt man nebenstehende Uebersicht.
Führt man endlich noch die Zugehörigkeit und das Kupplungsverhältnis ein, so erhält
man die Tabelle 1, Seite 8, deren Abkürzungen ohne weiteres verständlich sein
werden.
Auch die Zusammenstellung 1 zeigt, welche Gegensätze zwischen den französischen und
belgischen Anschauungen herrschen, auf der einen Seite fast nur vierzylindrige
Verbund-, auf der anderen Seite fast nur Zwillingsmaschinen, letztere aber, wie
bereits erwähnt, zahlreich mit Ueberhitzer versehen.
Zwilling
Verbund
Zusammen
Nassdampf
Heissdampf
Nassdampf
Heissdampf
2 Zyl.
4 Zyl.
2 Zyl.
4 Zyl.
2 Zyl.
4 Zyl.
2 Zyl.
4 Zyl.
Normalspur.
Schnellzug-L.Personenz.-L.Güterzug-L.
mitSchlepp-tender
1– 1
–––
112
1––
1––
611
–––
11–
11 3 4
Tender-Lok Schmalspurmit SchlepptenderTender-Lok
7 1 3
–––
1––
–––
–––
1––
–––
–––
9 1 3
Im ganzen
13
–
5
1
1
9
–
2
31
13
6
10
2
19
12
(Fortsetzung folgt.)