Titel: | Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August Scherl. |
Autor: | Wolfgang Adolf Müller |
Fundstelle: | Band 324, Jahrgang 1909, S. 675 |
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Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August
Scherl.
Von Wolfgang Adolf Müller.
Kritik des neuen Schnellbahn-Systems von August Scherl.
Der bekannte Berliner Zeitungsverleger August
Scherl hat der Oeffentlichkeit eine DenkschriftEin neues
Schnellbahn-System. Vorschläge zur Verbesserung des
Personenverkehrs von August Scherl. Berlin
1909, Verlag von August Scherl. 122 S.
Querfolio mit zahlreichen Abbildungen und Tafeln. Preis Mk. 3.–.
über ein neues Schnellbahnsystem unterbreitet, die in mancherlei Hinsicht weitere
Beachtung und Kritik verdient.
Bevor wir an eine fachliche Kritik der neuen Vorschläge – denn mehr als Vorschläge
sind nicht gegeben – herangehen, seien einige Gedanken über das Vorwort der
Denkschrift vorausgeschickt.
Wenn Scherl sagt, daß den fachmännischen Spezialisten der intuitive Blick für die
großen Notwendigkeiten des öffentlichen Lebens abgehe, so hat er gewiß nicht unrecht
damit, denn das übertriebene Spezialistentum birgt auch in der Technik die große
Gefahr in sich, daß nicht nur die Fachgelehrten, sondern auch oft genug die
praktischen Ingenieure sich ganz einseitig auf einen winzig kleinen
Arbeitsausschnitt festlegen, wodurch die an sich dem Techniker eigenen intuitiven
Fähigkeiten naturgemäß verkümmern müssen. Aber nicht richtig ist, wenn Scherl nun dem „Laien“ ohne weiteres eine höhere
Anschauungsfähigkeit zuspricht. Dies geht schon daraus hervor, daß bedeutende
praktische Erfindungen häufig von solchen Laien gemacht wurden, die zwar in der
Technik Nichtfachleute, aber durch ihren Beruf (z.B. Aerzte, Geistliche usw.)
ebensogut wiederum zu diskursiver Erkenntnis erzogen waren. Es gibt eben nicht
Laien, sondern ganz allgemein „Menschen,“ seien dies nun Laien oder
Fachleute, die eine besondere, meistens angeborene Fähigkeit besitzen, mit
Leichtigkeit das Wesentliche einer noch so verwickelten Sache anschaulich vor Augen
zu haben, denen es daher auch leichter möglich ist, unter zunächst vollständiger
Ignorierung des Nebensächlichen aus wenigen Leitlinien das Ganze zweckdienlich und
einheitlich zusammenzubauen, zu organisieren.
Scherl wehrt sich weiter gegen die gelegentlich seiner
früheren Projekte erhobenen Vorwürfe der „Vielgeschäftigkeit,“ des
„Projektemachens,“ des „unsteten Phantasten.“ Gerade der letztere
Vorwurf wird durch seine eigenen Worte eher bekräftigt, denn nach diesen sollte man
glauben, daß seine rastlose Tätigkeit in seinem Zeitungsverlage rein altruistischen
Motiven entspringe. Daß sie auch viel Geld einbringt, ist natürlich nur eine
unangenehme Begleiterscheinung, die man in Kauf nehmen muß, daher wird dieser Faktor
nicht erst erwähnt. Ueberhaupt das Geld scheint Herr Scherl nicht zu lieben, denn wie bei dieser Gelegenheit, so vermeidet er
es ganz besonders, nachher bei der technischen Erläuterung seines neuen Systems,
davon zu sprechen. Und wer ein Projekt von der Kühnheit des Scherlschen „macht,“ ohne dabei auch nur den Versuch
zu wagen, die ungefähren Kosten zu ermitteln und die Möglichkeit einer
Wirtschaftlichkeit darzutun, muß sich den Vorwurf eines Phantasten wohl mit Recht
gefallen lassen. Wenn Herr Scherl, der es übrigens
ablehnt, ein Zeitungsspezialist zu sein, sich dem Berufe des „Organisators“
widmen will, dann möge er sich einen als hervorragendsten Organisator bekannten
Leiter einer unserer größten Elektrizitätsgesellschaften zum Vorbild nehmen. Dieser
fragt nämlich, obwohl selbst Ingenieur, bei einer neuen Sache nie: „Ist das
technisch möglich und wie?“, sondern stets zuerst: „Was kostet das?
Welche Verzinsung bringt es?“
Scherl stellt die Vielseitigkeit der englischen captains
of the industry, die heute eine Zeitung, morgen ein Hüttenwerk, übermorgen ein
Bahnsystem oder ein Terrainunternehmen organisieren, als erstrebenswert und fördernd
für die Volkswirtschaft hin. Ist das erstrebenswert, wenn derartige Leute in naiver
oder skrupelloser Kühnheit die gewagtesten Unternehmungen drauflos gründen, anderer
Leute Geld in sie hineinstecken, ohne danach zu fragen, ob das Unternehmen nach ein,
zwei Jahren wieder verkracht – und letzteres ist nur zu oft der Fall! Nein, solcher
Gründungskapitäne besitzen wir schon viel zu viele, und es wäre besser um die
Volkswirtschaft bestellt, wenn es mehr Organisatoren gäbe, die bei aller Kühnheit
der Gedanken und allem Unternehmungsgeist in Zeiten des Konjunkturaufstieges nicht
sinnlos neues gründeten und bauten, die daran denken, daß auch einmal wieder eine
Krise kommt, deren Abschwächung nicht zum geringen Teil in ihrer Hand liegt, wenn
sie nur beizeiten begonnen wird.
Scherls Standpunkt der Technik gegenüber erhellt
treffend aus folgenden zwei Sätzen des Vorwortes: „Daß solche Arbeit nicht ohne
jeweilige „fachmännische Mithilfe“ im eigentlichen Sinne der Worte getan
werden kann, versteht sich von selbst. Die technische Durchführung der
Einzelheiten muß natürlich Spezialisten überlassen werden, die meiner Meinung
nach (!) hier ihre unentbehrliche, segensreiche Wirkung entfalten.“ – Das
ist der heute meistens bei Behörden beliebte Standpunkt, und was bei solcher
Auffassung herauskommt, ist zur Genüge bekannt.
Die eigentliche Denkschrift zerfällt nun in drei Teile und zwar:
I. Die Krisis im gegenwärtigen Eisenbahnwesen.
II. Das neue System.
III. Wirtschaftliche und soziale Ausblicke.
Im ersten Kapitel übt Scherl eine mehr als berechtigte
Kritik an den heutigen ungesunden Eisenbahnverhältnissen, die eine Folge der
lediglich der historischen Entwicklung des Verkehrswesens nachfolgenden,
mangelhaften Organisation sind. Eine Besserung sei nur durch radikale
Neuorganisation möglich, für welche die Forderungen aufgestellt werden:
Trennung von Personen- und
Güterverkehr,
höhere Geschwindigkeit der Personenzüge,
häufigere Zugfolge,
Kontinuität aller Verkehrsgelegenheiten,
alles Forderungen, die bis auf die letzte nicht neu sind. Daß
in absehbarer Zeit an eine Trennung von Personen- und Güterverkehr geschritten
werden muß, dürfte heute selbst von den Eisenbahnverwaltungen zugestanden werden,
wenn man auch dort über das „wie“ noch sehr im unklaren ist. Die Frage der
höheren Geschwindigkeit ist nach den Zossener 200 km-Schnellbahnversuchen nur noch
eine Frage des Unterbaues, und die häufigere Zugfolge ist bei dem zukünftig allein
gebotenen elektrischen Betrieb durch dessen Eigenart bereits gegeben.
Eingehender wird die Brauchbarkeit des heutigen zweischienigen Unterbaues für
den Schnellbetrieb untersucht und naturgemäß aus den bekannten Gründen
abgelehnt.
Dieser bisherige Abschnitt ist zweifellos der beste des Buches, da er alle heute
erkannten Mängel unserer Eisenbahnen zusammengefaßt und treffend festnagelt. Im
zweiten Teil werden wir nun mit dem neuen System von Scherl bekannt gemacht, das allen gerügten Mängeln nach dem Rezept des
Doktor Eisenbart abhelfen soll. Scherl will nämlich für
den Personenverkehr ein vollständig neues, nach einem bestimmten System
organisiertes Eisenbahnnetz über Deutschland legen; was mit den vorhandenen
Eisenbahnen, in denen in Deutschland allein über 15 Milliarden investiert sind,
geschehen soll, verschweigt Scherl, ebenso, daß der
Güterverkehr auch eine gänzlich neue Organisation erfordert. Das Scherlsche System erstreckt sich auf eine neuartige
Organisation, sodann auf die technische Durchführung derselben mittels eines neuen
Bahnsystems.
Nach dem neuen System werden zunächst die wichtigsten Hauptstädte und Verkehrszentren
durch ein weitmaschiges primäres Netz von direkten Fernschnellbahnen (mit 200 km stündl. Geschwindigkeit)
verbunden. Zur Erschließung der Flächen der einzelnen Maschen dieses Hauptnetzes
dient als Zubringersystem ein engeres sekundäres Netz von
Nebenbahnen (mit 120–150 km Geschwindigkeit), dessen
Linien wiederum durch ein tertiäres Netz von Zweigbahnen (mit 30–60 km Geschwindigkeit) gespeist
werden. Diejenigen Dörfer und Flecken, die dann noch nicht an einer Bahnlinie bezw.
in der Nähe einer Station liegen, werden durch Automobilomnibuslinien an die nächste
Zweigbahnstation angeschlossen.
Man kann diesem System einen gewissen großzügigen Organisationsgedanken nicht
absprechen, wenn auch seine praktische Durchführung schon allein aus
wirtschaftlichen Gründen unmöglich ist.
In den Großstädten ist wiederum ein besonderes Stadtbahnnetz vorgesehen: In die Mitte
der Stadt wird mit etwa 5 km Radius ein (tatsächlich kreisrunder) innerer Stadtring
gelegt, sodann um die Stadtperipherie ein großer Vorortring und schließlich zwischen
beide je nach der Stadtgröße noch ein Mittel- oder ein Außen-Stadtring, eventuell
auch noch ein zweiter Vorortring. Vom Mittelpunkt der Stadt gehen wieder von einem
gemeinsamen Zentralbahnhof radiale Strahlenbahnen aus, die über sämtliche Ringbahnen
hinweg bis zum äußersten Vorortring geführt werden; an allen Kreuzungsstellen von
Ring- und Strahlenbahnen befinden sich Umsteigebahnhöfe und auf den einzelnen
Strecken in kurzen Abständen Haltestellen. Dieses Radial-Peripheriesystem ermöglicht
also, z.B. von irgend einem Punkte im Südosten der Stadt mittels Straßenbahn oder
Automobil die nächste Haltestelle der Strahlenbahn zu erreichen, auf dieser bis zum
Zentralbahnhof zu gelangen, dort in eine z.B. nordwestliche Strahlenbahn umzusteigen
und so wieder mittels Straßenbahn die gewünschte Straße im Nordwesten zu erreichen.
Der Anschluß der Fernschnellbahn an dieses Stadtnetz geschieht nun in der Weise, daß
sie bis an den inneren Stadtring herangeführt wird (z.B. im Westen), diesem parallel
auf die Länge eines Halbkreises folgt und dann wieder (also im Osten) die Stadt
verläßt. An den beiden Abzweigstellen finden sich die Hauptfernbahnhöfe mit Anschluß
an die Kreuzungsbahnhöfe von Ring- und Strahlenbahn.
Das neue System zeichnet sich also durch große Einheitlichkeit aus, besitzt jedoch
neben vielen anderen den erheblichen Nachteil, daß ein fortwährendes Umsteigen
erforderlich ist,
da ein direkter Verkehr nur auf den großen Durchgangslinien (z.B.
Paris–Köln–Kassel–Berlin) stattfindet.
Wir kommen nun zu der technischen Durchführung des neuen Systems, und da gelangt Scherl zu dem richtigen Schluß, daß für die Schnellbahn
der Zukunft das heutige Zweischienengleis unverwendbar ist und nur eine
Einschienenbahn in Betracht kommen kann. Mit Recht werden die Behrsche sogen. Einschienenbahn, die eigentlich eine
Fünfschienenbahn, sowie die Tunisbahn, die mit ihren oberen Führungen auch eine
Zwei-bzw. Dreischienenbahn ist, als unechte Einschienenbahnen verworfen.
Unbedingt anzufechten ist nun, was Scherl über die Schwebebahn als Einschienenbahn sagt, die er in 16 Zeilen
mit nichtssagenden Worten abtut. Die Schwebebahn ist eine echte Einschienenbahn, die
bekanntermaßen ganz besonders zur Ausbildung als Schnellbahn prädestiniert ist, und
wenn Scherl seine neue Einschienen-Standbahn als allein
seligmachend hinstellen will, dann hätte er zunächst eine eingehende sachliche
Untersuchung über die Unbrauchbarkeit der Schwebebahn geben müssen. Da dies
allerdings nicht so einfach ist, sagt er nur: „Die Schwebebahnen haben bisher
wenig Verbreitung gefunden. Sie kommen auch für die praktische Durchführung der
hier gegebenen neuen Gesichtspunkte nicht in Betracht, weil der Ausbau einer
Fernbahn als Schwebebahn infolge des allzu komplizierten Eisenbaues der Strecke
unwirtschaftlich werden müßte.“ Hieraus wird ohne weiteres die Randanmerkung
gefolgert: „Die Schwebebahn als Schnellbahn zukunftslos.“
Ferner heißt es: „Außerdem würde die heutige technische Ausführung der
Schwebebahnen wichtige Aenderungen erfahren müssen.“ Nun, das ist doch ganz
selbstverständlich und auch bei jedem anderen System der Fall.
Wenn Scherl aber sagt: „denn bei den hohen
Geschwindigkeiten, die gefordert werden, würden die beim Einfahren in die
Krümmungen und beim Verlassen derselben auftretenden Wagenschwingungen ganz
bedenkliche Größen annehmen, die unter Umständen das Fahren überhaupt vereiteln
könnten,“ so enthält das eine grobe Inkonsequenz, denn dieselben
Schwingungen treten in genau gleicherweise auch bei der Scherlschen Standbahn auf und die Mittel, mit denen Scherl dort die Schwingungen dämpft, können ebensogut
(oder noch besser) bei der Schwebebahn angewandt werden. Was übrigens den Hinweis
auf den „allzu komplizierten Eisenbau der Strecke“ bei der Schwebebahn und
deren hohe Kosten anbetrifft, so wird Herr Scherl wohl
selbst nicht glauben, daß seine Strecke weniger kompliziert und deren
Durchschnittskosten (also einschließlich der Bahnhöfe und Hochbahnstrecken in den
Städten) etwa niedriger seien.
Für sein neues System greift Scherl nun den Gedanken des
Engländers Brennan auf, der 1907 versuchte, das Modell
eines kleinen Einschienen-Standwagens mit Hilfe von Kreiselapparaten
auszubalancieren. Den Ausgangspunkt boten die Versuche mit dem Schlich-sehen SchiffskreiselD. P. J. 1908, Bd. 323 S. 350. an
dem 6000 t Seedampfer „Seebär“ (Kreiselgewicht 10 t), wobei die seitlichen
Schiffsschwingungen (das Rollen) bei schwerer See nahezu aufgehoben wurden.
Leider hat man über den kleinen Wagen von Brennan seit
1907 nicht viel mehr gehört, als daß er durch die gyrostatische Wirkung des Kreisels
zum Stehen gebracht wurde, aber nicht, wie er sich bei plötzlicher Einwirkung
seitlicher Kräfte (Wind) verhält. Ueber die Versuche, die in Deutschland
(insbesondere bei Lichterfelde) begonnen sein sollen, ist noch nichts Näheres
verlautet.
Der Gedanke, diese Stabilisierungsart auf große Einschienen-Eisenbahnwagen zu
übertragen, hat gewiß viel bestechendes. Leider liegen aber die Verhältnisse bei
einem Eisenbahnwagen wesentlich anders als bei einem Schiff, das für gewöhnlich
bereits durch seine Schwimmfähigkeit stabilisiert ist. Natürlich bietet es keine
Schwierigkeit, einen labilen Eisenbahnwagen mittels Kreisel zu stabilisieren, wenn
sein Eigengewicht bereits ausbalanciert ist, sein Schwerpunkt also in der
senkrechten Radebene liegt. Eine dauernde einseitige Belastung während der Fahrt
oder beim Ein- und Aussteigen wird jedoch auch durch die Kreisel nicht aufgehoben,
ebenso werden beim Ein- und Aussteigen die z.B. durch plötzliches Eintreten
zahlreicher Personen auf einer Wagenseite verursachten heftigen Schwingungen erst
nach einigem Pendeln genügend gedämpft sein. Auch ist es fraglich, ob die
gyrostatische Dämpfung bei plötzlichen seitlichen Orkanstößen rasch genug in
Tätigkeit tritt. Bei einem Schiff liegen die Dinge insofern günstiger, als die
Energie der Rollbewegungen, die nach Föppl selbst bei
einem großen Schiff nicht viel größer als die Energie eines in voller Fahrt
befindlichen Eisenbahnzuges ist, im Verhältnis zu dem Schiffsgewicht sehr klein
bleibt.
Die gyrostatischen Kreisel sollen wie die Wagenmotoren natürlich elektrisch betrieben
werden. Was dann geschieht, wenn bei plötzlicher Stromunterbrechung (durch Leitungs-
oder Zentralendefekt oder durch Stromabschneiden bei überfahrenem Blocksignal) die
Kreisel stillstehen, der Wagen also wieder labil
wird, darüber schweigt die Denkschrift und auch des Kritikers Höflichkeit.
Uebrigens ist es ein Irrtum, anzunehmen, der Scherlsche
Einschienenwagen könne nun selbst 300 m Kurven mit der vollen Geschwindigkeit von
200 km (stündlich) durchfahren. Selbst wenn das Unmögliche gelänge, ein zu weites
Kippen infolge der Zentrifugalkraft durch die Kreisel zu verhindern, würden die
mechanischen und physiologischen Einwirkungen auf die Reisenden das verbieten, denn
diese würden, da sie nicht starr mit dem Fahrzeug verbunden, in letzterem mit großer
Wucht auf die Seite geschleudert werden.
Man vermißt an dieser Stelle der Denkschrift ausführlichere Erläuterung der neuen
gyrostatischen Stabilisierungsart, zumal letztere das Lebenselement der
Einschienen-Standbahn bildet. Scherl glaubt, sich mit
der einfachen Mitteilung begnügen zu können, „daß das echte einschienige Fahrzeug
nunmehr tatsächlich vorhanden, das Mittel also bereit ist, die neue Organisation
in der Praxis erfolgreich durchzuführend“ Es werden wohl nicht allzuviele
hier in verba magistri schwören.
Die Einschienenwagen besitzen bei 30 m größter Länge eine Breite von 4 m; ein
Mittelgang teilt auf beiden Fensterseiten verschließbare Abteile zu je vier
Sitzplätzen mit fast 70 cm Platzbreite ab, so daß die Bequemlichkeit nichts zu
wünschen übrig läßt. Kopf- und Schlußwagen sind, wie die Denkschrift besonders
hervorhebt, zugeschärft. Die Zuschärfung ist aber nicht genügend, da bei
Geschwindigkeiten von 200 km in der Stunde der Luftdruck auf die obere vertikale
Wand des Führerstandes eine bedeutende Größe erreicht.
Jeder Zug soll eine abgeschlossene, in sich zusammenhängende Einheit bilden und zwar
sind normal Dreiwagenzüge vorgesehen. Auf größtmöglichste Bequemlichkeit ist
besonderer Wert gelegt, wenn das Vorhandensein eines Speisesaales, eines
Rauchsalons, von Schreibzimmer, Friseurraum, auf großen Durchgangsstrecken
sogar Gesellschaftszimmer mit Klavier usw. Zeugnis geben. Unserem sozialen
Zeitgeist entsprechend soll nur eine Wagenklasse geführt werden.
Den Luxus größter Raumverschwendung glaubt sich Herr Scherl leisten zu können, da er die Erhöhung des Zuggewichts für die
Wirtschaftlichkeit belanglos hält. Gewiß, wenn die Strecke immer annähernd
horizontal liefe, aber in den Steigungen über 10 v.T., die bei dem neuen System
besonders häufig sein werden, ist das überflüssige Zuggewicht von großem Einfluß auf
den Stromverbrauch und somit auf die Betriebskosten, abgesehen davon, daß die
Motoren eine erheblich größere, gering ausgenutzte Leistungsfähigkeit besitzen
müssen. Auch hängt der Luftwiderstand nicht allein von der Form der Spitze, sondern
ebenso von der Länge des Zuges ab.
Da die hohen Geschwindigkeiten selbstverständlich eine Kreuzung der Strecke durch
Straßen usw. verbieten und überhaupt eine scharfe Abgrenzung gegen die Umgebung
verlangen, ergibt sich die Führung als Hochbahn.
Für die freie Strecke entwirft Scherl gemauerte
Bahndämme (die mindestens 8 m hoch sein müssen) von 10 m Kronenbreite bei 5,5 m
Gleisabstand, die für jede Fahrtrichtung ein Einschienengleis tragen. In der Mitte
zwischen beiden Gleisen befindet sich eine 2,5 m breite und 1,5 tiefe Fahrrinne, in
der auf gewöhnlichem Zweischienengleis ein durch Benzinmotor oder Akkumulatoren
betriebener Revisionswagen verkehrt, von dem aus die Streckenbesichtigung bequem und
ohne Gefahr erfolgen kann.
Weiter oben führte Scherl diese Dämme als besonderen
Vorzug seines Systems gegenüber der „komplizierten Eisenkonstruktion der
Schwebebahn“ an, während er nun selbst hervorhebt, daß in den weitaus
meisten Fällen viel eher der Eisenkonstruktion vor dem Damm der Vorzug zu geben sei,
da „in schwierigem, hügligem Terrain häufig der Punkt erreicht wird, an dem ein
eiserner Viadukt sich billiger stellt als die Erdarbeiten zur Schüttung des
Bahndammes,“ und da ferner „die Eisenkonstruktion einen wesentlich
schmäleren Landstreifen beansprucht als der geschüttete Damm.“
Von einem „geschütteten“ Damm kann überhaupt keine Rede sein, denn geschüttete
Dämme von 8–12 m Höhe sind für Schnellbahnen wohl ein Unding. Da müßten sie schon
gemauert sein und dann würde das Land aus der Vogelsperspektive wie eine riesige
Dynamitfabrik aussehen, die bekanntlich durch ein Netz von Erddämmen in einzelne
abgeschlossene Felder geteilt sind.
Durchaus anzuerkennen sind die Ausführungen über die Anforderungen an die Sicherheit
der Züge, für die eine dreifache Streckensicherung (Blockstrecken mit Signalmeldung
direkt in die Führerstände, Rückmeldung zum Stellwerk und Stromabschneiden bei
Nichtbeachten des Signals) vorgesehen ist.
Hat man sich bis hierher durch die Denkschrift durchgearbeitet und wendet das Blatt
zum nächsten Abschnitt, so haftet das Auge überrascht auf den Bildern, die sich nun
bieten und ein leichtes „Donnerwetter“ bestätigt gewiß die Kühnheit der
Entwürfe. Wir sind nämlich am Clou der Denkschrift angelangt: In den Städten soll
das gesamte Bahnnetz – Stadt- wie Fernschnellbahnen – hoch über den Dächern als Lufthochbahn geführt werden! Und hier müssen wir
Herrn Scherl recht geben: Den Mut kann nur ein Laie
haben. Da sieht man die Dächer der Häuser, die übrigens zufällig alle gleich hoch
und oben flach sind, und wie Kamine ragen aus ihnen Betonklötze heraus, die die
Eisenpfeiler der Hochbahn tragen. Da sieht man Straßenbilder, auf denen hoch
oben von Haus zu Haus mächtige eiserne Fachwerkbrücken über die Straße springen und
riesige leichtgeschwungene Brücken, die in Haushöhe über Wasserläufe führen.
Technisch ist es natürlich möglich, die Tragpfeiler der Lufthochbahn durch die Häuser
zu legen, wenn auch nicht in der in der Skizze angegebenen Weise, nach der sie als
hohle Kastenpfeiler in das Treppenhaus der Wohnhäuser eingebaut werden und sogar in
ihrem Innern eventuell noch die Fahrstuhlanlage des Hauses aufnehmen sollen. Aber
was dann, wenn die Pfeiler anstatt durch das Treppenhaus z.B. mitten durch Herrn Scherls Schlafzimmer gehen (in welchem Falle sich Herr
Scherl übrigens überzeugen würde, daß die
Geräuschlosigkeit und Erschütterungsfreiheit seiner Einschienenbahn trotz der
angeführten Schutzmaßregeln durchaus nicht so ideal ist, wie er annimmt). Jedenfalls
ist die Führung über die Dächer nur dann überhaupt möglich, wenn die sämtlichen in
der Bahntrasse liegenden Häuser angekauft und neu aufgebaut werden!
Wir können daher diesen verblüffenden Clou, alle größeren Städte über den Dächern mit
einem regelrechten Netz von Hochbahnen, gleichviel welchen Systems, zu überziehen,
ruhig zu den utopischen Phantasien legen, schon allein im Hinblick auf die ganz
unnennbaren Anlagekosten.
Eigenartige Ausbildung erfahren die Bahnhöfe, die dem Grundsatz gerecht werden, den
Reisenden aus dem ebenerdigen Vestibül, nachdem er seine Fahrkarte gelöst und sein
Gepäck aufgegeben, mechanisch bis an seinen Zug zu befördern und umgekehrt.
Erreicht wird dies durch die Einführung eines neuen Verkehrselementes, der Kabine,
die hier die Form und Größe eines D-Wagens besitzt, nur mit dem Unterschied, daß ihr
Inneres einen ungeteilten Sammelraum mit Sitzen an den Längsseiten bildet. Diese 30
m lange Kabine fährt von dem Bahnhofsvestibül mittels Aufzug auf den bei
Innenstadtbahnhöfen oft im fünften Stockwerk eines Warenhauses gelegenen Bahnsteig
und legt sich direkt an den Mittelwagen des ankommenden bzw. abfahrenden Zuges.
Durch die beiden Seitentüren an den Wagenenden treten dann die Reisenden aus der
Kabine in den Zug über, während gleichzeitig alle Aussteigenden des Zuges durch eine
breite Mitteltüre aus dem Zug in die Kabine übertreten, womit das heutige
Durcheinanderströmen der Zu- und Abgehenden wirksam vermieden wird. Die Idee dieser
Kabinenbeförderung ist gewiß originell, doch abgesehen von mancherlei
Betriebsschwierigkeiten werden die hohen Anlage- und besonders Betriebskosten eine
allgemeine Durchführung dieses Systems auf allen Bahnhöfen verbieten.
Zur Erzielung der Kontinuität soll im neuen System der Betrieb in einem bestimmten
Rhythmus eingeführt werden, d.h. die Haltestellen in gleichem Abstand liegen und die
Züge in gleichen Zeitintervallen fahren. Die Strecke soll demgemäß in Abschnitte von
etwa 20 km Länge geteilt und die Stationen ohne Rücksicht auf die Bedeutung
anliegender Ortschaften, sondern lediglich als Betriebsstationen zur Kreuzung mit
den Querlinien des Nebenbahnnetzes, demnach eventuell auch auf freiem Felde angelegt
werden, die Stationen sollen also äquidistant liegen. Ferner sollen die Züge in
konstanten Zeitintervallen laufen, zu welchem Zweck ein starrer Fahrplan mit
Zwischenräumen von z.B. 10, 15, 20, 30 Minuten Abständen vorgeschlagen wird.
Da nun das Anhalten nach jeden 20 km oft überflüssig ist, weil die
Nebenbahnanschlüsse keine so häufige Bedienung erfordern, so soll der Betrieb
interferierend geführt werden, wie dies zweckmäßig an dem Beispiel eines
Schnellbahnfahrplans Berlin-Hamburg erläutert wird. Die Strecke Berlin–Hamburg (280
km) besitzt alle 20 km eine Streckenstation zum Anschluß an die Nebenbahnnetze. Der
Verkehr erfolge in halbstündlichen Intervallen, die Züge halten jedoch nicht auf
jeder Station, sondern der erste Zug- hält nur auf der 2., 4., 6., 8., 10. und 12.
Station, überspringt also je eine Zwischenstation, während der nächste eine halbe
Stunde später abgehende Zug die von dem vorhergehenden übersprungenen Stationen,
also die 1., 3., 5., 7., 9., 11. und 13. Station bedient und die übrigen
überspringt. Der nächste Zug hält dann wieder wie der erste an den geraden
Stationen, so daß die beiden Endstationen Berlin und Hamburg, in halbstündlichem
Verkehr stehen, während die Streckenstationen nur jede Stunde an einen
Schnellbahnzug angeschlossen sind. Befinden sich hier zwei Züge in Interferenz, so
kann der Fahrplan ebenso mit drei Zügen in Interferenz ausgebildet werden, so daß
also erst jeder dritte Zug wieder an derselben Zwischenstation, d.h. in Zeiträumen
von 1½ Stunden hält.
Dieses Betriebssystem bedingt ein peinlich genaues ununterbrochenes Ineinandergreifen
aller Haupt- und Nebenanschlüsse, wie es selbst bei bester Organisation und
idealstem Betriebe niemals vollständig möglich sein wird.
Auch ist es nicht richtig, die Stationen äquidistant zu legen, das wäre nur dann
zulässig, wenn die Strecke keine größeren Steigungen und scharfen Krümmungen
besitzt, d.h. wenn von der Anfangs- bis zur Endstation die volle Geschwindigkeit
ständig gefahren werden könnte. Bei der Bestimmung der Stationsabstände müßte
jedenfalls auf gewisse Eigenschaften der Elektromotoren Rücksicht genommen und die
Stationen eher in zeitlich gleiche Abstände gelegt werden.
Im letzten Teil der Denkschrift läßt Scherl als
wirtschaftliche und soziale Ausblicke die gewaltigen Segnungen vor dem geistigen
Auge vorüberziehen, die die Durchführung des neuen Systems der Zivilisation, der
Gesamtheit des Volkes und jedem einzelnen gewähren würde. Er zeigt, wie die
Entfernungen auf die Hälfte der heutigen zusammenschrumpfen, wie der Verkehr in
Deutschland zu einem einheitlichen Lokalverkehr würde, da man z.B. von Berlin aus
die entferntesten Städte Deutschlands in wenig mehr als 4 Stunden erreichen kann.
Die Entfernung Berlin–Köln schrumpft von heute 8½ Fahrstunden auf 3½, die
Berlin–München von 10½ auf 4 Stunden und Berlin–Wien von 13½ auf 5½ zusammen.
Mit diesen allgemeinen Vorschlägen und Gesichtspunkten begnügt sich die Scherlsche Denkschrift. Dies könnte ihr zum Lobe
gereichen, wenn Scherl nicht mehr als ganz flüchtige
Richtlinien für eine rationelle Gesundung des heutigen Verkehrswesens hätte geben
wollen. Aber da er ein bestimmtes in manchem genau und gut durchgearbeitetes eigenes
System vorlegt und zur Kritik dieses seines Systems auffordert, muß ihm zum Vorwurf
gemacht werden, daß er keinerlei Beweis für eine wirtschaftliche
Durchführungsmöglichkeit, wenigstens an einem Teilbeispiel, gegeben hat.
Hätte Herr Scherl diesen Beweis versucht, dann wäre er
sicher vor diesen Zahlen erstarrt und hätte schleunigst etwas anderes,
aussichtsvolleres organisiert. Denn an eine Verzinsung ist bei den gewaltigen
Anlagesummen des neuen Systems nicht zu denken.
Faßt man den Wert der Scherlschen Denkschrift zusammen,
so kann man zugestehen, daß sie mit ihrer energischen Geißelung der Schäden unseres
Eisenbahnwesens und dem Nachweis von Richtlinien, von Wegen, auf denen eine
wirkliche Besserung zu erzielen ist, nicht vergeblich geschrieben wurde. Scherl wird das Verdienst bleiben, weiteste Kreise und
besonders auch die Eisenbahnverwaltungen wieder einmal nachdrücklich aufgerüttelt zu
haben, und es ist nicht ausgeschlossen, daß die zweifellos vorhandenen Bestrebungen
an den maßgebenden Stellen zu einer gründlichen Verbesserung des Eisenbahnverkehrs
durch die Scherlsche Denkschrift günstig beeinflußt
werden, so daß diese immerhin einen praktischen Wert erlangt.
Das neue Scherlsche System als solches muß trotzdem im
großen und ganzen abgelehnt werden, einmal wegen der unglaublich hohen Kosten, die
eine auch nur geringe Verzinsung ausgeschlossen erscheinen lassen und sodann wegen
zahlreicher technischer Mängel, die im System begründet sind und zwar sowohl in der
Organisation des Netzes (die insbesondere von dem falschen Grundsatz ausgeht, daß
Steigungen ohne wesentlichen Einfluß, daher die Netzlinien ohne Rücksicht auf die
Geländeverhältnisse möglichst gradlinig zu führen sind) als auch technisch in dem
neuen Unterbau- und Wagensystem.