Titel: | Temperaturspannungen in einer kreisförmigen Platte. |
Autor: | Max Ensslin |
Fundstelle: | Band 322, Jahrgang 1907, S. 722 |
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Temperaturspannungen in einer kreisförmigen
Platte.
Von Dr.-Ing. Max Ensslin,
Stuttgart.
(Schluß von S. 709 d. Bd.)
Temperaturspannungen in einer kreisförmigen Platte.
Volle oder zentrisch durchbrochene Kreisscheibe mit frei
beweglichen Rändern.
Die Hauptfrage: welches ist die Verzerrung einer
kreisförmigen Platte unter dem alleinigen Einfluß einer Temperaturänderung in
Richtung der Plattendicke (zufolge Gleichung 7a), wenn die Wärmeausdehnung
durch keine äußeren Kräfte an der Platte gehindert ist; und ferner: treten hierbei
Spannungen in der gebogenen Platte auf, beantworten wir, wenn wir von dem
Vorhandensein äußerer Kräfte absehen; dann ist in Gleichung 19 S = 0, also
\frac{d^3\,w_0}{d\,x^3}+\frac{1}{x}\,\frac{d^2\,w_0}{d\,x^2}-\frac{1}{x}\,\frac{d\,w_0}{d\,x}=0
Die Integration liefert als Gleichung der elastischen Mittelfläche, wie sie sich
infolge der Erwärmung bezw. Abkühlung der Ober- bezw. Unterfläche (Gleichung 7a)
einstellt:
w_0=\frac{K_1}{4}\cdot x^2+\frac{K_2}{l}\,ln\,x^2+K_3 . . . 20)
Diese Gleichung ist in D. p. J. 1904, Heft 43 erwähnt, da wo von der Biegung der
Kreisscheibe durch reine Biegungsmomente, die über den äußeren und inneren
Plattenrand gleichmäßig verteilt sind, die Rede ist. Daraus folgt, daß sich die
Scheibe unter dem Einfluß der von uns angenommenen Temperaturunterschiede ebenso
biegt („wirft“), wie unter dem Einfluß reiner Biegungsmomente, die über den
Plattenumfang gleichmäßig verteilt sind. Fernerhin ist sofort klar, daß beide
Einflüsse unter bestimmten Umständen sich aufheben können, so daß die Platte eben
bleibt.
Für die Spannungen in der Platte erhalten wir aus Gleichung 18 mit Benutzung von
Gleichung 20
\left\{{{\sigma_x=-\frac{m}{m-1}\,\frac{\lambda}{\alpha}\,\left[\frac{K_1}{2}-\frac{m-1}{m+1}\,\frac{K_2}{x^2}+2\,\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\right]}\atop{\sigma_y=-\frac{m}{m-1}\,\frac{\lambda}{\alpha}\,\left[\frac{K_1}{2}+\frac{m-1}{m+1}\,\frac{K_2}{x^2}+2\,\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\right]}}\right\}\
18a)
An einer zentrisch durchbrochenen Platte, die durch
keine äußeren Kräfte beansprucht ist, sind die Radialspannungen σx in allen Punkten des
äußeren und inneren Randes, d.h. in x = Ra und x = Ri (λ beliebig) gleich Null. Diesen Randbedingungen zufolge
erhält man für die Integrationskonstanten K2 und K1:
K2 =
0
\frac{K_1}{2}=-2\,\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}.
Zur Bestimmung der dritten Konstanten K3 vereinbaren wir, daß w0
= 0 sei für x = Ra, womit nach
Gleichung 20:
K_3=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,{R_a}^2.
Damit erhält man für die Spannung aus Gleichung 18a
σx =
σy = 0
und für die Durchbiegung der Mittelfläche im Abstand x von der Plattenmitte:
w_0=\alpha_w\cdot \frac{\Delta\,T}{h}\,({R_a}^2-x^2) . . . 20a)
und für die größte Durchbiegung am inneren Umfang x = Ri:
w_{0\,\mbox{max}}=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,({R^2}_a-{R^2}_1) . . . 20b)
Für die Neigung der Mittelfläche im Abstand x von der
Mitte erhält man aus Gleichung 20a
\frac{d\,w_0}{d\,x}=-2\,\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\cdot x,
eine Gleichung, die auf S. 708 auf anderem Wege gefunden
wurde.
Die oben gestellte Frage nach den Temperaturspannungen
in einer Kreisscheibe, die oberhalb der Mittelfläche erwärmt und unterhalb
derselben abgekühlt wird, so zwar, dass die Temperaturänderung dem Abstand
von der Mittelfläche proportional ist, kann dahin beantwortet werden, dass
keine Spannungen auftreten, wenn die Platte durch keine äusseren Kräfte an
der Biegung gehindert wird.
Daß bei anderer Temperaturverteilung Spannungen auftreten müssen, geht schon aus der
auf S. 708 gewonnenen Anschauung über die Wärmeausdehnung, klar hervor. Es dürfte
nicht allzu schwierig sein, auch für eine andere Temperaturverteilung Gleichungen
aufzustellen, die einen Anhalt über die Größe der Spannungen gewähren.
Für die volle Scheibe erhält man dieselbe Gleichung der
elastischen Mittelfläche:
w_0=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,\left[{R^2}_a-x^2\right] . . . 20c)
wovon man sich leicht überzeugen kann. In der Mitte ist
w_{0\mbox{ max}}=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\cdot {R^2}_a . . . 20d)
Volle oder zentrisch durchbrochene Kreisscheibe mit
vollkommen eingespannten Rändern.
Die gleiche Formänderung wie infolge ungleicher Temperatur der Plattenober- und
Unterfläche und linearer Temperaturverteilung kann auch durch äußere Kräfte am
Umfang bewirkt werden, nämlich, wie schon erwähnt, durch reine Biegungsmomente. Läßt
man die Radialspannung σx am Plattenumfang (bei zentrisch durchbrochener Platte auch am inneren
Umfang):
\sigma_x=2\,\frac{m}{m+1}\cdot \lambda\cdot \frac{\alpha_w}{\alpha}\cdot \frac{\Delta\,T}{h}
sein, so ist nach D. p. J. 1904, Heft 39, Abschnitt A, a,
Gleichung 4 bis 6 die Gleichung der elastischen Mittelfläche
w_0=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,({R^2}_a-x^2) . . . 21)
d. i. genau Gleichung 20c.
Kehrt man die Richtung der eben beschriebenen Spannungen um und läßt die letzteren
mit der ungleichmäßigen Erwärmung zusammen wirken, so ist die resultierende
elastische Mittelfläche die algebraische Summe der Mittelflächen Gleichung 20c und
der Gleichung 21; die Durchbiegung ist überall Null, die Scheibe bleibt eben. Die
Spannungen sind dabei nach D. p. J. 1904, Heft 39, Gleichung 6 im Abstand λ von der Mittelfläche überall gleich groß und dem
Abstand λ proportional, nämlich
\sigma_x=\sigma_y=-2\,\frac{m}{m-1}\cdot \lambda\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\frac{\Delta\,T}{h} . . . 18b)
An der Ober- und Unterfläche
\left(\lambda=\,\pm\,\frac{h}{2}\right)
ist die Spannung
\sigma_x=\sigma_y=\,\mp\,\frac{m}{m-1}\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\Delta\,T . . 22)
wenn ΔT die Erwärmung bezw.
Abkühlung der Ober- bezw. Unterfläche gegenüber der Mittelfläche ist. Man erkennt,
daß dies zufolge Gleichung 5 die Größe der Temperaturspannung ist, die entsteht,
wenn die Wärmeausdehnung in zwei zueinander senkrechten Richtungen vollständig
gehindert ist. Dies ist ja unter den hier angenommenen Verhältnissen auch
tatsächlich der Fall.
Es ist vielleicht nicht unnütz, zu bemerken, daß diese Spannung von der Dicke der
Platte unabhängig ist.
Zentrisch durchbrochene Kreisscheibe mit einem vollkommen
eingespannten und einem freibeweglichen Rand.
Ist an einer zentrisch durchbrochenen Platte bloß ein Rand
vollkommen eingespannt, der andere frei, so werden die
Integrationskonstanten in Gleichung 20 und 18a leicht aus den Randbedingungen
ermittelt, daß am eingespannten Rand die Mittelfläche ihre ursprüngliche Neigung
beibehalten muß und daß die radiale Normalspannung am freien Rand überall gleich
Null ist. Man erhält: für die zentrisch durchbrochene
Platte, äußerer Rand x = Ra
vollkommen eingespannt, innerer Rand x = Ri frei:
die Radialspannung im Abstand x
von der Plattenmitte:
\sigma_x=-\frac{m}{m+1}\,\lambda\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\frac{2\cdot \Delta\,T}{h}\,\frac{{R_a}^2}{\frac{m-1}{m+1}\,{R_a}^2+{R_i}^2}\,\left(1-\frac{{R_i}^2}{x^2}\right)
Die Ringspannung:
\sigma_y=-\frac{m}{m+1}\,\lambda\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\frac{2\cdot \Delta\,T}{h}\,\frac{{R_a}^2}{\frac{m-1}{m+1}\,{R_a}^2+{R_i}^2}\,\left(1+\frac{{R_i}^2}{x^2}\right)
23)
Die Durchbiegung gegenüber dem äußeren Rand:
w_0=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,\frac{{R_i}^2}{\frac{m-1}{m+1}\,{R_a}^2+{R_i}^2}\,\left[R_a-x^2-{R_a}^2\,ln\,\frac{{R_a}^2}{x^2}\right] 24)
für eine zentrisch durchbrochene
Platte, innerer Rand x = Ri
vollkommen eingespannt, äußerer Rand x = Ra frei:
Die Radialspannung im Abstand x
von der Plattenmitte:
\sigma_x=-\frac{m}{m+1}\,\lambda\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\frac{2\cdot \Delta\,T}{h}\,\frac{{R_i}^2}{{R_a}^2\,\frac{m-1}{m+1}\,{R_i}^2+{R_i}^2}\,\left[1-\frac{{R_a}^2}{x^2}\right]
Die Ringspannung:
\sigma_y=-\frac{m}{m+1}\,\lambda\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,\frac{2\cdot \Delta\,T}{h}\,\frac{{R_i}^2}{{R_a}^2\,\frac{m-1}{m+1}\,{R_i}^2+{R_i}^2}\,\left[1+\frac{{R_a}^2}{x^2}\right]
25)
Die Durchbiegung gegenüber dem inneren Rand:
w_0=\alpha_w\,\frac{\Delta\,T}{h}\,\frac{{R_a}^2}{{R_a}^2+\frac{m-1}{m+1}\,{R_i}^2}\,\left[{R_i}^2-x^2-{R_i}^2\,ln\,\frac{{R_i}^2}{x^2}\right] 26)
Zusammenfassung.
1. Wird eine dünne kreisförmige Platte in allen Punkten um Tm° C über
ihre Anfangstemperatur erwärmt und sind keine äußeren Kräfte an der Platte tätig,
welche die Wärmeausdehnung hindern, so entstehen keine Spannungen in der Platte.
Ueber die Zunahme eines Halbmessers x infolge der
Erwärmung vergl. Gleichung 15, wobei p = 0 zu setzen
ist.
Ist die radiale Ausdehnung durch eine gleichmäßig über den Plattenrand verteilte
Radialspannung – p
kg/qcm gehindert,
so herrscht in allen Punkten radial und tangential die gleiche Normalspannung:
σx =
σy
= – p
kg/qcm Druck
und die Zunahme eines Halbmessers x ist nach Gleichung 15:
u=-\frac{m-1}{m}\,\alpha\,p\,x+\alpha_w\cdot T_m\cdot x.
Bei vollständig (radial) gehinderter Wärmeausdehnung müßte am Plattenrand eine
Druckspannung von
\sigma_x=-\frac{m}{m-1}\,\frac{\alpha_w}{\alpha}\,T_m
vorhanden sein, eine Spannung, die ebenso groß ist wie bei
vollständig gehinderter Flächenausdehnung (vergl. Gleichung 5).
2. Wird die Platte weiterhin so erwärmt bezw. abgekühlt, daß die Temperatur der
\left\{{{\mbox{Ober-}}\atop{\mbox{Unter-}}}\right\} fläche um ΔT Grad C \left\{{{\mbox{über}}\atop{\mbox{unter}}}\right\} die
Temperatur der Mittelfläche \left\{{{\mbox{steigt}}\atop{\mbox{stinkt}}}\right\}, und dem Abstand von der Mittelfläche
proportional ist, und sind an der Platte keine äußeren
Kräfte tätig, welche die Wärmeausdehnung hindern, so „wirft sich“
die Platte, d.h. sie biegt sich gemäß Gleichung 20b und 20d, ohne daß innere
Spannungen entstehen.
Sind dagegen die Ränder der Platte vollkommen eingespannt, d.h. ist die Mittelfläche am
Rand gezwungen, ihre ursprüngliche Neigung beizubehalten, so bleibt die Platte eben;
es entstehen in ihr Biegungsspannungen gemäß Gleichung 18b, deren Betrag ebenso groß
ist wie bei vollkommen gehinderter Flächenausdehnung (vergl. Gleichung 5). Dies gilt
in gleicher Weise von einer vollen und von einer zentrisch durchbrochenen
Platte.
Ist ein Rand vollkommen eingespannt, der andere frei, so gelten die Gleichungen
23 bis 26.
3. Wenn außer den unter 2. erwähnten Formänderungen noch andere in Betracht zu ziehen
sind, so werden sie durch Kräfte erzwungen, die nach D. p. J. 1904, Heft 39–43
berechnet werden können, ebenso die Spannungen. Die Gesamtspannung ist die
algebraische Summe der Einzelspannungen, herrührend von der ungleichen Erwärmung und
von der äußeren Belastung.
4. Die Anwendung auf den ebenen, rippenlosen Scheibenkolben in D. p. J. 1907, Heft 37
ist einfach. Dürfen die Kolbenböden als an den Rändern vollkommen eingespannt
angesehen werden, so bleiben die Böden eben und die Biegungsspannung an der Ober-
und Unterfläche folgt aus Gleichung 22. Wird der Mantel des Kolbens und die
Mittelfläche gleich stark über die Anfangstemperatur erwärmt, so entstehen infolge
dieser gemeinsamen Erwärmung keine Spannungen.
Schlüsse in bezug auf die Beanspruchung von Rippen durch
ungleiche Temperatur sind einer späteren Mitteilung vorbehalten.