Titel: | Beanspruchung des Glockenturmes durch die Seitenkräfte der schwingenden Glocke. |
Autor: | K. Schreber |
Fundstelle: | Band 323, Jahrgang 1908, S. 91 |
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Beanspruchung des Glockenturmes durch die
Seitenkräfte der schwingenden Glocke.
Von Prof. Dr. K. Schreber,
Greifswald.
Beanspruchung des Glockenturmes durch die Seitenkräfte der
schwingenden Glocke.
Jeder schwingende Körper, z.B. ein Pendel oder eine Glocke übt auf sein Lager
Seitenkräfte aus, welche unter Umständen von großer Bedeutung werden können. Beim
Glockenstuhl haben die Seitenkräfte einen Hebelarm, dessen Länge der Höhe des Turmes
nahezu gleich ist, so daß sie ein sehr großes Biegungsmoment ausüben und dadurch den
Turm sehr gefährden, zumal wenn noch die Eigenschwingung des Turmes in einfacher
Beziehung steht zur Schwingung der Glocke, so daß Resonanzerscheinungen auftreten
können. Beim Pendel wird durch diese Seitenkräfte, wenn das Lager nicht sehr fest
ist, der Drehpunkt gewissermaßen nach oben verschoben, und dadurch die
Schwingungszeit des Pendels vergrößert, so daß, wenn man aus solchen
Pendelbeobachtungen die Erdbeschleunigung messen will, man falsche Werte erhält.
Die theoretische Mechanik gibt für die Seitenkräfte, welche ein schwingender Körper
auf sein Lager ausübt, die Gleichung:vergl. Keck, Mechanik, III, S. 204.
H=M\,g\,\frac{s^2}{\varrho^2+s^2}\,(3\,\cos\,\varphi-2\,\cos\,\alpha)\,\sin\,\varphi,
. . 1)
wo
g die Beschleunigung des
freien Falles,
M die Masse des schwingenden
Körpers, also M . g sein Gewicht,
s die Entfernung seines
Schwerpunktes von der Drehachse,
ρ der Trägheitsradius, definiert
durch τ = M ρ2, wenn τ das
Trägheitsmoment in bezug auf eine durch den Schwerpunkt gehende, der wirklichen
Drehachse parallele Achse ist,
α die halbe Schwingungsweite
und
φ der augenblickliche
Stellungswinkel ist, beide gezählt von der senkrechten Ruhelage. Definitionsgemäß
ist stets α ⋝ φ.
Die Gleichung gibt die Seitenkräfte in ihrer Abhängigkeit namentlich vom
augenblicklichen Stellungswinkel, sie zeigt, daß diese Kraft in der Ruhelage des
Pendels zu Null wird und beim Durchgang durch diese Lage ihr Vorzeichen ändert. Sind
die Schwingungsweiten α > 30°, so wird, wie eine
einfache mathematische Diskussion der Gleichung 1 zeigt, das Maximum von H auf jeder Seite vor dem Umkehrpunkte erreicht, d.h.
während der Stellungswinkel noch weiterhin wächst, nimmt die Kraft schon wieder
ab.
Die Erfahrung lehrt nun, daß derartige theoretisch abgeleitete Formeln durchaus nicht
so in ihrer Bedeutung erfaßt und behalten werden, wenn man sie nicht gleichzeitig
durch den anschaulichen Versuch bestätigt.
Die durch Gleichung 1 gegebenen Seitenkräfte lassen sich sehr leicht sichtbar machen,
wenn man das Pendel so aufhängt, daß der Drehachse kleine wagerechte Verschiebungen
gestattet sind. Man erreicht dieses, wenn man die Drehachse an einem recht langen
Faden aufhängt und sie in wagerechter Richtung durch gespannte Schraubenfedern
festhält. Die durch die Schwingungen des Pendels verursachten Seitenkräfte
veranlassen Bewegungen der Drehachse in wagerechter Richtung, wodurch die Kräfte der
Federn geändert werden, so daß man umgekehrt aus der Längenänderung der Federn die
jedesmaligen Seitenkräfte des schwingenden Körpers messen kann.
Die Beobachtung der Längenänderung der Federn macht sich am bequemsten beim
Umkehrpunkte des Pendels, weil dann gewissermaßen das Pendel einen Augenblick in
Ruhe ist und sich vorher und nachhehr nur sehr langsam bewegt; allerdings muß dann
die Schwingungsweite unter 30° bleiben. Bezeichnen wir die Seitenkraft beim
Umkehrpunkte mit H1,
so erhalten wir, wenn wir gleichzeitig die Konstanten der Gleichung zu einer
einzigen zusammenfassen:
H'=A\,\sin\,\alpha\,\cos\,\alpha=A\,\frac{\sin\,2\,\alpha}{2}
. . . 2)
Diese Kraft H1 läßt
sich aus den Längenänderungen der wagerechten Schraubenfedern in folgender Weise
ableiten. Bezeichnen:
S0 die Spannung der Federn im Ruhezustande,
S1 und S2 die
Spannungen der Federn beim Umkehrpunkte des Pendels,
γ1 und γ2 die
Belastungen, welche nötig sind, um eine Verlängerung der Federn um 1 mm
hervorzubringen,
∆ l1 und ∆ l2
die abgelesene Verlängerung der einen bezw. Verkürzung der anderen Feder,
so ist, wenn man die gedehnte Feder mit dem Index 1
bezeichnet: S1 = H' + S2, und daraus nach dem Gesetz der Federdehnung:
S0 +
γ1 ∆ l1 = H' + S0 + γ2 ∆ l2.
Somit erhält man:
H' = γ1 ∆ l1 – γ2 ∆ l2.
Diese Gleichung vereinfacht sich noch durch die geometrische
Bedingung, daß, weil die äußeren Befestigungspunkte der beiden Schraubenfedern
während der Schwingungen des Körpers feststehen, die eine Feder sich um ebensoviel
dehnt, wie sich die andere zusammenzieht:
∆ l1 +
∆ l2 = 0
Das eingesetzt ergibt endlich:
H' = (γ1 + γ2) ∆ l . . . . . 3)
Um diese Kraft zu messen, habe ich einen Eisenstab von 1040 mm Länge und 16 mm
Durchm. in der Nähe des einen Endes senkrecht zur Achse durchbohrt und durch dieses
Loch einen Eisenstift gesteckt, welcher dort, wo der Stab auf ihm ruhte, zu einem
dreikantigen Prisma mit nach oben gerichteter Kante zurecht gefeilt war. Der Stift
saß in einem kleinen vierseitigen Rahmen, an dessen dem Stift parallelen Seiten die
Schraubenfedern eingehängt werden konnten. Aufgehängt war der Stift und damit das
Pendel an einem über 1 m langen Faden.
An dem Stift war vorn eine kleine Drahtspitze befestigt, welche auf einem
wagerecht darunter gelegten Maßstab einspielte, so daß sich die Umkehrpunkte des
Stiftes bei den Hin- und Herbewegungen des Pendels sehr bequem ablesen ließen.
Den Anschlagwinkel des Pendels beobachtete ich an einem unter ihm liegenden zweiten
wagerechten Maßstab, indem ich das Auge ungefähr in die Höhe des das Pendel
tragenden Stiftes brachte und dann am Eisenstab entlang nach dem Maßstab visierte.
Ich las also eine Strecke ab, aus der man die geometrische Tangente des
Ausschlagwinkels erhält, wenn man die Verschiebung des Stiftes und die halbe Dicke
des Stabes abzieht.
Ich versetzte das Pendel in Schwingungen von passender Weite, ungefähr 25° und ließ
dann durch die Dämpfung die Schwingungen abnehmen. Jedesmal, wenn der Zeiger an der
Achse des Pendels auf einen Teilstrich seines Maßstabes zeigte, machte ich eine
Ablesung des Gesamtausschlages am unteren Maßstab und zwar in der einen
Versuchsreihe Ausschläge nach rechts, in der zweiten sonst genau gleichen nach
links. Diese Ausschläge sollen natürlich in beiden Reihen einander gleich sein. Die
in der Tabelle sich zeigenden Unterschiede geben ein Maß für die Genauigkeit der
Methode, welche unter Berücksichtigung ihrer Einfachheit als sehr groß bezeichnet
werden muß.
Nach Gleichung 3 ist die Ausschlagweite ∆ l des Stiftes
von der Anfangsspannung S0 der Federn unabhängig. Ich habe das an zwei Versuchen gezeigt, bei denen
dieselben Federn das eine Mal die Anfangsspannung 0,9 kg, das andere Mal 1,6 kg,
also nahe das Doppelte hatten. Die Ergebnisse dieser beiden Beobachtungen sind in
der folgenden Zusammenstellung enthalten. In ihr gibt die Reihe:
e den Ausschlag der Drehachse
in mm,
H' die daraus mit γ1 + γ2 = 0,0235 berechnete
Kraft,
tg αrr ... die Tangenten der Ausschlagswinkel und zwar α1 nach rechts, α' nach links, bei der Spannung 0,9 kg, α''
bei 1,6 kg,
2\,\sin\,\frac{\alpha}{2} der dem Mittel aus
den vier Reihen tg α entsprechende Wert dieser
Funktion,
A die Konstante der Gleichung 2
berechnet aus den Spalten H' und
2\,\sin\,\frac{\alpha}{2}.
Zahlenzusammenstellung 1.
e
H'
tg α'r
tg α'1
tg α''r
tg a''1
2\,\sin\,\frac{\alpha}{2}
A
16
0,376
0,383
0,374
0,381
0,385
0,353
1,07
15
0,353
0,355
0,352
0,340
0,351
0,335
1,05
14
0,329
0,324
0,319
0,317
0,324
0,310
1,06
13
0,306
0,299
0,301
0,294
0,306
0,290
1,06
12
0,282
0,276
0,273
0,268
0,268
0,264
1,07
11
0,259
0,252
0,244
0,247
0,240
0,240
1,08
10
0,235
0,229
0,221
0,219
0,229
0,220
1,07
9
0,212
0,206
0,198
0,196
0,193
0,195
1,08
8
0,188
0,173
0,178
0,173
0,175
0,173
1,09
7
0,165
0,157
0,153
0,149
0,150
0,151
1,09
6
0,141
0,133
0,128
0,121
0,128
0,127
1,11
5
0,118
0,113
0,110
0,108
0,111
0,110
1,07
4
0,094
0,094
0,086
0,082
0,086
0,087
1,08
––––––
1,075
Man erkennt ohne weiteres, daß die vier Werte des Ausschlagwinkels innerhalb der
Genauigkeit der Beobachtungen gleich sind. Die Anfangsspannung der Federn ist also
auf den Ausschlag ohne Einfluß. Der mit dem Mittel aus den Ausschlägen berechnete
Wert A ergibt sich der Theorie entsprechend als
unabhängig von α.
Nimmt man kräftigere Federn, so erhält man, wie die nachfolgende Zusammenstellung 2,
welche ebenso eingerichtet ist wie 1, zeigt, dieselbe Bestätigung der Formeln 2 und
3. Der Wert (γ1 + γ2) war hier
0,0300.
Zahlenzusammenstellung 2.
e
H
tg αr
tg α1
2\,\sin\,\frac{\alpha}{2}
A
13
0,390
0,377
0,378
0,359
1,09
12
0,360
0,329
0,330
0,317
1,13
11
0,330
0,301
0,303
0,292
1,13
10
0,300
0,273
0,270
0,264
1,13
9
0,270
0,240
0,246
0,238
1,13
8
0,240
0,212
0,209
0,208
1,15
7
0,210
0,184
0,181
0,181
1,16
6
0,180
0,156
0,152
0,153
1,18
5
0,150
0,132
0,131
0,131
1,15
4
0,120
0,106
0,101
0,104
1,15
––––
1,140
Der Vergleich beider Zusammenstellungen zeigt aber, daß der Mittelwert von A in ihnen verschieden ist. Würde das Lager vollkommen
starr sein, wie es die Theorie voraussetzt, so müßte die Konstante A, da das Gewicht der Stange 1,66 kg wiegt und die
Drehachse von dem Ende um 22 mm entfernt ist, die Konstante den Wert A = 1,22 haben. Weil aber in den Versuchen die
Drehachse den auf ihr einwirkenden Kräften nachgeben kann, und zwar bei den
schwächeren Federn mehr als bei den kräftigeren der zweiten Zusammenstellung, so muß
auch die Abweichung vom theoretischen Wert der Konstante A im ersten Versuch größer sein als im zweiten. Je mehr das Lager starr
wird, um so näher liegt der aus den Beobachtungen folgende Wert von A dem theoretischen.
Dasselbe erhält man bei Beobachtung der Schwingungszeiten. Als Mittel aus einer
größeren Zahl von Beobachtungen erhielt ich für die Schwingungszeit bei Benutzung
der weicheren Federn 0,858 Sek., bei Benutzung der härteren 0,850, während die
Theorie bei vollkommen starrem Lager 0,828 verlangt. Auch hier erkennt man, daß sich
die beobachteten Werte den theoretisch berechneten umsomehr nähern, je starrer das
Lager der Drehachse ist. Bei sehr empfindlichen Beobachtungen der Schwingungszeit,
wie sie angestellt werden, um die Verschiedenheit der Beschleunigung des freien
Falles an den verschiedenen Orten der Erde festzustellen, muß man also sich sehr
genau vergewissern, ob das Lager der von der Theorie geforderten Starrheit
hinreichend genügt.
Da die Schwingungszeit eines physischen Pendels, wenn man die Achse, um welche es
schwingen kann, vom oberen Ende allmählich bis zum Schwerpunkt heruntersinken läßt,
zunächst kleiner wird, bis ein Minimum erreicht ist, dann aber wieder zunimmt, so
kann man dieselbe Schwingungszeit, welche eine Kirchenglocke hat, wenn sie wie
gewöhnlich um eine am Helm befestigte gerade Achse schwingt, auch erreichen, wenn
man, wie es z.B. der Dresdener Glockengießer Bierling
tut, die Achse in ihrer Mitte stark nach oben biegt, und den Helm der Glocke in der
oberen Biegung befestigt. Die Glocke schwingt dann um eine Achse, welche dem
Schwerpunkt bedeutend näher liegt. Die Folge davon ist, daß dann zunächst das
Drehmoment ein bedeutend kleineres ist, daß man also dieselbe Winkelgeschwindigkeit
mit einer bedeutend schwächeren Kraft erzielt. Mit anderen Worten, die Glocke läßt
sich viel leichter läuten.
Die zweite Folge ist, daß auch die Lager bedeutend weniger von Seitenkräften
beansprucht werden. In Gleichung 1 kommt zwar die Entfernung s der Drehachse vom Schwerpunkt im Zähler und Nenner vor, da aber im
Nenner noch der Trägheitsradius vorkommt, welcher im allgemeinen von derselben
Größenordnung ist, so ist der Einfluß der Abnahme von s im Zähler größer als im
Nenner, d.h. bei einem nach dieser Methode aufgehängten schwingenden Körper ist die
Konstante A kleiner.
Um das zu prüfen, habe ich in meinem Eisenstab in 220 mm Entfernung vom Ende ein
zweites Loch gebohrt und dann dieselben Beobachtungen unter Benutzung der weicheren
Federn angestellt. Der Ergebnis ist in der folgenden Zusammenstellung gegeben:
Zahlenzusammenstellung 3.
e
H
tg αr
tg α1
2\,\sin\,\frac{\alpha}{2}
A
12
0,282
0,427
0,400
0,71
11
0,259
0,374
0,357
0,73
10
0,235
0,339
0,350
0,330
0,71
9
0,212
0,300
0,302
0,291
0,73
8
0,188
0,261
0,265
0,258
0,73
7
0,165
0,229
0,226
0,223
0,74
6
0,141
0,190
0,190
0,189
0,74
5
0,118
0,161
0,161
0,160
0,74
4
0,094
0,127
0,127
0,126
0,75
3
0,071
0,096
0,096
0,096
0,74
––––
0,732
Die Theorie verlangt als Verhältnis der Konstanten den Wert 1,47; die mit den
gleichen Federn angestellten Versuche 1 und 3 ergeben genau dasselbe Verhältnis der
Konstanten, so daß damit auch dieser Teil der Gleichung 1 durch den Versuch
betsätigt ist.
So manche Glocke, welche jetzt aus Rücksicht auf die Festigkeit und Sicherheit des
Turmes nicht geläutet werden darf, würde durch diese Aufhängung brauchbar
werden.