Titel: | Zinnpest. |
Fundstelle: | Band 324, Jahrgang 1909, S. 90 |
Download: | XML |
Zinnpest.
Zinnpest.
In einem vor kurzem in der Abteilung- für Maschinen- und Schiffbau des Kon. Instituut van Ingenieurs in Holland gehaltenen
Vortrag hat Prof. Ernst Cohen aus Utrecht eine
Zusammenfassung gegeben seiner seit 1899, teils in Gemeinschaft mit Dr. C. van Eyk und Dr. E. Goldschmidt
ausgeführten Untersuchungen über die verschiedenen allotropen Zustände des
ZinnsDe Ingenieur 1908, Heft 30.. Wir entnehmen diesem
Vortrag im folgenden das Wichtigste, indem das Studium dieser Modifikationen nicht
nur aus anorganischem und physikalisch-chemischem Gesichtspunkt interessant ist,
sondern auch ein technisch wichtiges Ergebnis gezeitigt hatAusführliche Mitteilungen über die
Untersuchungen finden sich Zeitschrift für physikal.
Chemie, 30, 601 (1899); 33, 57 (1900); 35,
588 (1900); 36, 513 (1901); 48, 243 (1904); 50, 225 (1904); Chemisch Weekblad, 1, 437 (1904); 2,
450 (1905). Daselbst sind ausführliche Literaturangaben
zusammengestellt.
Textabbildung Bd. 324, S. 90
Fig. 1.
In der chemischen und technischen Literatur der letzten 50 Jahre finden sich
zahlreiche Angaben über Strukturänderungen des Zinns, die von den betr. Verfassern
verschiedenen Ursachen, namentlich auch Verunreinigung des Materials,
Erschütterungen, denen das Metall ausgesetzt ist (z.B. bei Orgeln), chemischen
Einwirkungen und Temperatureinflüssen zugeschrieben wurden.
Textabbildung Bd. 324, S. 90
Fig. 3.
Obwohl O.L. Erdmann schon im Jahre 185 1 einiges über
die hier in Frage kommende, von ihm an alten Orgelpfeifen der Kirche in Zeitz
beobachtete Erscheinung mitteilte, so wurde die Aufmerksamkeit doch eigentlich erst
auf diese Tatsachen gelenkt, als Fritzsche in
Petersburg achtzehn Jahre später etwas ausführlichere Mitteilungen über seine
Beobachtungen in dieser Frage machte. Von einer in einem Lagerraum aufbewahrten
Menge Banka-Zinn war ein erheblicher Teil vollständig unverändert geblieben, während
eine Anzahl Blöcke eine mehr oder weniger tief eingreifende Veränderung in ihrer
Struktur erlitten hatten. Diese letzteren besaßen eine bröckliche Beschaffenheit,
wobei einzelne oberflächliche Stellen sich sogleich dadurch kenntlich machten, daß
an ihnen ein warziges Auftreibender Oberfläche stattgefunden hatte. Andere Blöcke
dagegen hatten entweder unter gänzlichem Verluste ihres metallischen Glanzes
durch ihre ganze Masse ein mattes Aussehen und eine strahlig stengliche
Beschaffenheit angenommen, oder zeigten nur äußerlich eine kristallinisch
erscheinende Struktur, besaßen aber innerlich noch ihre metallische Beschaffenheit.
Die veränderten Blöcke stellten teilweise ein körniges, sandartiges Pulver dar,
teilweise aber bildeten sie noch lose zusammenhängende Stücke von allen Dimensionen
bis zur Faustgröße von faseriger Beschaffenheit.
Vor kurzem wurde ein Block Banka-Zinn, welches die soeben beschriebenen Erscheinungen
zeigt, von einer Firma in Moskau an die niederländische Lieferantin zur chemischen
Untersuchung zurückgesandt, da man offenbar an Verunreinigung des Materials glaubte.
Es wurde aber festgestellt, daß sowohl der etwa 25 kg schwere Block, wie das
kiloweise heruntergefallene Metall reines Zinn (99,96 v.H. Sn) ist. Dem in Fig. 1 dargestellten korrodierten Block ist in Fig. 2 ein unveränderter Block zum Vergleich
gegenübergestellt. Es ist interessant zu sehen, welche Meinungen von den
verschiedenen Formscheren über die Ursachen der hier besprochenen Erscheinungen
geäußert wurden. So meint LewaldD. P. J. 1870, Bd. 196, 369., daß nur in die Form von Blöckengegossenes
Zinn die Eigenschaft besitze, bei starker Kälte zu zerfallen, welche Erscheinung er
einer beim Gießen und der nachfolgenden schnellen Abkühlung der Blöcke auftretenden
Oberflächenspannung zuschreibt. Daß diese Ansicht nicht die richtige sein kann, geht
unmittelbar aus der Mitteilung Fritzsches hervor, daß
graues Zinn zuerst durch Erhitzen in die allgemein bekannte weiße Modifikation und
hernach wieder in die pulverige, graue Form umgesetzt werden kann.
Textabbildung Bd. 324, S. 90
Fig. 2.
Oudemans, der 1871 in der Akademie der Wissenschaften in
Amsterdam über eine im Winter von Rotterdam nach Moskau verschiffte und dort
vollständig in Pulverform angelangte Ladung Zinn berichtetProc. verb. Kon. Akad. v. Wet. in Amsterdam.
Versamml 28. Okt. 1871., kommt zu dem Schluß, daß die
Strukturveränderungen auf Rechnung von Erschütterungen und großer Kälte oder von
einer dieser beiden Wirkungen für sich zu setzen ist.
Daß große Kälte nicht eine unerläßliche Grundbedingung für die Umwandlung von weißem
in graues Zinn ist, erkannte RammelsbergBerliner Akad. Ber. 1880, 225. im
Jahre 1880 bei einer eingehenden Prüfung der Tatsachen.
Die Meinungen der Verfasser, die sich mit der Frage befaßt haben, gehen weit
auseinander. Besonders hatten die Versuche zur Bestimmung der Temperatur, bei
welcher die Umwandlung stattfinden sollte, nicht zu übereinstimmenden Ergebnissen
geführt, es wurde 35°, 39° und 100° und darüber angegeben. Auffallend ist die Erscheinung, daß
anscheinend unter gleichen Umständen befindliche Gegenstände nur teilweise an der
Umwandlung teilnehmen. So waren von 200 zum Gießen von Kerzen benutzten und während
20 Jahren im Freien liegenden Röhren nur 30 verändert, und zwar in sehr
verschiedenem Maße. Viele derartige Beispiele könnten angeführt werden.
Textabbildung Bd. 324, S. 91
Fig. 4.
Textabbildung Bd. 324, S. 91
Fig. 5.
Textabbildung Bd. 324, S. 91
Fig. 6.
Zur Klärung der Frage begannen Prof. Cohen und seine
Mitarbeiter mit der Bestimmung der Umwandlungstemtemperatur, wobei sie von der durch
Fritzsches Untersuchungen festgestellten Tatsache
ausgehen konnten, daß die Umwandlung eine enantiotrope sein muß, d.h. daß eine
UmwandlungstemperaturUeber den Begriff
„Umwandlungstemperatur“ vergleiche man Ernst Cohen „Vorträge
für Aerzte über physikal Chemie.“ 2. Aufl. Leipzig 1907.
für die umkehrbare Umwandlung: graues Zinn in weißes Zinn und umgekehrt, bestehen
muß. Diese Temperatur wurde sowohl mit Hilfe der elektrischen wie mit der
dilatometrischen Methode in der unmittelbaren Nähe von + 18° C festgestellt, wobei
zugleich die wichtige Tatsache hervortrat, daß eine Pinksalzlösung für die
Umwandlung in beiden Richtungen als Katalysator wirkt.
Da nun alle Zinngegenstände, die wir im täglichen Leben kennen, in der weißen
Modifikation vorkommen, so geht aus den vorerwähnten Beobachtungen der wichtige
Schluß hervor, daß unsere ganze Zinnwelt sich immerfort, mit Ausnahme einzelner
warmer Tage, in metastabilem Zustand befindet.
Der Gebrauch des Dilatometers ermöglicht auch die Bestimmung der Temperatur, bei der
die Umwandlung: weißes Zinn in graues Zinn mit der größten Geschwindigkeit erfolgt.
Im allgemeinen zeigt die Umwandlungsgeschwindigkeit metastabiler Systeme (wie z.B.
unterkühlter Systeme unterhalb der Schmelztemperatur) einen Höchstwert, wenn man sie
als Funktion der Temperatur darstellt. In Fig. 3 ist
dies für den vorliegenden Fall geschehen; aus der Kurve geht hervor, daß bei etwa –
48° ein Höchstwert der Umwandlungsgeschwindigkeit liegt.
Außer Pinksalzlösung ist auch graues Zinn selbst ein Katalysator für die Umwandlung
von weißem in graues Zinn, wie auch bekanntermaßen im allgemeinen bei Umwandlungen
wie die hier besprochene der Vorgang durch Zusatz der Modifikation, die man erzielen
will, beschleunigt werden kann.
Mit Hilfe der obengenannten Katalysatoren wurde ein Stück Banka-Zinn teilweise
umgewandelt, indem es während 3 Wochen einer Temperatur von – 5°C ausgesetzt wurde.
Wie Fig. 4 zeigt, war es nach Verlaufdieser Zeit mit
grauen Warzen besäet, die ihr Entstehen der Volumenzunahme beim Uebergang von weißem
in graues Zinn verdanken. Bei 18° ist das spezifische Gewicht des weißen Zinns
nämlich 7.28, dasjenige des grauen Zinns (nach Untersuchungen von Prof. Cohen und Dr. Olie) 5.75,
so daß die Umwandlung eine Volumenzunahme von etwa 30 v.H. bedingt, wobei die
Oberfläche des Metalls aufschwillt und zerreißt. Schreitet die Umwandlung weiter
fort, so verliert das Metall seinen Zusammenhang und fällt als äußerst feines Pulver
auseinander.
Der Umstand, daß die Umwandlungstemperatur bei + 18° liegt, hat zur Folge, daß
die Umwandlung- weißes Zinn in graues Zinn bei allen Temperaturen unter 18° vor sich
geht.
Textabbildung Bd. 324, S. 92
Fig. 7.
Textabbildung Bd. 324, S. 92
Fig. 8.
Textabbildung Bd. 324, S. 92
Fig. 10.
Ueberläßt man daher einen Gegenstand, bei dem die Umwandlung
einmal eingeleitet ist, bei gewöhnlicher Temperatur sich selbst, so findet die
Umwandlung mit immer größerer Geschwindigkeit statt, da die schon veränderten
Zinnteilchen neue Katalyse-Mittelpunkte bilden. Fig.
5 zeigt das in Fig. 4 abgebildete
Blöckchen Banka-Zinn, nachdem es während acht Jahren in einem bewohnten, also im
Winter geheizten Zimmer gelegen hat, wo die mittlere Temperatur auf 15° angenommen
werden kann. Wie aus der Abbildung hervorgeht, ist das Stück im Laufe der Zeit viel
stärker angegriffen worden.
Textabbildung Bd. 324, S. 92
Fig. 9.
Da die Katalysatorwirkung des grauen Zinns an Infektion erinnert und das
Zusammenschmelzen des bei der Umwandlung gebildeten Pulvers nicht ohne große
Verluste gelingt (beim Erhitzen des sehr fein verteilten Materials tritt starke
Oxydation auf, welche das Zusammenschmelzen verhindert), so wurde der besprochenen
Erscheinung von Professor Cohen der Name
„Zinnpest“ beigelegt.
Ueberläßt man zinnerne Gegenstände bei Temperaturen unter t8° sich selbst, so muß das
Material auf die Dauer durch die Zinnpest angegriffen werden. Es fragt sich nur, ob
die Umwandlung während eines Menschenalters weit genug fortschreitet, um deutlich
beobachtet werden zu können. Das wird u.m. von der Temperatur abhängen, bei der es
aufbewahrt wird.
In Fig. 6 und 7 ist
eine im Jahre 1692 wahrscheinlich von Johannes Snieltzing in Leyden gegossene Denkmünze dargestellt, die wegen der großen
Anzahl Warzen merkwürdig ist. Fig. 8 zeigt ein
anderes Exemplar der gleichen Münze, bei der die Zinnpest die Aufschrift schon
teilweise verwischt hat. Derartig angegriffene Münzen sind in zahlreichen Sammlungen
zu finden. Das Mittel gegen diese „Museumkrankheit“ geht aus den oben
besprochenen Untersuchungen hervor; man sorge dafür, daß die Temperatur der
Aufbewahrungsräume stets über 18° liege. Ist diese Bedingung erfüllt, so ist das
Auftreten der Krankheit ausgeschlossen.
Sind die Gegenstände einmal von Zinnpest angegriffen, so ist ihre Wiederherstellung
nicht mehr möglich. Zwar kann man graues Zinn durch Erhitzen z.B. auf 110° (in
kochendem Toluol) wieder schnell in weißes Zinn umsetzen, aber der Zusammenhang ist
und bleibt gestört. Es gilt also auch für die Museumkrankheit: prévenir vaut mieux
que guérir.
Bei einer Umfrage bei Kirchenorgelfabrikanten stellte es sich heraus, daß die falsche
Deutung der Tatsachen hier eine bedeutende Materialverschwendung zur Folge haben
kann, wie aus der Antwort eines Fabrikanten hervorgeht, der „dieses alte und
verzehrte Material“ nicht gerne bei der Herstellung neuer Röhren verwenden
möchte, aus Furcht, daß die neuen in kurzer Zeit das gleiche Los teilen würden.
Dieses bedeutet eine gänzlich unnötige Verschwendung, weil beim Schmelzen der alten
angegriffenen Orgelpfeifen (unter Hinzufügung von Kohlenpulver und Kalk) wieder die
weiße Modifikation entsteht und das Material ebenso gut wie frisches Material
verwendet werden kann.
Da das Auseinanderfallen der Pfeifen, wie oben erwähnt, durch Infektion beschleunigt
wird, so folgt hieraus, daß angegriffene Pfeifen möglichst bald aus der Nähe
der noch gesunden zu entfernen sind.
Einige aus der katholischen Kirche in Ohlau in Schlesien herrührende Orgelpfeifen
sind in Fig. 9 dargestellt. Die betreffende Orgel
wurde 1833 teilweise erneuert. Von den damals eingesetzten neuen Pfeifen waren im
Jahre 1884 24 auseinandergefallen (Fig. 9 und 10). Inzwischen schreitet die Korrosion weiter fort.
Das Holzdach der Kirche liegt unmittelbar über den Pfeifen, wodurch diese im Sommer
großer Hitze und im Winter starker Kälte ausgesetzt sind. Die mittlere
Wintertemperatur beträgt in Ohlau – 1°.64, die mittlere Jahrestemperatur +
7°.97.
Auf die Umwandlung des weißen Zinns in graues führt BraunsAus der Natur, 1, 738 (1906). den Umstand zurück, daß
unter den antiken Geräten solche von Zinn nicht oder äußerst selten gefunden werden.
Denn wenn das Zinn, wie er ausführt, auch nicht verschwindet, so zerfällt es doch in
graues Pulver, das wie Asche aussieht, und gemengt mit Erde der Beobachtung
entgeht.
Zum Schluß sei noch bemerkt, daß bereits zahlreiche Mitteilungen in der älteren
Literatur darauf hinweisen, daß auch bei Zinnlegierungen und bei anderen Metallen
ähnliche Erscheinungen wie die oben beschriebenen auftreten können.
F. Kerdyk.