Titel: | Fortschritte in der Theorie des Eisenbetons seit 1904. |
Autor: | P. Weiske |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 113 |
Download: | XML |
Fortschritte in der Theorie des Eisenbetons seit
1904.
Von Dr.-Ing. P. Weiske,
Kassel.
Fortschritte in der Theorie des Eisenbetons seit 1904.
Ein Markstein in der Entwicklung des Eisenbetonbaues ist in Deutschland die
Herausgabe der amtlichen Bestimmungen für die Ausführung von Konstruktionen aus
Eisenbeton bei Hochbauten vom 16. April 1904. Vor dieser Zeit herrschte eine große
Verschiedenheit in der Verwendung der Berechnungsverfahren zur Bemessung der
Eisenbetonbauten. Dies hatte zur Folge, daß die Prüfung derartiger Berechnungen für
die Behörden sehr lästig war, und daß das Vertrauen derselben zu den neuen
Konstruktionen nicht gerade gesteigert wurde. – Durch die Herausgabe der
„Bestimmungen“ wurde die neue Bauweise amtlich anerkannt. Außerdem wurde
ein verhältnismäßig einfacher Rechnungsgang festgelegt, der in der Folge zahlreiche
Arbeiten zur Gewinnung direkter Dimensionierungsformeln und Tabellen auslöste. Für
die vorwärtsarbeitende Theorie wurde eine gewisse Richtschnur gegeben, nach der
Versuche anzustellen und welche Fragen noch aufzuklären seien.
In den folgenden Zeilen wollen wir versuchen, eine Uebersicht über beide
Arbeitsgebiete zu geben, über die Fortschritte in der praktischen Dimensionierung
der Eisenbetonbauten und über die Fortschritte ihrer Theorie.
Bei der großen Menge der erschienenen Arbeiten konnten nicht alle berücksichtigt und
gewürdigt werden, da hierzu der verfügbare Raum nicht ausreichen würde. Es sollen
daher hauptsächlich typische Beispiele aus der Literatur hervorgehoben werden.
Die Leitsätze, welche den amtlichen Bestimmungen zugrunde gelegt sind, sind
folgende:
1. Das Elastizitätsmaß des Eisens ist zu dem fünfzehnfachen von
dem des Betons anzunehmen.
2. Die Spannungen des auf Biegung beanspruchten Körpers sind
unter der Annahme zu berechnen, daß sich die Dehnungen wie die Abstände von der
Nullinie verhalten und daß die Eiseneinlagen sämtliche Zugkräfte aufzunehmen
haben.
3. Schubspannungen sind nachzuweisen, wenn Form und Ausbildung
der Bauteile ihre Unschädlichkeit nicht ohne weiteres erkennen lassen.
4. Die Eiseneinlagen sind möglichst so zu gestalten, daß die
Verschiebung gegen den Beton durch ihre Form verhindert wird. Soweit dies nicht
geschieht, ist die Haftspannung rechnerisch nachzuweisen.
5. Die Berechnung der Stützen auf Knicken soll erfolgen, wenn
ihre Höhe mehr als das 18 fache der kleinsten Querschnittsabmessung beträgt. Zur
Berechnung der Stützen auf Knicken ist die Eulersche Formel anzuwenden.
Außerdem sind noch Angaben über die Ermittelung der Belastungen und äußeren
Kräfte, sowie über die zulässigen Spannungen gemacht.
Im Anschluß hieran werden in den „Bestimmungen“ Formeln abgeleitet für die
Ermittelung der Lage der Nulllinie und der Größe der Spannungen in Platten,
Plattenbalken, Säulen und Gewölben von gegebenem Querschnitt.
Für die Praxis ist es wichtiger, direkte Dimensionierungsformeln zu haben, bei
welchen die zulässigen Spannungen angenommen sind. Man kann aus den
„Bestimmungen“ Formeln ableiten für die Nutzhöhe h und den Eisenquerschnitt Fe.
Mit der Aufstellung von Formeln für die direkte Bemessung der Querschnitte
beschäftigen sich eine Reihe von Arbeiten. Die ausführlichste Arbeit lieferte Barkhausen (Deutsche Bauzeitung 1905, No. 1, 4, 5),
weitere Beiträge stammen u.a. von Mörsch (Eisenbetonbau,
herausgegeben von Wayß und Freytag), Turley, Ramisch, Weiske, Elwitz.
Wir wollen das Verfahren der Dimensionierung der Platten und Plattenbalken kurz
erläutern:
Textabbildung Bd. 322, S. 113
Fig. 1a.
Textabbildung Bd. 322, S. 113
Fig. 1b.
In Fig. 1a und b
bezeichnet x die Breite der Druckzone, h die Nutzhöhe (Abstand der Eiseneinlage von der
Druckkante), d die Plattenstärke, b die Breite der Druckzone (gew. b = 100), σd und σe die zulässigen Beanspruchungen von Beton und
Eisen, Fe den
Eisenquerschnitt.
Dann ist:
I. Die Breite der Druckzone:
x=\frac{1}{1+\frac{\sigma_e}{15\,\sigma_d}}\cdot h
II. Der Abstand von Druck- und Zugmittelpunkt h1:
1. für Platten und Plattenbalken mit d > x
h_1=h-\frac{x}{3}
2. für Plattenbalken mit d < x
h_1=h-\frac{d}{2}\cdot \frac{6-4\cdot \frac{d}{x}}{6-3\cdot \frac{d}{x}}
allgemein h1
= φh.
III. Der Eisenquerschnitt:
a) für Platten und Plattenbalken mit d > x
F_e=\frac{b\,x}{2}\cdot \frac{\sigma_d}{\sigma_e},
b) für Plattenbalken mit d < x
F_e=b\,d\,\left(1-\frac{d}{2\,x}\right)\,\frac{\sigma_d}{\sigma_e},
allgemein
F
e
= μ . bh.
Da nun das Biegungsmoment M =
σe . Fe . h1 ist, läßt sich auch schreiben:
M = σeμ . φ . h2
oder
h=\sqrt{\frac{1}{\mu\cdot \varphi\cdot \sigma_e}}\cdot \sqrt{M}.
Setzt man das Biegungsmoment in mt für Im Breite ein, so ist
h=\sqrt{\frac{1000}{\mu\,\varphi\cdot \sigma_e}}\cdot \sqrt{M}.
Die Benutzung dieser Formeln und der Einfluß der Verminderung
der Plattenstärke bezw. des Verhältnisses \frac{d}{h} ist für die Spannungen σd = 40 kg/qcm und σe = 1200 kg/qcm aus
folgender Tabelle ersichtlich:
d/h
h
1
h = a√M
Fe= b√M
Fe = μbh
Bemerkung
σd = 40 kg/qcmσe = 1200 kg/qcmx = 0,333 h
0,100,150,200,250,300,333
0,953 h0,932 h0,914 h0,900 h0,891 h0,889 h
17,6 √M15,2 „14,0 „13,3 „13,1 „13,0 „
5,0 √M5,9 „6,5 „6,9 „7,2 „7,2 „
0,283 \frac{b\,h}{100}0,388 „0,466 „0,521
„0,550 „0,556 „
M ist einzu-setzen in mt
Aus dieser Tabelle erkennt man, daß mit abnehmender Plattenstärke die erforderliche
Höhe wächst und der Eisenquerschnitt abnimmt.
Für doppelte Armierung auf der Zug- und Druckseite kann man ähnliche Formeln
ableiten. Man wird die doppelte Armierung wählen bei beschränkter Konstruktionshöhe,
namentlich bei dem Anschluß von Plattenbalken an Säulen, wenn die Plattenbalken über
mehrere Säulen weglaufen. Im allgemeinen ist es vorteilhafter, bei beschränkter
Konstruktionshöhe mit niedrigeren Eisenbeanspruchungen und einfacher Armierung zu
arbeiten.
Für den praktischen Gebrauch sind mit Benutzung ähnlicher Formeln mehrere
Tabellenwerke herausgegeben, aus welchen die Abmessungen für gegebene Nutzlasten
entnommen werden können. Zu erwähnen sind die Tabellen von Kaufmann, von Schybilsky (beide bei Ernst
& Sohn erschienen), von Schellenberger und von Ramisch-Göldel
(beide im Verlag der „Tonindustriezeitung“ erschienen).
Die Benutzung von Tabellen hat namentlich bei Plattenbalken mit Vorsicht zu
geschehen. Die Tabellen sind berechnet unter Zugrundelegung der zulässigen
Normalspannungen im gefährlichen Querschnitt. Sache des Konstrukteurs ist es, den so
ermittelten Querschnitt gegen zu große Schub- und Scherspannungen durch Aufbiegen
der Eisen, Einlegen der Bügel, möglichst große Teilung des Eisenquerschnittes und
genügende Rippenbreite zu sichern. Neuere Versuche, auf welche wir später noch
zurückkommen, haben bewiesen, daß nicht so sehr übergroße Normalspannungen, sondern
zu große Schub- und Haftspannungen die Bruchursache waren. In den amtlichen
Bestimmungen ist diesen Verhältnissen durch Annahme einer zulässigen Beanspruchung
auf Schub von nur 4,5 kg/qcm und einer gleich großen zulässigen Haftspannung
Rechnung getragen.
Es muß noch erwähnt werden, daß auch auf graphischem Wege sich die Aufgabe der
direkten Dimensionierung lösen läßt. Mit Hilfe von Kraft und Seileck ist die Aufgabe
gelöst von Weiske u.a. in der „Tonindustriezeitung“
1905, No. 48.
Ein anderes graphisches Verfahren stammt von v.
Emperger, dasselbe ist von ihm u.a. erneut erörtert in dem Aufsatz: „Eine rationelle Bestimmung der Abmessungen von
Balken“ („Beton und Eisen“ 1906, Heft II). Aus einem
vierachsigen Diagramm kann man für gegebene Momentenwerte die Stützhöhen h, die Eisenquerschnitte Fe und die mit Berücksichtigung der
Haftspannungen zu wählenden Durchmesser der Eisen δ
entnehmen.
Neuerdings hat auf ähnlicher Grundlage, allerdings ohne Berücksichtigung der Schub-
und Haftspannungen, Haimovici graphische Tabellen
herausgegeben. (Verlag von B. G. Teubner).
Die Untersuchung der Spannungen in exzentrisch gedrückten Querschnitten (Säulen und
Gewölbe) führt auf eine Gleichung dritten Grades zur Bestimmung der Lage der
Nullinie. Die Lösung derselben ist unbequem. Eine Erleichterung gewähren die
graphisch dargestellten Auflösungen dieser Gleichungen für gegebene Werte des
Biegungsmomentes, des Normaldruckes und des Eisenbetonquerschnittes, die in
Diagrammen vereinigt sind in Mörsch-Weyß und Freytag,
„Der Eisenbetonbau“, S. 115.
Für das Entwerfen empfiehlt sich wieder die Benutzung von direkten
Dimensionierungsformeln.
Ist P die Normalkraft und e0 ihr Abstand von der Achse des Stützen-
oder Gewölbequerschnittes, so ermittelt man zunächst unter Zugrundelegung einer
durchschnittlichen Spannung σ0 den Betonquerschnitt und legt hierdurch den Abstand der Kraft P vom Druckrande ± e fest.
(Fig. 2.)
Das Verhältnis der Breite der gedrückten Zone x zur
Nutzhöhe h ist durch die unrein quadratische
Gleichung:
\frac{x}{h}=1,5-\sqrt{2,25-6\,\left(1-\frac{e}{h}\right)\,\frac{\sigma_o}{\sigma_d}}. . 1
gegeben. σd ist die anzunehmende größte Kantenpressung.
Hierbei muß
\frac{\sigma_d}{\sigma_o}\,<\,\frac{2}{3}\,\left(\frac{h}{e}\right)
sein, weil sonst keine Eiseneinlagen erforderlich sind.
Der Eisenquerschnitt in der Zugzone ergibt sich aus der Gleichung
\mu=\frac{F_e}{b\,h}=\frac{\left(\frac{x}{h}\right)^2-3\,\left(\frac{x}{h}\right)\cdot \frac{e}{h}}{90\cdot \frac{1-\frac{x}{h}}{\frac{x}{h}}\cdot
\left(1-\frac{e}{h}\right)}. . . 2
Die Zugspannung in der Eiseneinlage ergibt sich dann aus der Gleichung
\sigma_e=n\cdot \frac{2-\frac{x}{h}}{\frac{x}{h}}\cdot \sigma_d. . . . . 3
hierbei ist n = 15 anzunehmen.
Ist e negativ (wenn P
außerhalb des Querschnitts wirkt), so ist das Vorzeichen der mit e behafteten Glieder in den Gleichungen 1 und 2
umzukehren.
Die Kenntnis einer weiteren Lösung dieser Aufgabe verdanke ich der persönlichen
Mitteilung des Herrn Professor Dr.-Ing. Hotopp,
Hannover.
Hotopp berechnet aus einer unrein quadratischen
Gleichung die Nutzhöhe h für gegebene Werte von P und e0 und gibt für angenommene Spannungen den
Eisenquerschnitt Fe als
Funktion von h an. Praktische Dimensionierungsformeln
liefert auch die Arbeit von Fröhlich:
„Das Widerstandsmoment des Eisenbetonquerschnittes und
seine Anwendung im Gewölbebau. Beton und Eisen 1906,
S. 43.“ Eine Berechnung der Säulen auf
Zerknicken ist im allgemeinen nicht erforderlich, da die amtlichen Bestimmungen eine
solche nur vorschreiben für den Fall, daß die Säulenhöhe größer als das
achtzehnfache der kleinsten Querschnittsabmessung ist.
Textabbildung Bd. 322, S. 115
Fig. 2.
Für diesen Fall läßt sich aus den Bestimmungen die praktische Formel für das
Trägheitsmoment in cm4 ableiten.
J = 70 Pl2,
hierbei ist P in x, l in m einzusetzen.
Bei der Berechnung des Trägheitsmoments ist das Eisen mit dem 15 fachen Querschnitt
einzuführen. –
(Fortsetzung folgt.)