Titel: | Ueber die Ursachen der schnellen Abnutzung großer Geschütze. |
Autor: | P. Siwy |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 198 |
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Ueber die Ursachen der schnellen Abnutzung großer
Geschütze.
Von Ing. P. Siwy,
Schöneberg-Berlin.
Ueber die Ursachen der schnellen Abnutzung großer
Geschütze.
Mit der großartigen Entwicklung der modernen Schußwaffe, des großkalibrigen
Geschützes, hat seine Widerstandsfähigkeit gegen Abnutzung keineswegs gleichen
Schritt gehalten. Mit jeder Steigerung der ballistischen Leistung fand eine Abnahme
der zulässigen Schüsse statt; ein 30,5 cm modernes Geschütz mit etwa 14000 m
Mündungsenergie kann kaum mehr als 100 kriegsbrauchbare Schüsse abgeben; wenn hie
und da höhere Angaben gemacht werden, so sind sie mit Vorsicht aufzunehmen und
gestatten nur dann eine Beurteilung der Güte des Materials, wenn über
Mündungsenergie und das Maß der Abnutzung einwandfreie Mitteilungen vorliegen. Bevor
auf die tatsächlichen Ursachen näher eingegangen wird, sollen einige Erscheinungen
angeführt werden, die mehr oder weniger bekannt sind, oder sich leicht beobachten
lassen.
1. Werden in einem allseitig geschlossenen Stahlgefäß, welches nur eine
verhältnismäßig enge Austrittsöffnung besitzt, mehrere Ladungen zur Entzündung
gebracht, so daß die Pulvergase durch die Oeffnung austreten, so findet eine
sichtbare Zunahme der Oeffnung statt; es ist dieselbe Stichflammenwirkung, die
undichte Stellen an Verschlüssen, Zündlochstollen usw. erweitert. Die Erweiterung
der Oeffnung findet jedoch nicht bei kleinen Ladungen statt, sondern erst dann, wenn
der Druck eine solche Höhe erreicht hat, daß die damit zusammenhängende Temperatur
der Pulvergase die Schmelztemperatur des Metalles überschritten hat. Wird an die
Oeffnung ein längeres Rohr mit kreisförmiger Bohrung angesetzt, so erweitert sich
auch diese; die Zunahme des Bohrungsdurchmessers ist in der Nähe des
Verbrennungsraumes am größten und wird gegen die Mündung immer kleiner, weil die
Temperatur der Pulvergase gegen die Mündung immer niedriger wird. Gleichzeitig
erlangt das Material der Bohrung eine große Härte, wenn es aus härtbarem Stahl
besteht.
2. Geschütze mit kleiner Leistung und großer Expansion, z.B. großkalibrige
Mörser, zeigen eine geringe Zunahme des Bohrungsdurchmessers und vertragen 2 bis
3000 Schüsse; es stellt sich jedoch eine bedeutende Gefügeänderung der innersten
Bohrungsschichte ein, wodurch die Konstruktion gefährdet ist; die Härtung tritt
schon nach den ersten Schüssen ein. Als zutreffendes Beispiel kann ein 24 cm Mörser
mit 2,5 kg Ladung gelten; dabei entfällt also auf 1 cm Umfang 0,033 kg Ladung, und
die Zeit, während welcher sich das Geschoß im Rohr befindet und die als Maß für die
Dauer der Einwirkung der Pulvergase auf das Seelenrohr gelten kann, beträgt etwa
0,006 Sek.
3. Mittlere Geschütze mit großer Leistung vertragen gegen 600 Schüsse, erleiden
sowohl eine Zunahme des Bohrungsdurchmessers, als auch eine Gefügeänderung; die
letztere ist insbesondere im rückwärtigen Teil bedeutend, wo wegen der großen
Gasspannungen die künstliche Beanspruchung der Ruhe (Druckspannungen in Folge
Schrumpfwirkungen) ziemlich hoch sein muß. Als Beispiel diene ein 15 cm Geschütz mit
13 kg Ladung, d. i. auf 1 cm Umfang 0,276 kg, dessen Geschoß zum Durcheilen der
Bohrung 0,01 Sek. benötigt.
4. Große Geschütze mit großer Mündungsenergie zeigen nach einer geringen Anzahl von
Schüssen eine bedeutende Zunahme des Bohrungsdurchmessers; nach 100 Schüssen ist aus
diesem Grunde die Mündungsgeschwindigkeit des Geschosses so gesunken, daß das
Geschütz kriegsunbrauchbar wird; die Gefügeänderung ist etwas geringer als im Fall
3; die Härtung stellt sich nach den ersten Schüssen ein. Hier sei angeführt ein 30,5
cm Rohr mit 130 kg Ladung, d. i. 1,36 kg auf 1 cm Umfang und 0,015 Sekunden Dauer
der Geschoßbewegung im Rohr.
Faßt man die Merkmale der vier Fälle zusammen, so ergibt sich folgendes Resultat; Die
Zunahme des Bohrungsdurchmessers (Abnutzung) ist dort am größten, wo die größte Menge
Pulvergase mit der größten Temperatur während der längsten Zeit auf die Einheit des
Bohrungsumfanges einwirken kann. Die Gefügeänderung ist dort am bedeutendsten, wo
die größte Anzahl von Schüssen mit der höchsten künstlichen Beanspruchung der Ruhe
zusammentrifft; da sich die letztere nach dem Druck der Pulvergase richtet, so ist
auch in diesem Falle die höchste Temperatur vorhanden. Die Härtung tritt immer bald
ein, sobald das Seelenrohr aus härtbarem Material besteht.
Die modernen Geschütze mit großer Leistung arbeiten mit Anfangsgasspannungen über
3000 at und Mündungsspannungen weit über 1000 at. Diese Pressungen erfordern eine
künstliche Rohrkonstruktion, welche im ruhenden Seelenrohr eine tangentiale
Druckbeanspruchung von annähernd 30 kg/qmm erzeugt. Diese Druckspannung bewahrt das Rohr
beim Schuß vor zu großer Zugbeanspruchung; die letztere steigt bis etwa 30 kg/qmm. Der
Beanspruchungswechsel zwischen – 30 bis + 30 kg/qmm, der einem Maschinenkonstrukteur
als äußerst hoch erscheint, würde allein die Gefügeänderung des Seelenrohrs nicht
bewirken; denn es gibt solche künstliche Konstruktionen für 7–10000 at
(Huberpressen), bei welchen die Beanspruchung vielleicht zwischen – 50 bis + 70 kg/qmm wechselt
und deren Seelenrohre viele Tausende von Beanspruchungen aushalten; allerdings wird
für diese Konstruktionen ein widerstandsfähigeres Material verwendet als für
Geschütze.
Den Vorgang, der sich während des Schusses im Rohr abspielt, kann man in drei
Perioden zerlegen: In der ersten Periode geht die vor dem Schuß vorhanden gewesene
tangentiale Druckbeanspruchung nach Entzündung der Ladung und stattgefundener
Spannungsentwicklung in der Bohrung in eine Zugbeanspruchung über. Dabei ist die
innerste Schichte der sehr hohen Temperatur der Pulvergase ausgesetzt, während diese
gleichzeitig mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Metern über die
Metalloberfläche streichen. Sie üben also dieselbe Wirkung aus, wie eine
Stichflamme; die schmelzende oberste Schichte wird weggefegt.
Hat das Geschoß das Rohr verlassen (zweite Periode) und ist der innere Druck
verschwunden, so stellt sich im Seelenrohr wieder die Druckbeanspruchung ein; wenn
man jedoch in Betracht zieht, daß die innerste Schichte gegenüber dem übrigen Teil
eine viel höhere Temperatur besitzt, da die Wärme noch nicht Zeit hatte, sich
gleichmäßig auszubreiten, so wird man begreifen, daß die Druckbeanspruchung in
diesem Augenblick viel größer sein muß, als in einem gleichmäßig erwärmten Rohre.
Eine Nachrechnung auf Grund der Annahme eines sehr wahrscheinlichen
Temperaturverlaufes ergibt eine weit über der Fließgrenze befindliche
Druckbeanspruchung. Man kann an Rohren mit großer künstlicher Beanspruchung nach den
ersten Schüssen eine interessante Erscheinung beobachten; man bemerkt auf der
Metalloberfläche ganz feine Aederchen, die sich bei Vergrößerung als Grate
darstellen; ein Beweis, daß das Material tatsächlich zum Fließen gekommen ist und
sich auf diese Weise Raum verschafft hatte. Die Ueberbeanspruchung tritt bei
jedem Schuß nicht vielleicht nur einmal auf, sondern da das Rohr in eine zur
Rohrachse konzentrische Schwingungsbewegung versetzt wird, entspricht einem einzigen
Schuß eine bedeutende Anzahl von Beanspruchungswechseln. In der zweiten Periode
findet also eine nachteilige Gefügeänderung der innersten Bohrungsschichte auf
einige Millimeter Tiefe statt.
Nun kommt eine dritte Periode, die sehr wesentlich an dem Zerstörungswerk
mitarbeitet. Die innerste heiße Schichte wird durch das umgebende, kalte Metall
plötzlich abgekühlt und erlangt dadurch eine große Härte, so daß sie nur für die
besten Werkzeuge angreifbar wird. Die Folge dieser Härtung ist eine Sprödigkeit des
Materials, wodurch dieses für darauffolgende Beanspruchungswechsel sehr wenig
widerstandsfähig wird; es treten haarförmige Risse auf, die dem weiteren Verderben
gute Angriffspunkte bieten.
Das Material der innersten Schichte eines mit vielen Schüssen belegten Rohres besitzt
keine Festigkeit, keinen metallischen Klang mehr; tiefe, ausgebrannte Risse, in
welchen ganz feine Eisenkristalle zu beobachten sind, verleihen ihm ein mattes
brüchiges Aussehen.
Wenn man nun an eine Bekämpfung dieser schwachen Seite der Geschütze denkt, so möchte
man die Frage vorerst als Materialfrage behandeln. Nun wurden bereits zahllose
Versuche mit den verschiedensten Stahlsorten gemacht, ohne daß man
zufriedenstellende Ergebnisse erreicht hätte. Es ist aus der vorhergehenden
Darstellung leicht zu ersehen, daß ein kohlenstoffarmer, verhältnismäßig weicher
Kohlenstoffstahl noch am bebten sein dürfte, weil er schwer schmelzbar, nicht
besonders härtbar ist, also auch nicht so spröde wie harter Stahl wird; auch ist er
leichter in guter, gleichmäßiger Beschaffenheit herstellbar. Er wird deswegen heute
fast allgemein für Seelenrohre verwendet. Der für die Bemäntelung sehr gern
verwendete Nickelstahl wird für Seelenrohre nicht gern genommen, weil er neben
anderen nachteiligen Eigenschaften sehr zu örtlichen Ausbrennungen neigt, welche das
Rohr oft nach wenigen Schüssen unbrauchbar machen können.
Da nun Materialwahl nicht zur befriedigenden Lösung führte, so suchte man nach einem
konstruktiven Ausweg, leider ohne Erfolg. Man brachte Geschosse mit allmählich
zunehmenden Durchmessern der Geschoßbänder zur Verwendung, um die
Geschwindigkeitsabnahme aufzuheben. Das war nicht praktisch, weil eine Verwechslung
der Geschosse nicht ausgeschlossen war. Versuche, statt des Seelenrohrs ein dünnes
Futterrohr ohne künstliche Pressung, welches leicht ausgewechselt werden konnte, zu
verwenden, schlugen fehl, weil ein solches Futterrohr gar keine Widerstandsfähigkeit
besaß.
Man kann ein verbrauchtes Geschütz wieder vollkommen herstellen, wenn man es zerlegt,
und ein neues Seelenrohr einzieht. Das ist aber heute noch kostspielig und
langwierig; hier müßte die Konstruktion einsetzen und ein einfaches, verhältnismäßig
billiges Verfahren ausbilden, welches die regelrechte Auswechslung eines
Seelenrohres in kurzer Zeit ermöglichen würde.