Titel: | Die Trägheitskräfte einer Schubstange. |
Autor: | Max Ensslin |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 625 |
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Die Trägheitskräfte einer
Schubstange.
Von Dr.-Ing. Max
Ensslin-Stuttgart.
(Schluß von S. 612 d. Bd.)
Die Trägheitskräfte einer Schubstange.
Erstes Beispiel.
Reine Drehung einer Stange.
Wir betrachten ein gewöhnliches Kurbelgetriebe, dessen Kurbel gleichförmig umlaufen
möge, in der Stellung, in welcher die Kreuzkopfbeschleunigung gleich Null ist. In
diesem Getriebe sei bloß die Schubstange mit Masse begabt; Kurbel und geradlinig
hin- und hergehende Teile seien masselos. (Das Schwungrad besitze ein so großes
Trägheitsmoment, daß die Umlaufzahl nicht merklich schwankt, wenn die lebendige
Kraft der Stange in das Schwungrad hinein und heraus fließt.)
Textabbildung Bd. 322, S. 625
Fig. 22.
R1 und R2 = Trägheitskraft, r
Richtung der Beschleunigung.
Man weiß, daß die Kreuzkopfbeschleunigung bei einem
Stangenverhältnis r : l
< 1 : 5 mit großer Annäherung gleich Null ist, wenn die Schubstange mit der
Kurbel einen rechten Winkel bildet. In dieser Stellung (Fig. 22) verhält sich die Stange wie ein um B sich drehender (schwingender) Körper. Die Beschleunigungen stehen
senkrecht zur Stange und sind gegen die Mittellage O B
der Stange hin gerichtet; sie sind dem Abstand von B
proportional. Die Trägheitskräfte sind der Beschleunigung entgegen, also nach außen
gerichtet. In der Kurbel wird ein Zug R1 hervorgerufen, den wir oben gefunden haben zu:
R_1=\frac{\Theta_B\cdot p_4}{l^2}.
Aus sofort ersichtlichem Grunde werde dafür ein anderer Ausdruck geschrieben, unter
Benutzung des „Schwingungsmittelpunktes“, worunter man bekanntlich denjenigen
Punkt der Stange versteht, in dem man bei der Schwingung bezw. ungleichförmigen
Drehung sich die Masse vereinigt denken kann, ohne daß die Schwingungszahl geändert
wird. Der Abstand l' des SchwingungsmittelpunktesZahlenwerte vergl. Tab. 1. vom
Drehpunkt heißt die „reduzierte Pendellänge“ und
wird durch die Gleichung bestimmt:
l'=\frac{\Theta_B}{M\cdot a}.
Damit schreibt sich die letzte Gleichung:
R_1=M\cdot \frac{a}{l}\cdot \frac{l'}{l}\cdot p_4.
Unter der Annahme, die Schubstangenmasse sei nach dem
Schwerpunktgesetz auf die Stangenenden verteilt, erhielte man eine größere Zahl für
R1, nämlich:
R'_1=M\cdot \frac{a}{l}\cdot p_4.
Dabei würde ein Fehler begangen, der in Hundertteilen des
richtigen Wertes ausgedrückt, beträgt:
\frac{R'_1-R_1}{R_1}=\frac{l}{l'}-1 (mal 100 v.H.)
oder m. a. Worten: Um den richtigen Wert R1 zu erhalten, muß man den Näherungswert R'1 durch \frac{l}{l'}
dividieren.
Für die in Tab. 1 (s. S. 612) aufgeführten Stangen ergeben sich die in Tab. 2 und
Tab. 3 aufgeführten Werte:
Tabelle 2.
No.:
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
\frac{a}{l}=
0,615
0,769
0,763
0,619
0,584
0,722
0,596
0,608
0,745
0,617
0,641
0,772
0,725
0,594
\frac{l'}{l}=
1,24
1,082
1,117
1,202
1,239
1,136
1,231
1,202
1,13
1,172
1,136
1,06
1,09
(1,21)
Wenn man hiernach zum Zweck der Vereinfachung annimmt, die rotierende Masse der
Schubstange sei dem Schwerpunktsgesetz zufolge durch M.
a/l ausgedrückt und in A konzentriert, so begeht man nach Tab. 2 in der betrachteten Stellung
einen Fehler von rund 8–24 v. H., wenigstens bei den hier untersuchten Stangen.
Dies ist auch der Fehler, der in der betrachteten Kurbelstellung gemacht würde, wenn
man das Drehmoment, von dem oben die Rede war, vernachlässigt.
Bei Stangen, deren Schwerpunkt dem Kurbelzapfen nahe liegt, ist der Fehler
verhältnismäßig gering. Bei
Tabelle 3.
No.
Hub2rmm
Trieb-rad-Durch-messermm
Größte Fahr-geschwin-digkeit
Kurbelumdre-hung in 1 Min.
Umfangsge-schwindigkeiti. Kurbelkr. v
Zentri-petalbe-schleunig.\frac{v^2}{r}m/Sek
R_1=\Theta_B\,\frac{p_4}{l_2}in Fig. 22
Stangen-gewicht G
km/Std
m/Sek
kg
1
560
1800
100
295
8,64
266
1266
94
2
560
1650
90
290
8,49
258
2900
155,5
3
560
1650
81
260
7,64
208
2880
199,5
4
560
1650
81
260
7,64
208
935
86,0
5
561
1380
66
254
7,46
198
485
50,95
6
612
1380
60
231
7,4
179
2330
201,2
7
612
1350
60
231
7,4
179
995
113,0
8
612
1230
45
194
6,22
126
606
93,5
9
612
1230
45
194
6,22
126
1780
210,5
10
612
1230
45
194
6,22
126
650
96,5
11
540
1045
45
228
6,46
154
550
62,1
12
270
–
–
210
2,96
72,8
22,2
46,0
13
150
–
–
1100
8,62
991
172,5
2,572
14
1400
–
–
90
6,6
62,2
(15100)
4850
einer Stange von konstantem Querschnitt ist die reduzierte
Pendellänge
l'=\frac{2}{3}\,l
und daher der Fehler 50 v. H. Daß der Fehler lediglich von der
Massenverteilung abhängt und nicht von der Größe der Winkelbeschleunigung, sei
erwähnt, ist jedoch selbstverständlich.
Die tatsächlichen Lagerdrücke in der betrachteten Stellung findet man, wie folgt:
Punkte befindet sich im Gleichgewicht unter der Einwirkung von R2 der in der
Stangenrichtung gegen A hin wirkenden Kraft S und der vom Kreuzkopf auf A ausgeübten Kraft N, die bekanntlich
senkrecht zur Bahnrichtung steht. Der Bahndruck ist gleich und entgegengesetzt zu
N.
In entsprechender Weise findet man den Druck auf den Kurbelzapfen: Punkt B befindet sich im Gleichgewicht unter der Einwirkung
von R2, ferner der in
der Stangenrichtung gegen B hin wirkenden Kraft S (aus dem schon gezeichneten Kräftezug zu entnehmen)
und der vom Kurbelzapfen auf B ausgeübten Kraft K die als Schlußlinie des Kräftedreiecks gefunden
wird.
Zweites Beispiel.
Die von einer Schubstange auf den Kurbel- und Kreuzkopfzapfen ausgeübten
Trägheitskräfte sollen während einer Kurbelumdrehung verfolgt werden.
Die Berechnung wird durchgeführt:
a)für eine Stange, deren Schwerpunkt dem Kurbelzapfen
verhältnismäßig nahe liegt (Fig. 11).
Hub der Maschine: 560 mm, Kurbelgeschwindigkeit 8,5 m/Sek. Stangenlänge, Gewicht
u.s.f. siehe Tab. 1 – 3 unter No. 2;
b)für eine Stange, deren Schwerpunkt nahe der Stangenmitte
liegt (Fig. 14). Hub der Maschine: 561
mm, Kurbelgeschwindigkeit 7,46 m/Sek. Sonstige Angaben in Tab. 1–3 unter No.
5.
In den Fig.
23 u. 26 sind die von der Stange auf den Kurbelzapfen ausgeübten
Trägheitskräfte für die unter a und b bezeichneten Verhältnisse nach Größe, Richtung
und Lage dargestellt. Die Radial- und Tangentialkomponenten dieser Kräfte sind in
den Fig.
24 u. 27 als senkrechte Ordinaten, die zugehörigen Kurbelwinkel als wagerechte
Abszissen eingetragen. Aus Fig. 25 u. 28 sind die
Bahndrücke für jede Kreuzkopfstellung ersichtlich.
Wird die Stangenmasse nach dem Schwerpunktsgesetz auf die Stangenenden verteilt, so
äußern diese Punktmassen Trägheitskräfte, die durch die gestrichelten
Linienzüge in den Fig. 24, 25, 27 u. 28
dargestellt sind.
Textabbildung Bd. 322, S. 626
Fig. 23.Massendrücke der Schubstange auf den Kurbelzapfen nach Größe und
Richtung; Fig. 24. Tangential- und Radial-Komponenten des Massendruckes der
Schubstange auf den Kurbelzapfen.
Aus den Fig.
24 u. 27 erkennt man den Unterschied! zwischen den tatsächlichen Massendrücken
der Schubstange auf den Kurbelzapfen und den näherungsweise unter der Annahme
ermittelten, daß die Stangenmasse nach dem Schwerpunktsgesetz auf die beiden
Stangenenden verteilt sei. Diese Annahme liefert für die Radialkomponente des
Massendrucks auf den Kurbelzafen in allen Kurbelstellungen zu große Werte,
ausgenommen in den Totlagen, wo der Unterschied Null ist. Der Fehler ist in der
Kurbelstellung am größten, in der Kurbel und Stange etwa einen rechten Winkel
miteinander bilden. Seine Größe ist in Tab. 2 ziffermäßig angegeben. Schon zu dieser
Tabelle ist bemerkt, daß der Fehler bei Stangen größer wird, deren Schwerpunkt mehr
gegen die Stangenmitte hin gelegen ist. Dies zeigt auch der Vergleich der Fig. 24 und
27,
die zur Stange No. 2 (Fig. 11) und zur Stange 5
(Fig. 14) gehören, deren Schwerpunktsabstand
76,9 v. H. bezw. 58,4 v. H. der Stangenlänge von der Kreuzkopfmitte entfernt
ist.
Textabbildung Bd. 322, S. 626
Fig. 25 u. 28.Massendrücke der Schubstange auf die Bahn des Kreuzkopfes.
(Kräftemaßstab s. Fig. 24 und 27.)
Bei den Tangentialkomponenten und Bahndrücken ist der Fehler verhältnismäßig größer, jedoch von geringer Bedeutung, weil, wenigstens
bei gleichförmiger Kurbelgeschwindigkeit, die Radialkomponenten viel größer sind als
die Tangentialkomponenten und Bahndrücke. Es ist ferner in diesem Zusammenhang zu
bedenken, daß die Trägheitskräfte der Schubstange nicht die einzigen im
Kurbelgetriebe sind, daß vielmehr die hin- und hergehenden Massen des Kreuzkopfes,
des Kolbens und der Kolbenstange und die rotierende Masse der Kurbel ebenfalls
Trägheitskräfte äußern, wodurch ein Fehler in der Bestimmung der Massendrücke der
Schubstange im Gesamtergebnis weniger bemerkbar wird.
Auch die von Mollier gestellte Frage, welche Kraft am
Kreuzkopf in der Schubrichtung wirken müsse, um die Schubstange zu bewegen, kann
angenähert so beantwortet werden, daß man die Stangenmasse nach dem
Schwerpunktsgesetz auf die beiden Stangenenden verteilt und dann die Kraft
berechnet, die zur Beschleunigung des auf den Kreuzkopf entfallenden Massenanteils
erforderlich istBei der
Fragestellung Molliers ist angenommen, daß die
Beschleunigung der Schubstange lediglich von einer am Kreuzkopf tätigen
Kraft bewirkt werde; ein Austausch lebendiger Kraft zwischen Schwungrad und
Stange ist hiernach ausdrücklich ausgeschlossen und damit auch das Auftreten
einer Tangentialkraft an der Kurbel.. Hierbei ergibt sich der
Näherungswert zu klein; der Fehler kann mit Hilfe der Angaben Molliers leicht allgemein und zahlenmäßig ausgedrückt
werden.
Textabbildung Bd. 322, S. 627
Fig. 26. Massendrücke der Schubstange auf den Kurbelzapfen nach Größe und
Richtung; Fig. 27. Tangential- und Radial-Komponenten des Massendruckes der
Schubstange auf den Kurbelzapfen.
Zusammenfassung und Schlüsse.
Für eine angenäherte Ermittlung der Trägheitskräfte einer Schubstange genügt es, die
Stangenmasse nach dem Schwerpunktsgesetz auf die beiden Stangenenden zu verteilen,
die Stange also durch zwei in den Stangenenden konzentrierte Massenpunkte zu
ersetzen. Die Stangenmasse ist dadurch in einen lediglich rotierenden und in einen
lediglich hin- und hergehenden Anteil zerlegt. Dabei wird die Radialkomponente des
Massendrucks der Schubstange auf den Kurbelzapfen in allen Kurbelstellungen außer
den Totlagen überschätzt, die Tangentialkomponente und der Bahndruck unterschätzt
bei allen Kurbelwinkeln außer 0, 180 und etwas weniger als 90 Grad. Der größte
Fehler bei Bestimmung der Radialkomponente ist für eine Anzahl ausgeführter Stangen
oben ausgerechnet.
Das Verfahren zur genauen Berechnung der Massendrücke der Schubstange, das schon von
Mohr, Lorenz und Wittenbauer angegeben wurde, ist elementar bewiesen. Die zur Durchführung
der Rechnung nötigen Werte des Gewichts, der Schwerpunktslage und des
Trägheitsmomentes sind an 14 ausgeführten Stangen mit verschiedener Massenverteilung
experimentell ermitteltVergl. auch Mollier, Z. d. V. D. I. 1903, S.
1638.; mit Hilfe dieser Angaben kann das Trägheitsmoment von Stangen,
die nur in Zeichnung vorliegen, geschätzt werden.
Mit einem Gegengewicht an der Kurbel kann man nur die
Radialkomponenten der Trägheitskräfte an der Kurbel teilweise ausgleichen;
vollständig gelingt dies nie, da diese Radialkomponenten von wechselnder Größe sind
infolge des Vorhandenseins hin- und hergehender Massen; die Stange wirkt eben nicht
nur wie eine rotierende Masse. Der Größtwert der Radialkomponente an der Kurbel in
den beiden Totlagen ist
M\,\frac{v^2}{r}\,\left(1\,\pm\,\frac{r}{l}\cdot \frac{b}{l}\right)
Ist außer der Stangenmasse M noch eine lediglich
hin- und hergehende Masse M1 vorhanden, so
kommt zu dieser Kraft der Betrag hinzu:
M_1\cdot \frac{v^2}{r}\,\left(1\,\pm\,\frac{r}{l}\right)
(M = Schubstangenmasse, v2/r Zentripetalbeschleunigung, b Abstand des Stangenschwerpunktes von Mitte Kurbelzapfen). Der
Kleinstwert der Radialkomponente in der Stellung, in der Kurbel und Stange etwa
einen rechten Winkel einschließen, ist:
M\,\frac{v^2}{r}\,\frac{a}{l}\,\frac{l'}{l},
(a Abstand des
Stangenschwerpunktes von Mitte Kreuzkopf; l'
„reduzierte Pendellänge“ der Stange, von Kreuzkopfmitte aus gemessen).
Bezüglich des Wertes l'/l
siehe Tab. 2.
Nur der zuletzt angegebene Kleinstwert der Radialkraft ist durch ein Gegengewicht an
der Kurbel vollständig ausgleichbar. Ist die Zentrifugalkraft des Gegengewichts
gerade diesem Kleinstwert gleich, so tritt ein vollständiger Ausgleich der radialen
Massenkräfte dann ein, wenn Kurbel und Stange einen rechten Winkel bilden; in allen
anderen Kurbelstellungen ist ein Ueberschuß an Radialkraft in Richtung
Wellenmitte-Kurbelzapfen wirksam. Wird nun die Zentrifugalkraft des Gegengewichts
größer als
M\,\frac{v^2}{r}\cdot \frac{a}{l}\cdot \frac{l'}{l}
gemacht, so wirkt in den Totlagen ein Ueberschuß an radialer
Massenkraft im Sinne: Wellenmitte-Kurbelzapfen, in der Mitte zwischen den beiden
Totlagen dagegen ein solcher in entgegengesetztem Sinne. Man könnte daran denken,
die beiden Ueberschüsse gleich groß zu machen.
Häufig wird man sich begnügen müssen, die „Zentrifugalkraft des
Schubstangenkopfes“ auszugleichen, so z.B. bei der schweren und rasch
bewegten Stange No. 14. Weiter zu gehen verbietet in diesem Fall die Unmöglichkeit,
ein größeres Gegengewicht unterzubringen; an einen Ausgleich der von den hin- und
hergehenden Massen herrührenden Radialkräfte an der Kurbel ist in solchen Fällen
nicht zu denken. Die tangentialen Massendrücke an der Kurbel lassen sich durch ein
Gegengewicht überhaupt nicht ausgleichen.