Titel: | Geschwindigkeits-Diagramme im Eisenbahnbetrieb. |
Autor: | Hans A. Martens |
Fundstelle: | Band 323, Jahrgang 1908, S. 692 |
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Geschwindigkeits-Diagramme im
Eisenbahnbetrieb.
Von Regierungsbaumeister Hans A.
Martens.
Geschwindigkeits-Diagramme im Eisenbahnbetrieb.
Als noch Züge mit kaum mehr als 30 km/Std. Geschwindigkeit in den 40 er Jahren des vorigen
Jahrhunderts gefahren wurden, regte sich schon der Wunsch, nicht nur eine
Geschwindigkeitsanzeige, sondern auch eine Aufzeichnung zu besitzen, durch welche
von dem Verlauf der Zugfahrt ein klares Bild gegeben würde. Während also durch die
Anzeige der Geschwindigkeit dem Lokomotivführer unter Umständen überhaupt erst die
Möglichkeit gegeben wird, die sie betreffenden Dienstvorschriften genau innehalten
zu können, gestattet die Aufzeichnung die Nachprüfung der Erfüllung jener. Die
Aufgabe wurde dem Diagramm zugewiesen und zwar sind als moderne Forderungen
hinzustellen: Die fehlerfreie Aufzeichnung und schnelle Nachprüfung der jeweiligen
Fahrgeschwindigkeit – wobei es auf die höchst zulässigen Geschwindigkeiten besonders
ankommt – und der Zugfahrt, das heißt der Beförderung des Zuges im gegebenen
Fahrplan. Wenn nun nicht jedes Geschwindigkeitsdiagramm nachgeprüft wird, so
übt doch das Bewußtsein, daß der gesamte Zuglauf dargestellt wird und das Diagramm
jederzeit bei Dienstwidrigkeiten der stumme und gerechte Zeuge und Ankläger ist,
einen guten erzieherischen Einfluß auf alle bei der Beförderung eines Zuges tätigen
Beamten, vornehmlich Lokomotiv- und Zugführer und Fahrdienstleiter, da diese drei
hauptsächlich die Verantwortung für die pünktliche und betriebssichere Durchführung
der Züge tragen. Dadurch, daß die zuläßigen Höchstgeschwindigkeiten überwacht
werden, wird ein Ueberschreiten derselben nur selten stattfinden. Und es wird in
zweifacher Weise die Betriebssicherheit durch Innehalten zuläßiger Geschwindigkeiten
und regelmäßige Abwicklung des Zugverkehrs erhöht. Wie des weiteren noch anzuführen
ist, erwächst bei der Untersuchung von Unfällen, oder größeren
Betriebsunregelmäßigkeiten, die auf Störung im regelmäßigen Zugverkehr oder Anwendung
unzulässig hoher Geschwindigkeiten zurückzuführen sind, in dem Diagramm eine nicht
zu unterschätzende Hilfe. Ja, es ist häufig in dem Wust sich widersprechender
Aussagen der einzige, glaubwürdige Zeuge, läßt den wahren Tatbestand erkennen und
führt zur gerechten Beurteilung der Sachlage und schützt vor Härten gegen die
Beamten, die oft bei mehr auf Indizien sich stützender Klarstellung des Tatbestandes
nicht ausbleiben. Für Versuchsfahrten zur Erprobung der Leistungsfähigkeit von
Lokomotiven ist das Diagramm ein unentbehrliches Rüstzeug geworden. Die hiernach
bestehende Bedeutung des Geschwindigkeitsdiagramms rechtfertigt die Bestrebungen,
die bisher der Vervollkommnung seiner mechanischen Erzeugung gewidmet waren.
Bevor zur besonderen Kritik der Diagramme geschritten wird, soll eine allgemeine
Darstellung der Beziehungen von Weg und Zeit bei geradliniger, gleichförmiger und
ungleichförmiger Bewegung gegeben werden.
Von den beiden Hauptbegriffen „Weg“ und „Zeit“ schließt der erstere den
in der vorliegenden Abhandlung wichtigsten Begriff „Geschwindigkeit“ insofern
in sich, als Geschwindigkeit den Weg in der Zeiteinheit = 1 Sek. bedeutet. Auch die
Begriffe „Beschleunigung“ und „Verzögerung“ sind mittelbar im
Wegbegriff enthalten, da sie Zuwachs bezw. Abnahme der Geschwindigkeit in der
Zeiteinheit bedeuten.
Die Beziehungen aller Begriffe zueinander stellen sich analytisch durch folgende
Gleichungen dar:
v=\frac{s}{t}=\frac{d\,s}{d\,t};\ s-s_0=\int_0^t\,v\,d\,t;\
p=\frac{v_2-v_1}{t_2-t_1}=\frac{d\,v}{d\,t}=\frac{d\,s^2}{d\,t^2}
v-v_0=\int_0^t\,p\,\cdot\,d\,t;\ s=p\,\cdot\,\frac{t^2}{2},
wobei bedeutet:
s = Weg in m,
t = Zeit in Sek.,
v = Geschwindigkeit in m/Sek.,
p = Beschleunigung bezw. Verzögerung in m/Sek.
Die Beziehungen je zweier Begriffe zueinander lassen sich durch ebene Kurven
darstellen:
a) Weg und Zeit im Zeit-Wege-Diagramm (Fig. 1).
b) Weg und Geschwindigkeit im „örtlichen
Geschwindigkeitsdiagramm“ (Fig.
2).
c) Zeit und Geschwindigkeit im „zeitlichen
Geschwindigkeitsdiagramm“ (Fig.
3).
Textabbildung Bd. 323, S. 693
Fig. 1.Zeit-Weg-Diagramm.
Alle drei Diagramme können sowohl orthogonal als auch polar sein.
Der durch die Diagramme ausgedrückte Zusammenhang zweier Größen reicht hin, um die
dritte daraus, sei es durch Rechnung, sei es durch Konstruktion am Diagramm
selbst zu bestimmen.
Die Eigentümlichkeit der drei Diagramme läßt sich aus drei Vergleichsdiagrammen einer
Zugfahrt erkennen. Es bedeuten:
A bis B der Anfahrabschnitt
mit gleichförmiger Beschleunigung pa = 0,4 m/Sek.2, Anfahrweg =
sa = 980 m,
Anfahrzeit = ta =70
Sek.
B bis C die Fahrt mit
gleichmäßiger Geschwindigkeit 100 km/Std., Weg = 1400 m, Zeit = 50 Sek.
C bis D der Bremsabschnitt
mit gleichförmiger Verzögerung pb = 0,7 m/Sek.2, Bremsweg =
sb' = 560 m,
Bremszeit = tb' = 40
Sek.
Der ganze Weg der Zugfahrt beträgt 2940 m während 160 Sek.
Textabbildung Bd. 323, S. 693
Fig. 2.Oertliches Geschwindigkeits-Diagramm.
Aus den Diagrammen ist abzulesen:
Zu a) Unmittelbar der Weg innerhalb einer bestimmten Zeit.
Mittelbar die Geschwindigkeit mit Hilfe eines Maßstabes, der sich
darstellt als Strahlenbündel; die trigonometrischen Tangenten der Winkel zwischen
Strahl und Zeitachse messen die Geschwindigkeiten. Mit wachsendem Winkel wachsen die
Geschwindigkeiten.
Zu b) Unmittelbar die Geschwindigkeit an beliebiger Stelle des
Weges.
Mittelbar die Beschleunigung als Subnormale dieses beliebigen
Punktes der Kurve.
Textabbildung Bd. 323, S. 693
Fig. 3.Zeitliches Geschwindigkeits-Diagramm.
Die Zeit für das Durchlaufen eines Weges läßt sich in folgender Weise bestimmen: Man
trägt in jedem Punkt der Abszissenachse den umgekehrten Wert
\frac{1}{v} auf, dann ist der Inhalt der Fläche, welche durch die
neugewonnene Kurve, zwei Ordinaten und die Abszissenachse eingeschlossen wird,
gleich der Fahrzeit für die durch die Ordinaten begrenzte Wegstrecke.
Beweis: Der Inhalt eines unendlich kleinen Streifens der Fläche ist:
f = ds .
y,
wobei
y=\frac{1}{v} und ds = v
. dt
\int\,f=\int\,d\,s\,\cdot\,y=\int\,v\,\cdot\,d\,t\,\cdot\,\frac{1}{v}
F = t.
Dieses Diagramm ist besonders für fahrplantechnische Arbeiten geeignet, indem die
Fläche über einem bestimmten Weg die Fahrzeit darstellt. Das Auftragen der Ordinaten
\frac{1}{v} geschieht mittels eines Maßstabes, der in der
Form einer Hyperbel von der Gleichung
v\,\frac{1}{v}=1
erscheint.
Zu c) Unmittelbar die Geschwindigkeit zu beliebiger Zeit.
Mittelbar die Beschleunigungen als trigonometrische Tangente des Neigungswinkels der
geometrischen Tangente an die Kurve zur Zeitachse. Der Maßstab ist ein
Strahlenbüschel; die Neigung der Strahlen mißt die Beschleunigung.
Der Weg innerhalb einer bestimmten Zeit wird gemessen durch die Fläche, die durch die
Kurve, zwei Ordinaten und die Zeitachse eingeschlossen wird.
Ein viertes Diagramm, welches den Zusammenhang zwischen Fahrgeschwindigkeit und Zeit
ersichtlich macht, läßt sich erzeugen, wenn die Winkelgeschwindigkeit eines
Fahrzeugrades unmittelbar durch die Radumdrehungen gemessen wird.
Es ist
vm/Sek. = π . d . n' = konst . n',
wobei d der Raddurchmesser in
Metern und n' die sekundl. Umdrehungszahl des Rades
sind. Auf einer Zeitlinie werden die Radumdrehungen durch aneinander gereihte
Strecken vermerkt, deren Längen mit der Fahrgeschwindigkeit im direkten Verhältnis
veränderlich sind. Die jeweilige Geschwindigkeit ist nicht unmittelbar ablesbar; sie
muß aus der Aufzeichnung mit Hilfe der Konstanten der Vorrichtung berechnet
werden.
Es bezeichne
x die Strecke für die Dauer einer
Radumdrehung in mm,
m eine Strecke, in mm gemessen,
einer Minute gleichwertig (Maß für die Zeitlinie),
n die Umdrehungszahl des Rades in
der Minute,
d den Durchmesser des zur Messung
benutzten Rades in m,
dann besteht die Beziehung
V^{\mbox{
km}}/_{\mbox{Std.}}=\frac{\pi\,\cdot\,d\,\cdot\,n\,\cdot\,3600}{1000\,\cdot\,60}=0,06\,\cdot\,n\,\cdot\,\pi\,\cdot\,d=3,6\,\cdot\,n'\,\pi\,d.
Wird n durch \frac{m}{x} ersetzt, so
gilt die Gleichung
V . x = 0,06 m . πd.
Beide Gleichungen sind zur Berechnung einzelner Momentwerte der Geschwindigkeiten
bezw. zur Herstellung von Maßstäben für die Anfertigung des zeitlichen
Geschwindigkeitsdiagramms verwendbar.
Die erste Gleichung zählt die sekundl. Umdrehungen und ergibt als Maßstab eine
Gerade, deren Abszissen die Radumdrehungen, deren Ordinaten die Geschwindigkeiten
sind.
Die zweite Gleichung stellt eine gleichseitige Hyperbel dar, deren Abszissen die
Zeitdauern einer Radumdrehung, deren Ordinaten ebenfalls die Geschwindigkeiten
sind.
Soll nicht jede einzelne Radumdrehung aufgezeichnet werden, sondern genügt die
Wiedergabe eines Zählzeichens nach einer Summe von Radumdrehungen (s), so gelten die beiden Formeln mit dem Werte s . π . d an Stelle von π .
d. Zweckmäßig wird die Anzahl der vereinigt
darzustellenden Radumdrehungen so zu wählen sein, daß sπd gleich 100 m oder ein Vielfaches hiervon wird.
Für Eisenbahnzwecke kam zunächst die einfachste Erzeugung eines
Geschwindigkeitsdiagramms in Frage. So ist es erklärlich, daß das Zeitwegediagramm
verhältnismäßig früh, schon 1847, in Benutzung genommen worden ist. Die Erzeugung
der Wegekoordinate wird durch das Fahrzeug selbst bewirkt, während es nicht
schwieriger war, die Zeitkoordinate durch ein gleichmäßig gehendes Uhrwerk zu
erzeugen. So gelang es, von der Konstruktion eines eigentlichen
Geschwindigkeitsmessers abzusehen, und doch ein Mittel für die – allerdings
umständliche – Nachprüfung der Fahrgeschwindigkeit zu haben. Deshalb findet sich
dies Diagramm bei vielen Bauarten von Geschwindigkeitsmessern wie Fletchers. D. p. J.
S. 343 d. Bd. 1849, Pohl 1878 und
erst in neuester Zeit sind die Auftragungen der Schnellbahn Versuchsfahrten nach Lasches Angaben in dieser Weise – davon ausführlich
weiter unten – erfolgt. Ein Hauptvorzug besteht eben in der gänzlichen
Unabhängigkeit von einem Apparat, dessen abzulesende Geschwindigkeitsangaben
vielleicht nicht zuverlässig sind, weswegen auch dieses Verfahren der mittelbaren
Aufzeichnung der Geschwindigkeit für Versuche Bedeutung behält. Konstruktiv bestehen
zwei Ausführungen: Entweder man gibt dem Diagrammpapier die gleichmäßige
Geschwindigkeit der Zeit und dem Schreibstift die veränderliche des Weges – abhängig
von der Geschwindigkeit – oder umgekehrt. Es besteht kein wesentlicher Unterschied
in der Gestalt beider Diagramme: Die Ungenauigkeit der Wegekoordinaten,
hineingebracht durch das nicht vollkommen reine Rollen der Räder, erscheint in
beiden.
Wegen räumlicher, zweckmäßiger Abmessungen des Diagrammpapiers muß die eine
Koordinate in hin- und hergehender Bewegung erzeugt werden. Auch hierdurch entstehen
wegen der Umkehr der Bewegung, die konstruktiv nicht mathematisch genau bewirkt
werden kann, Fehler im Diagramm. Die naheliegende Erzeugung der Hin- und Herbewegung
mittels Kurbelbewegung ist bald verlassen worden wegen nicht gleichförmigen
Vorschubes auf dem ganzen Wege, was namentlich an den Kehrpunkten in die Erscheinung
tritt. Bessere Lösungen wurden angestrebt: Pohl ordnete
zwei sich kreuzende Schraubengänge an, die an den Enden ineinander übergehen. In
diesen läuft ein im Schreibstiftschlitten drehbarer Dorn. Petri verwendete einen Zahnhalbkreis, der sich mit gleichförmiger
Winkelgeschwindigkeit dreht, mittels dessen zwei Zahnstangen, die den Schreibstift
tragen, abwechselnd nach rechts und links bewegt werden. Wenn auch die
Gleichmäßigkeit des Hin- und Herganges dadurch theoretisch verbessert wurde, so
konnten Ungenauigkeiten infolge Abnutzung der Teile doch nicht vermieden werden, so
daß die Erzeugung des Zeit-Weg-Diagramms, dessen Nachprüfung bezüglich der
Geschwindigkeit recht umständlich war, recht bald aufgegeben wurde.
Lasche bewegte bei den Schnellbahnversuchen
Marienfelde–Zossen anfangs die Diagrammfläche durch das Fahrzeug fortlaufend und den
Stiftschlitten mit absolut konstanter Geschwindigkeit, vermied aber die
Schwierigkeit der konstanten Umkehrung dadurch, daß er innerhalb 5 Sekunden den
Schlitten von Hand auf die Anfangsstellung zurückzog; das dadurch ausfallende
Kurvenstück wurde nachher von Hand ergänzt und als solches besonders kenntlich
gemacht. Dadurch wurde die Zuverläßigkeit der Kurven erhöht, wenngleich das
Verfahren für Betriebszwecke nicht anwendbar ist.
Eine erste Versuchsanordnung erteilte dem Streifen durch einen kleinen Motor
konstante Bewegung, während der Schreibstift durch das Fahrzeug angetrieben
wurde.
Zur Nachprüfung der Geschwindigkeitsaufzeichnungen dienten in beiden Fällen
Radtaster, die in 500 m Entfernung verlegt waren.
Die Unbequemlichkeit, die Geschwindigkeit nicht unmittelbar aus der Kurve ablesen zu
können, hat zu der Bauart der Apparate geführt, welche die Geschwindigkeit
unmittelbar im Geschwindigkeitsdiagramm ergeben. Durch die Mitwirkung des
Geschwindigkeitsmessers an der Aufzeichnung der Kurve ist wieder ein Faktor der
Unzuverlässigkeit mehr in das Diagramm hineingebracht, zugleich mit einer
mehrgliedrigen Gestaltung des Apparates selbst.
Es lag zunächst nahe, auch wegen der verhältnismäßig einfachen konstruktiven
Durchführung die Geschwindigkeit in Beziehung zum durchlaufenen Weg zu setzen, d.h.
das Diagrammpapier durch das Fahrzeug bewegen zu lassen, während der Schreibstift
durch den Geschwindigkeitsmesser geführt wurde. Dies Diagramm erscheint als das
geeignetste zur Nachprüfung einer Zugfahrt, da ohne weiteres die jeweilige
Geschwindigkeit an jeder beliebigen Stelle der durchfahrenen Strecke abgelesen
werden kann. Die durchfahrene Strecke erscheint im Diagramm stets in dem nach
Maßgabe der Uebersetzung des Werkes verkleinerten Maßstab. Ist dieses nun gleich dem
der vorhandenen Streckenpläne gewählt, so läßt sich der Diagrammstreifen unmittelbar
mit dem Streckenplan zur Deckung bringen und die zu jeder Stelle der Strecke
gehörige Zuggeschwindigkeit sofort ablesen. Die Nachprüfung der Fahrt bezw. die
Feststellung der Geschwindigkeit an bestimmter Stelle aus Anlaß von Unglücksfällen
usw. kann in sehr kurzer Zeit erfolgen. Für die einfache Nachprüfung der Innehaltung
der Fahrdienstvorschriften hinsichtlich der anzuwendenden Fahrgeschwindigkeiten ist
dies Diagramm in jeder Beziehung brauchbar; denn es kommt darauf an, wo bestand die
und die Geschwindigkeit.
(Schluß folgt.)