Titel: | Die Trägheitskräfte einer Schubstange. |
Autor: | Max Ensslin |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 593 |
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Die Trägheitskräfte einer
Schubstange.
Von Dr.-Ing. Max
Ensslin-Stuttgart.
Die Trägheitskräfte einer Schubstange.
Die Schubstange eines Kurbelgetriebes führt gleichzeitig eine hin- und
hergehende, und eine schwingende Bewegung aus. Beide Bewegungen sind ungleichförmig,
bald beschleunigt, bald verzögert, also mit dem Auftreten von Trägheitskräften
verbunden. Die Trägheitskräfte bewirken einerseits Beanspruchung der Maschinenteile
und beeinflussen anderseits die Gleichmäßigkeit und Ruhe des Ganges; sie kommen
somit z.B. bei dem Massenausgleich und bei der Bemessung von Gegengewichten in
Betracht.
Die von einer Schubstange ausgehenden Trägheitskräfte, d.h. die auf Kreuzkopf- und
Kurbelzapfen ausgeübten Drücke sind in strenger Weise von Mohr, Lorenz und Wittenbauer untersucht
wordenLorenz, Techn. Mech. § 41. Wittenbauer, Zeitschr. d. V. D. Ing. 1906.Mohr, Zeitschr. d. V. D. Ing. 1899.Land, Zeitschr. d. V, D. Ing. 1896.,
ebenfalls in strenger Weise bestimmt Mollier die Kraft,
welche am Kreuzkopf in der Schubrichtung wirken muß, um die Schubstange zu
bewegenMollier, Zeitschr. d. V. D. Ing. 1903, S.
1638.. Die Schubstange kann aufgefaßt werden als gerader,
beliebig mit Masse belegter Stab, von dem zwei Punkte in bestimmter Weise geführt
sind, z.B. am häufigsten ein Punkt auf einem Kreis, der andere auf einer
Geraden.
Die Ingenieure scheinen ausgehend von der Tatsache, daß das Stangenende an der Kurbel
sich kreisförmig, dasjenige am Kreuzkopf sich geradlinig bewegt, die Frage nach den
Trägheitskräften sich in der Form vorgelegt zu haben: Welcher Teil der
Schubstangenmasse ist als rotierend, und welcher als hin- und hergehend anzusehen.
Dieser Auffassung zufolge erblickt man in der Schubstange nicht einen materiellen
Körper, sondern zwei durch eine starre Gerade verbundene materielle Punkte, deren
Trägheitskräfte leicht bestimmbar sind. Die Frage, welcher Teil der
Schubstangenmasse als rotierend und welcher als mit dem Kreuzkopf hin- und hergehend
angesehen werden darf, ist in Ingenieur - Taschenbüchern und Lehrbüchern
verschiedenartig und fast immer unzutreffend beantwortet. Daß der Ersatz der
Schubstange durch zwei starr verbundene materielle Punkte nur näherungsweise richtig
ist, wird dabei nicht hervorgehoben. Die Eisenbahningenieure rechnen mit der
Annahme, daß 6/10
der Schubstangenmasse als rotierend, 4/10 als hin- und hergehend aufzufassen sei; dies
trifft häufig befriedigend zu, doch nicht allgemein.
Aus den exakten Untersuchungen geht hervor, daß die Schubstange mit mehr oder minder
großer Annäherung dieselben Trägkeitskräfte äußert, als wäre ihre Masse nach
dem Schwerpunktsgesetz auf Mitte Kurbelzapfen und Kreuzkopfzapfen verteilt, und
dort punktförmig konzentriert. Dies ist ein recht einfaches und einleuchtendes
Ergebnis, das trotzdem wenig Eingang in die Bücher gefunden hat, die bei der
Anwendung gewöhnlich von den Ingenieuren zu Rate gezogen werden. Zum Teil mag die
Ursache hiervon darin liegen, daß der Beweis für das angegebene Verhalten der
Schubstangenmasse bei Wittenbauer, Lorenz und Mollier nicht besonders leicht, zum mindesten nicht
sehr rasch verständlich ist. Ich will nun versuchen, die genaue Ermittlung der
Trägheitskräfte einer Schubstange auf einfache und leicht verständliche Weise
vorzuführen, und will dann an einigen ausgeführten Schubstangen zeigen, welche
Trägheitskräfte von einer Stange tatsächlich ausgeübt werden, und wie groß sie sich
ergeben, wenn die Stange ersetzt gedacht wird durch zwei Massenpunkte an den
Stangenenden, die dadurch erhalten werden, daß man die Stangenmasse nach dem
Schwerpunktsgesetz auf die Stangenenden verteilt.
Ich setze als bekannt voraus, wie die Beschleunigung des Kreuzkopfes gefunden wird,
wobei die Wahl offen steht zwischen einem rechnerischen und einer größeren Anzahl
zeichnerischer Verfahren, von denen die Methoden von Mohr,
Rittershaus, Autenrieth, Mehmke und Bour-Pröll
erwähnt seienz.B. Hütte, Des Ingenieurs Taschenbuch..
Ich setze fernerhin als bekannt voraus, daß man Beschleunigungen ebenso wie Kräfte
nach dem Parallelogramm zerlegen und zusammensetzen darf. Schließlich muß ich einen
weniger geläufigen, aber sofort einleuchtenden Satz aus der Kinematik ohne Beweis
anführen, er lautet: Die Endpunkte der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsstrecken
aller Punkte einer beliebig bewegten starren geraden Stange liegen auf einer Geraden
und teilen diese Gerade in demselben Verhältnis, in welchem die Anfangspunkte die
Stange teilen. Kennt man die Beschleunigung in den beiden Endpunkten der Stange, so
kann man mit Hilfe des angegebenen Satzes die Beschleunigung eines beliebigen
Stangenpunktes leicht konstruieren; man erhält z.B. die Beschleunigung in der
Stangenmitte (Fig. 1), indem man die
Verbindungsstrecke der Endpunkte der Beschleunigungen halbiert und den
Halbierungspunkt mit der Stangenmitte verbindet. Die so erhaltene Strecke stellt
nach Größe und Richtung die Beschleunigung in der Stangenmitte dar.
Ueber die von der Schubstange geäußerten Trägheitskräfte erlangt man sehr leicht
Klarheit, wenn man die Beschleunigung der einzelnen Stangenpunkte in passender Weise
zerlegt bezw. ersetzt (s. Fig. 1). Zum Beispiel
ersetze man die Beschleunigung p1 in A durch die
Beschleunigung p2 in
B und die durch das Parallelogrammgesetz bestimmte
Komponente p3. Ebenso verfahre man
in den übrigen Stangenpunkten. Die eine Ersatzkomponente sei stets p2. Aus Fig. 2 folgt mit Rücksicht auf die leicht
ersichtliche Proportionalität, daß die zweite Ersatzkomponente p'3 in allen
Stangenpunkten zu p3
parallel und dem Abstand von B proportional ist. Jetzt
kann man sich den Beschleunigungszustand auch so vorstellen, daß die Stange unter
dem gleichzeitigen Einfluß der Beschleunigungen p2 und p3 bezw. der zu diesen parallelen Beschleunigungen
p2 und p'3 stehe. Die Wirkung
dieser Beschleunigungen ist die gleiche, mögen diese gleichzeitig oder nacheinander
wirken. Wir nehmen das Letztere an und haben dann die Stange zu betrachten:
1. unter dem Einfluß der in allen Punkten gleich großen und
gleich gerichteten Beschleunigungen p2 (Fig.
3),
2. unter dem Einfluß der in Fig.
4 gezeichneten Beschleunigungen p'3, die einander parallel und dem Abstand
von B proportional sind.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 1.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 2.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 3.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 4.
Die in Fig. 4 gezeichneten Beschleunigungen p'3 zerlegen wir
nochmals senkrecht zur Stange und nach derselben. Die dabei in A sich ergebenden Komponenten seien p4 und p5, diejenigen in einem
beliebigen Punkt p'4
und p'5. Wir nennen
nach Mohr die Komponenten p'4 die Drehbeschleunigungen und die
Komponenten p'5 die
Dehnungsbeschleunigungen. Man erkennt sofort aus Fig.
4, daß sowohl die senkrecht auf der Stange stehenden Drehbeschleunigungen,
als auch die in der Stangenrichtung wirkenden Dehnungsbeschleunigungen dem Abstand
von B proportional sind. Wir denken uns jetzt wieder,
wie vorhin, die Beschleunigungen p'4 und p'5 wirken nacheinander und gelangen schließlich zu
dem Ergebnis, daß wir an die Stelle der tatsächlichen Beschleunigung in irgend einem
Stangenpunkt die drei bezeichneten Ersatzkomponenten treten lassen. Sie rufen alle
zusammen die gleichen Trägheitskräfte hervor, wie die ursprüngliche Beschleunigung,
gleichgültig, ob die Ersatzkomponenten gleichzeitig wirken, oder ob man sie
nacheinander wirken läßt und die Einzelwirkungen übereinanderlagert.
Demzufolge können wir die Stange betrachten:
1. unter dem alleinigen Einfluß der Beschleunigungen p2, die in allen
Punkten der Stange gleich groß und parallel sind (s. Fig. 5);
2. unter dem alleinigen Einfluß der Drehbeschleunigungen
p'_4=\frac{x}{l}\cdot p_4 die senkrecht zur Stange stehen und dem Abstand x von B proportional
sind (s. Fig. 6);
3. unter dem alleinigen Einfluß der Dehnungsbeschleunigungen
p'_5=\frac{x}{l}\cdot p_5, die in der Stangenrichtung liegen und dem Abstand x von B proportional
sind (s. Fig. 7).
Der Nutzen dieser Trennung der Gesamtwirkung in drei äquivalente Einzelwirkungen
besteht darin, daß man in den drei Einzelfällen die Trägheitskräfte leicht ermitteln
kann, während dies vor der Trennung in einfacher Weise nicht möglich ist.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 5.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 6.
Textabbildung Bd. 322, S. 594
Fig. 7.
Kennt man die Einzelwirkungen, so findet man rückwärts die Gesamtwirkung, durch
Uebereinanderlagerung der Einzelwirkungen, selbstverständlich unter Beachtung ihrer
Größe und Richtung. Diese Uebereinanderlagerung wird, wie sich nacher zeigt, sehr
einfach sein.
1. Die Schabstange unter der
alleinigen Wirkung der Beschleunigungen p2.
(Fig. 5.)
Diese Beschleunigungen wirken ebenso wie die Erdbeschleunigung. Die Resultierende der
hierbei entstehenden Trägheitskräfte geht durch den StangenschwerpunktIm Folgenden bedeutet (vgl. später die Figur
über der Zusammenstallung 1): AB = l die
Stangenlänge, a bezw. b den Abstand des Stangenschwerpunktes S von B bezw. A, also BS = a und AS = b.. Auf die Stützpunkte A und B drückt die Stange
so, wie wenn ihre Masse im Schwerpunkt vereinigt wäre. Dasselbe Ergebnis für die
Lagerdrücke in A und B
erhält man unter der Annahme, daß die Gesamtmasse M
nach dem Schwerpunktsgesetz auf die Endpunkte A und B der Stange verteilt sei, wobei nach A die Masse M. a/l, nach
B die Masse M. b/l
kommt.
2. Die Schubstange unter dem
alleinigen Einfluß der Dehnungsbeschleunigungen. (Fig. 7).
p'_5=\frac{x}{l}\cdot p_5
Ein Punkt auf AB im Abstand x von B mit der Masse m äußert die Trägkeitskraft
m\cdot p'_5=m\cdot \frac{x}{l}\cdot p_5.
Die ganze in der Stangenrichtung gegen A hin wirkende
Trägheitskraft ist dann
\Sigma\,m\cdot \frac{x}{l}\cdot p_5=\frac{p_6}{l}\,\Sigma\,m\cdot x=M\cdot \frac{a}{l}\cdot p_5.
Dasselbe Ergebnis erhält man unter der Annahme, daß die Stangenmasse nach dem
Schwerpunktsgesetz auf die Stangenenden A und B verteilt sei. Die Trägheitskraft ergibt sich dann
in A zu
M\cdot \frac{a}{l}\cdot p_5
in B zu
M\cdot \frac{b}{l}\cdot 0=0.
(Fortsetzung folgt.)