Titel: | Die Festigkeitsberechnung der Schwungräder. |
Autor: | Joh. Heinrich Bauer |
Fundstelle: | Band 323, Jahrgang 1908, S. 353 |
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Die Festigkeitsberechnung der
Schwungräder.
Von Joh. Heinrich Bauer in Brackwede
i. W.
Die Festigkeitsberechnung der Schwungräder.
Bei den in der Praxis heute üblichen großen Umfangsgeschwindigkeiten der
Schwungräder ist es erwünscht, einfache Formeln zu besitzen, die dem Konstrukteur
ermöglichen, sich in kurzer Zeit über die in dem Rade auftretenden
Materialspannungen zu unterrichten.
Die Aufgabe, die Kräfte und Materialspannungen zu berechnen, die in einem in Drehung
befindlichen Rade auftreten, dessen Kranz durch Arme mit der Nabe verbunden ist, ist
statisch unbestimmt. Sie kann nur gelöst werden, wenn die Rechnung Rücksicht nimmt
auf die elastischen Formänderungen, die unter dem Einflüsse der Zentrifugalkraft
entstehen. Im Nachstehenden soll dies unter Benutzung des Satzes von Castigliano vom Minimum der Formänderungsarbeit
geschehen, der als bekannt vorausgesetzt wird. Die Behandlung der Aufgabe gestaltet
sich hierdurch besonders einfach und übersichtlich. Der Satz von Castigliano setzt die Gültigkeit des Hookeschen Gesetzes voraus. Da aber Gußeisen, das bei
Schwungrädern meist zur Verwendung kommt, diesem Elastizitätsgesetz nicht vollkommen
genügt, muß hervorgehoben werden, daß für dieses Material die Resultate nicht
überschätzt werden dürfen. Immerhin sind auch hierfür die Ergebnisse beim Entwurf
neuer Räder beachtenswert. Außerdem ist es in der Praxis bei Festigkeitsberechnungen
üblich, auch bei Gußeisen so zu rechnen, als ob es dem Hookeschen Gesetz ebenso gut genüge wie die anderen
Konstruktionsmaterialien, die dort in Frage kommen.
Die Uebersichtlichkeit wird erleichtert, wenn die Aufgabe in die nachstehenden Teile
zerlegt wird.
1. Der Beharrungszustand.
Es wird vorausgesetzt, daß sich das Schwungrad mit der konstanten
Winkelgeschwindigkeit ω drehe. Der Schwungradkranz hat
dabei unter der Einwirkung der Zentrifugalkraft das Bestreben sich frei auszudehnen
und wird an der freien Formänderung durch die Arme behindert. Die Mittellinie, eines
jeden Armes ist zugleich die Symmetrielinie des zum Arm gehörigen Sektors, wonach
das Rad aus so viel in sich symmetrischen Teilen besteht, als es Arme enthält. Der
Belastungszustand ist in jedem dieser Teile genau derselbe und zwar ist er auch noch
symmetrisch zum Armmittel. Die Ausdehnung des Kranzes verursacht in jedem Arm
unbekannte Zugspannungen, deren Gesamtheit beim Anschluß an den Kranz mit X bezeichnet sei. Für die Durchführung der Rechnung
genügt es, einen Symmetrieteil ins Auge zu fassen. Aus dem Schwungrad mit n Armen wird ein Stück herausgeschnitten, das rechts
und links von einem Arm durch eine Ebene begrenzt ist, die mit dem Arm den
Winkel a=\frac{\pi}{n} bildet.
Die an den symmetrisch gelegenen Schnittflächen wirkenden innern Kräfte werden nach
Fig. 1 bezüglich des Kranzes zusammengefaßt in
eine Normalkraft N1,0,
eine Schubkraft T1,0
und in ein Biegungsmoment M1,0, desgleichen sinngemäß bezüglich der Nabe in eine Normalkraft N2,0, eine Schubkraft
T2,0 in ein
Biegungsmoment M2,0.
Als weitere Bezeichnungen werden eingeführt:
Der konstante Kranzquerschnitt
= F1
„ „ Armquerschnitt
= Fa
„ „ Nabenquerschnitt
= F2
Das Trägheitsmoment des Kranzquerschnittes
= J1
„ „ „
Nabenquerschnittes
= J2
Das spezifische Gewicht des Kranzmaterials
= γ1
„ „ „ „
Armmaterials
= γa
Der Elastizitätsmodul des Kranz- u. Nabenmaterials
= E
„ „ „ Armmaterials
= E
Radius des Schwerpunktkreises des Kranzes
= R
„ „ „ „ der
Nabe
= r
Die Erdbeschleunigung
= g
Sonstige Bezeichnungen erklären sich aus den bezüglichen Figuren.
Textabbildung Bd. 323, S. 353
Fig. 1.
Denkt man sich den Arm beim Anschluß an den Kranz abgetrennt und ersetzt nach Fig. 2 die innere Armkraft durch eine gleich große
und gleich gerichtete Kraft X, so lauten die
Gleichgewichtsbedingungen für den Kranzsektor nach Fig.
2: 1.
Projektion auf die Richtung von X
T_{1,0}\,\cos\,\alpha-T_{1,0}\,\cos\,\alpha-2\,N_{1,0}\,\sin\,\alpha-X
+\int_0^{2\,\alpha}\,\frac{F_1\,\cdot\,\gamma_1\,R\,d\,\varphi}{g}\,R\,\omega^2\,\cos\,(\alpha-\varphi)=0.
2. Projektion senkrecht auf Richtung von X:
2\,T_{1,0}\,\sin\,\alpha+N_{1,0}\,\cos\,\alpha-N_{1,0}\,\cos\,\alpha
+\int_0^{2\,\alpha}\,\frac{F_1\,\cdot\,\gamma_1\,R\,d\,\varphi}{g}\,R\,\omega^2\,\sin\,(\alpha-\varphi)=0.
Textabbildung Bd. 323, S. 354
Fig. 2.
Mit Rücksicht auf die Symmetrie der Belastung sagt die dritte Gleichgewichtsbedingung
– die Momentengleichung – nichts Neues mehr aus.
Die erste Bedingung löst sich auf in:
N_{1,0}=\frac{F_1\,\gamma_1\,R^2\,\omega^2}{g}-\frac{X}{2}\,\frac{1}{\sin\,\alpha}.
Abkürzungsweise wird gesetzt:
\frac{F_1\,\gamma_1\,R^2\,\omega^2}{g}=K,
also
N_{1,0}=K-\frac{X}{2}\,\frac{1}{\sin\,\alpha} . . . . 1)
Die zweite Bedingung sagt aus:
T1,0 =
0,
d.h. in dem Symmetrieschnitt treten keine Schubspannungen
auf.
Aus Fig. 3 ergibt sich die Normalkraft N1,φ in einem
Querschnitt unter dem Winkel φ aus der Gleichung:
Textabbildung Bd. 323, S. 354
Fig. 3.
N_{1,\varphi}-N_{1,0}\,\cos\,\varphi-\int_0^\varphi\,\frac{F_1\,\gamma_1\,R\,d\,\Psi}{g}\,R\,\omega^2\,\sin\,\Psi=0,
\mbox{zu}\ \ \ \ \
N_{1,\varphi}=K-\frac{X}{2}\,\frac{\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha} . . .
. . 2)
für die Schubkraft T1,φ in dem gleichen Querschnitt lautet die
Gleichgewichtsbedingung:
T_{1,\varphi}-N_{1,0}\,\sin\,\varphi+\int_0^\varphi\,\frac{F_1\,\gamma_1\,R\,d\,\Psi}{g}\,R\,\omega^2\,\cos\,\Psi
T_{1,\varphi}=-\frac{X}{2}\,\frac{\sin\,\varphi}{\sin\,\alpha}
. . . . 3)
Das Biegungsmoment für den gleichen Querschnitt ist:
M_{1,\varphi}=M_{1,0}-N_{1,0}\,R\,(1-\cos\,\varphi)+\int_0^\varphi\,\frac{F_1\,\gamma_1\,R\,d\,\Psi}{g}\,R^2\,\omega^2\,\sin\,\Psi
M_{1,\varphi}=M_{1,0}+\frac{X\,R}{2}\,\frac{1-\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha}.
Der unbekannte Wert des Einspannmomentes M1,0 in dieser
Gleichung kann nach dem Satz von Castigliano aus der
Beziehung ermittelt werden, daß
\frac{\partial\,A}{\partial\,M_{1,0}}=0 sein muß.
Hierin ist A die Formänderungsarbeit der Biegung für den
Bogen a. Die Bedingung besagt, daß der Querschnitt des
Biegungsmoments M1,0 in
dem Bogen a durch die Zentrifugalbeanspruchung keine
Verdrehung erfahren darf, da sonst die Symmetrie des Rades gestört würde.
A=\frac{1}{2}\,\int_0^\alpha\,\frac{{M^2}_{1,\varphi}}{E\,J_1}\,R\,d\,\varphi.
Durch die Einführung dieser Beziehung wird zugleich die
Annahme gemacht, daß auch bei dem Stabe mit gekrümmter Mittellinie die Spannungen
proportional mit dem Abstande von der neutralen Faserschicht zunehmen. Diese steht
bei dem Stabe mit gekrümmter Mittellinie in Widerspruch mit der Bernoullischen Annahme, daß die Querschnitte bei der
Formänderung eben bleiben. Bei den meisten Schwungrädern sind die Abmessungen des
Kranzquerschnitts im Verhältnis zum Raddurchmesser so klein, daß das aus unserer
Rechnung sich ergebende Resultat nur wenig von jenem abweichen wird, das sich unter
der Annahme ergeben würde, daß ebene Querschnitte auch nach der Biegung eben
bleiben. Die Annahme der linearen Spannungsverteilung in Anwendung auf den
vorliegenden Fall ist daher wohl erlaubt, zumal derartige Festigkeitsberechnungen
immer nur Annäherungsrechnungen sind.
\frac{\partial\,A}{\partial\,M_{1,0}}=\int_0^\alpha\,\frac{M_{1,\varphi}}{E\,J_1}\,\frac{\partial\,M_{1,\varphi}}{\partial\,M_{1,0}}\,R\,d\,\varphi=0.
E, J1 und R sind hierin konstant und
\frac{\partial\,M_{1,\varphi}}{\partial\,M_{1,0}}=1, so daß
sich die Beziehung vereinfacht auf:
\int_0^\alpha\,M_{1,\varphi}\,d\,\varphi=0
\int_0^\alpha\,\left(M_{1,0}+\frac{X\,R}{2}\,\frac{1-\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha}\right)\,d\,\varphi=0.
Die Gleichung wertet sich aus zu:
M_{1,0}=-\frac{X\,R}{2}\,\left(\frac{1}{\sin\,\alpha}-\frac{1}{\alpha}\right)
. . . . 4)
und
M_{1,\varphi}=\frac{X\,R}{2}\,\left(\frac{1}{\alpha}-\frac{\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha}\right)
. . . . 5)
und
M_{1,\alpha}=\frac{X\,R}{2}\,\left(\frac{1}{\alpha}-\frac{\cos\,\alpha}{\sin\,\alpha}\right)
. . . 5a)
Durch die Gleichungen 1 bis 5 ist der Belastungszustand des
Kranzes gegeben, sofern die Zugkraft X in den Armen
bekannt ist.
Ist X = 0, so ist nach
Gleichung
2
N_{1,\varphi}=K=\frac{F_1\,\gamma_1\,R^2\,\omega^2}{g}
„
3 T_{1,\varphi}=0
„
5 M_{1,\varphi}=0,
d.h. in einem gleichförmig rotierenden Ring ohne Arme treten
weder Schubkräfte noch Biegungsmomente auf. Die Normalkraft ist in jedem beliebigen
Querschnitt gleich K und die Zugspannung:
\sigma=\frac{K}{F_1}=\frac{\gamma_1}{g}\,R^2\,\omega^2=\frac{\gamma_1}{g}\,v^2,
worin v = Rω die Umfangsgeschwindigkeit des Querschnittschwerpunktes ist.
Für einen gußeisernen Schwungring ergibt sich die Zugspannung:
σ = 0,00000745 v2 kg/cm –
2,
wobei v in cm einzusetzen
ist.
Die unter 1 bis 5 aufgestellten Beziehungen sind in der gleichen Weise für die Nabe
abzuleiten, wobei zu beachten ist, daß die Zugkraft X
im Arm nach der Nabe zu um die Zentrifugalkraft des Armes selbst vermehrt wird. Die
Zentrifugalkraft des Armes wird unter der Voraussetzung ermittelt, daß dieser
konstanten Querschnitt habe.
Textabbildung Bd. 323, S. 355
Fig. 4.
Die Zugkraft im Arm in einem Querschnitt vom Abstande ρ
vom Mittelpunkt ist nach
Z=X+\int_\varrho^R\,\frac{F_a\,\gamma_a\,d\,\varrho}{g}\,\varrho\,\omega^2
Z=X+\frac{F_a\,\cdot\,\gamma_a}{2\,g}\,(R^2-\varrho^2)\,\omega^2.
Bei Anschluß an die Nabe ist:
Z_a=X+\frac{F_a\,\gamma_a}{2\,g}\,(R^2-r^2)\,\omega^2
Z_a=X+\frac{F_a\,\gamma_a\,(R-r)}{g}\,\frac{R+r}{2}\,\omega^2=X+K_a,
wenn
K_a=\frac{F_a\,\gamma_a\,(R-r)}{g}\,\frac{R+r}{2}\,\omega^2
gesetzt wird.
Der Nabensektor wird in der gleichen Weise wie der Kranzsektor getrennt
untersucht. Man denkt sich den Arm beim Anschluß an die Nabe abgetrennt und ersetzt
die Zugspannungen an dieser Stelle durch ihre Resultierende, die ermittelt wurde zu
Za = X + Ka.
Die Zentrifugalwirkung auf die Nabenelemente wird als untergeordnet
vernachlässigt.
Textabbildung Bd. 323, S. 355
Fig. 5.
Nach Fig. 5 schreiben sich die
Gleichgewichtsbedingungen für den Nabensektor:
1. Projektion auf die Richtung Za:
T2,0
cos a – T2,0 cos a – 2 N2,0 sin a + X + Ka = 0.
2. Projektion senkrecht auf Richtung Za:
2 T2,0
sin a + N2,0 cos a – N2,0 cos a = 0.
Daraus ergibt sich:
N_{2,0}=\frac{X+K_a}{2}\,\frac{1}{\sin\,\alpha}
. . . . 6)
und
T2,0 =
0
In diesem Symmetrieschnitt treten keine Schubspannungen auf. In einem Querschnitt
unter dem Winkel y tritt analog der Gleichung 2 eine
Normalkraft auf:
N_{2,\varphi}=\frac{X+K_a}{2}\,\frac{\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha}
. . . 7)
und nach Gleichung 3 eine Schubkraft
T_{2,\varphi}=\frac{X+K_a}{2}\,\frac{\sin\,\varphi}{\sin\,\alpha}.
Das Biegungsmoment für den gleichen Querschnitt ist:
M2,φ =
M2,0 – N2,0
r (1 – cos φ).
Der Wert des Einspannmomentes M2,0 wird in der gleichen Weise wie vorher ermittelt
aus der Bedingungsgleichung
\int_0^\alpha\,M_{2,\varphi}\,d\,\varphi=0,
woraus sich ergibt:
M_{2,0}=\frac{X+Ka}{2}\,r\,\left(\frac{1}{\sin\,\alpha}-\frac{1}{\alpha}\right)
. . . 8)
und
M_{2,\varphi}=-\frac{X+K_a}{2}\,r\,\left(\frac{1}{\alpha}-\frac{\cos\,\varphi}{\sin\,\alpha}\right)
. . . 9)
(Fortsetzung folgt.)