Titel: | Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten. |
Autor: | Hans A. Martens |
Fundstelle: | Band 325, Jahrgang 1910, S. 292 |
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Bremsung bei Zügen mit
Hochgeschwindigkeiten.Eine ausführliche
Darstellung findet sich in dem in Heft 7 dieses Jahrganges besprochenen Buche
des Verfassers.
Von Eisenbahn-Bauinspektor Dr.-Ing. Hans A.
Martens.
Bremsung bei Zügen mit Hochgeschwindigkeiten.
Bei gleicher Bremswirkung wachsen die Bremswege bei Erhöhung der
Fahrgeschwindigkeit annähernd mit dem Quadrat der Geschwindigkeiten. Die
Betriebssicherheit, deren wichtigste Stützen die Bremswirkung und das Signalwesen
sind, fordert einen zulässigen Größtwert des Bremsweges, der im wesentlichen von der
Signalfernsichtbarkeit abhängt. Die Sicherung von Gefahrpunkten durch Haltesignale,
deren Stellung dem Zuge auf Strecken mit hohen Fahrgeschwindigkeiten durch
Vorsignale vorbereitend auf möglichst große Entfernung angezeigt werden soll, beruht
auf der Bedingung: Bremsweg aus voller Fahrt größer oder mindestens gleich
Fernsichtbarkeit des Haltesignals. In der Regel ist die Entfernung des Hauptsignals
vom Vorsignal gleich dem Notbremsweg unter der Annahme, daß bei unsichtigem Wetter
die Warnstellung des Vorsignals „Vorbereitung auf Halt am Hauptsignal“ erst
im letzten Augenblick bei Vorbeifahrt am Vorsignal erkannt wird. Diese Entfernung
beginnt in dem Maße, wie die Fahrgeschwindigkeit immer höhere Werte annimmt,
nicht mehr genügenden Schutz zu bieten: Die Notbremswege werden größer als sie, so
daß Ueberfahren des Haltsignals zu befürchten ist, wenn jener ungünstigste Fall des
dichtesten Nebels eintritt. Das nächstliegende Mittel, den Abstand des Vorsignals
vom Hauptsignal zu vergrößern ist das einfachste, führt aber bezüglich des
Fernantriebes mittels Drahtzug zu Schwierigkeiten. Ein Ausweg ist das elektrisch
gesteuerte Vorsignal mit Kohlensäureantrieb, deren große Beschaffungs- und
Unterhaltungskosten sich bei großer Anzahl derartiger Vorsignale wirtschaftlich
ungünstig fühlbar machen müssen. Man versucht daher in den letzten Jahren die
Betriebssicherheit schnellfahrender Züge hauptsächlich auf dreierlei Art zu erhöhen:
durch
1. Verbesserung der Fernsichtbarkeit der Signale, insbesondere des Vorsignals.
2. Unterstützung der Signale durch besondere Einrichtungen, welche die Annäherung an
ein Signal erkennen lassen oder seine Stellung auf dem Lokomotivführerstand (cab
signal) anzeigen.
3. Kräftigere Bremswirkung.
Die Bestrebungen zu 1. laufen daraus hinaus, an Stelle der Scheibensignale mit
Wendescheibe am Tiefmast, die schlecht fernsichtbar sind, Flügelsignale einzuführen.
Die Wendescheiben als Hauptsignale werden auf den Bahnen, wo sie bis in die jüngste
Zeit noch bestanden, laufend ausgewechselt gegen Flügelsignale. Flügel-Vorsignale
wenden an: England, Belgien, Holland, Dänemark, Italien, Amerika. Die Ueberlegenheit
des Flügelsignals am Hochmast gegenüber einem Scheibensignal am Tiefmast ist
unbestreitbar. Nur wenige Beobachtungsfahrten auf der Lokomotive zeigen klar, daß
das Flügel-Hauptsignal, das 500 m und mehr gegen das Vorsignal zurückliegt (vom
fahrenden Zuge aus gesehen), auf gerader Strecke in der Regel auf weit größere
Entfernung sichtbar ist als das Scheibenvorsignal; in Haltstellung ist ersteres auf
etwa 1500 bis 2000 m, letzteres auf 300 bis 500 m sichtbar. Selbst bei leicht
düsigem Wetter ist das Hauptsignal noch auf rund 1000 m zu sichten, während das
wegen seiner Tieflage in dichteren Nebelschichten befindliche Vorsignal mit meist
dunklem Hintergrund kaum auf 200 m sichtbar wird. Die Verwaltungen, die noch immer
zäh festhalten am Scheiben-Vorsignal – deutsche Eisenbahnen, österreichische und
schweizerische Eisenbahnen – gehen des großen Vorzuges der Fernsichtbarkeit eines
Flügel-Vorsignals verlustig, zu dem überzugehen es nicht allzu schwierig ist. Der
oft erhobene Einwand, daß Haupt- und Vorsignal dann nicht in den Tagsignalbildern
ausreichend unterschieden seien, läßt sich durch ein geschickt ausgebildetes
ErkennungszeichenEine Lösung gibt
z.B. das Flügel-Vorsignal mit Erkennungsscheibe, D. R. G. M. 355601, des
Verfassers. am Vorsignal entkräften.
Die Studienarbeiten, die Signalgebung an den fahrenden Zug aufrechtzuerhalten, selbst
dann noch, wenn alle noch so sinnreich erdachten Signale den Dienst versagen, d. i.
bei unsichtigem Wetter, haben ein ganz neues, für sich abgeschlossenes Gebiet im
Sicherungswesen herausgebildet. Hochgestellte Forderungen haben seit längerer Zeit
dazu verführt, Einrichtungen zu erdenken und zu erproben, bei denen der Grundsatz
größter Einfachheit die allein ständige verläßliche Wirkung verbürgt, verloren
gegangen ist. Am einfachsten erschienen Sichtwände längs der Strecke, in bestimmter
Entfernung vor den Signalen aufgestellt, die als Signalankündiger dienen. Ihre
Brauchbarkeit hängt allein von einer genügenden Längenausbildung ab, um auch bei den
höchsten Fahrgeschwindigkeiten ausreichende Sichtlänge (3 bis 5 Sek.) für den
Lokomotivführer zu bieten, damit ein Uebersehen bei üblicher Aufmerksamkeit in der
Streckenbeobachtung so gut wie ausgeschlossen erscheint. Als geschickte Form einer
Sichtwand möchte Verfasser den Signalankündiger bezeichnen, den er auf holländischen
Bahnen zu beobachten Gelegenheit hatte. Die Sichtwand ist in drei Teile zerlegt, die
in kurzen Abständen einander folgen. Die Flächen der Wand sind weiß gestrichen, zur
Wagerechten geneigt und schräg ansteigend angeordnet, so daß die mittlere Fläche
etwa in Augenhöhe des Lokomotivführers liegen mag.
Von größter Bedeutung für die Betriebssicherheit bleibt jedoch die Bremswirkung des
Zuges. Seit Jahren richten sich die bremstechnischen Arbeiten darauf, den Bremsweg
auch bei Hochgeschwindigkeiten – darunter Geschwindigkeiten von 100 km/Std. und mehr
verstanden – in den Grenzen der jetzt üblichen Bremswege aus Fahrgeschwindigkeiten
von 80 bis 90 km/Std. zu halten. Es soll nachstehend untersucht werden, welches das zu
erstrebende Ziel der Bremstechnik ist und mit welchen Mitteln es erreicht werden
kann. Vorauszuschicken ist, daß auch die Verbesserung der Bremswirkung geleitet
sein muß von dem Streben, die Bauart der Bremse nicht vielteiliger zu
machen.
Die Betrachtung wird zweckmäßig ihren Ausgang nehmen bei den jetzigen
Geschwindigkeitsverhältnissen im Bremsabschnitt. Aus zahlreichen Beobachtungen an
fahrplanmäßigen Zügen leitet Verfasser nachstehende Mittelwerte für die Bremswege
und Bremsverzögerungen ab. Wer sich je mit einer Reihe derartiger Beobachtungen
beschäftigt hat, dem wird die Gleichförmigkeit der
Zugfahrt, die einen so sprechenden Beweis für die gleichmäßige gute
Schulung und Durchbildung des Lokomotivpersonals führt, nicht entgangen sein:
Anfahr- und Bremsabschnitte gleichen sich in ihren Geschwindigkeitszuständen unter
denselben Bedingungen bezüglich der Strecke, Zugstärke und Lokomotivgattung fast auf
das Genaueste, Dauergeschwindigkeiten unterwegs weisen auf denselben
Streckenabschnitten praktisch belanglose Unterschiede von nur wenigen km/Std. auf. Es
steht daher außer Frage, daß beobachtete Werte – sofern sie den Mittelwert einer
großen Anzahl darstellen – als Festwerte von praktischer Brauchbarkeit, wenn auch
nicht mathematischer Genauigkeit gelten.
Bei einer Streckengeschwindigkeit von 85 km/Std. wird ein Bremsweg von 630 bis 560 m bei einer
mittleren Bremsverzögerung von 0,45 bis 0,5 m/Sek.2 von geübten
Führern erreicht. Die Bremszeit beträgt dabei rund 60 Sek. Der mittlere Bremsweg
heutiger Schnellzüge ist aber bei Betriebsbremsung zu 600 m anzunehmen. Die Werte
rechnen vom Ansetzen der Bremse bis zum Zugstillstand. In Wirklichkeit tritt jene
über den ganzen Bremsweg konstant gedachte Verzögerung nicht auf, was aber
bedeutungslos ist für einen Wert, der nur einen Vergleichsmaßstab für die Bremsung
darstellen soll. Unter dieser Bewertung des Verzögerungswertes gelten die einfachen
mechanischen Grundgesetze für die gleichförmig veränderliche Bewegung: Die
Zeit-Geschwindigkeitskurve des Bremsabschnitts ist eine Gerade. Die Formeln
lauten:
s=p\,\frac{t^2}{2}=\frac{v^2}{2\,p},
t=\frac{v}{p}.
s = Bremsweg in m; t =
Bremszeit in Sek; p = Bremsverzögerung in m/Sek.2.
Die nachfolgende Zusammenstellung, deren Bremswerte aus
s=\frac{v^2}{2\,p} errechnet sind, gibt einen guten
Ueberblick über die Bremswege bei verschiedenen Verzögerungswerten aus
Geschwindigkeiten von 30 bis 120 km/Std., abgestuft von 10 zu 10 km/Std.
Bremswege.
Fahrgeschwin-digkeit in
Bremsverzögerung in m/sec3
km/Std.
m/Sek.
0,2
0,4
0,5
0,6
0,7
0,8
1,0
1,2
120
33,33
2770
1380
1110
930
790
690
560
460
110
30,56
2340
1170
940
780
670
590
470
340
100
27,78
1930
970
770
640
550
480
390
320
90
25
1560
780
630
520
450
390
310
260
80
22,22
1230
620
493
410
350
310
250
210
70
19,44
940
470
380
310
270
240
190
160
60
16,67
700
350
280
230
200
170
140
120
50
13,89
480
240
190
160
140
120
100
80
40
11,11
310
150
120
100
90
80
60
50
30
8,33
170
90
70
60
50
40
40
30
Die Befürchtung, den Bahnsteig zu „überfahren“, d.h. nicht an der
vorschriftsmäßigen Stelle den Zug zum Stillstand zu bringen, veranlaßt den weniger
geübten Lokomotivführer, hohe Streckengeschwindigkeiten zunächst durch eine kräftige
Bremsung auf 55 bis 65 km zu ermäßigen, dann die Bremsung wieder aufzuheben, um aus dieser
ermäßigten Geschwindigkeit den Zug mit Sicherheit am Bahnsteig zum Stillstand zu
bringen. Dadurch wächst der Bremsweg auf rund 700 m, während die mittlere
Verzögerung durch das Bremsen in zwei Absätzen auf 0,4 m/Sek.2
sinkt. Bei noch höheren Fahrgeschwindigkeiten wird dies Bremsen in zwei Absätzen –
nicht zu verwechseln mit dem stufenweisen Verstärken der Bremswirkung durch
wiederholten Luftauslaß aus der Hauptbremsleitung bei Luftdruckbremsen – die Regel
werden. Die Bremswege werden bis 800 m steigen und voraussichtlich auch darüber
hinausgehen.
Bei Schnellbremsung (Not- oder Gefahrbremsung) betragen die mittleren Verzögerungen
in der Regel 0,7, unter günstigen Umständen 0,8 m/Sek.2.
Die Notbremswege, die in ihrer Länge bei Versuchsfahrten, noch mehr aber bei Zügen
des planmäßigen Dienstes, meist sehr von einander abweichen, sind bei
Geschwindigkeiten von 85 bis 100 km/Std. zwischen 350 und 550 m anzunehmen. Notbremswege
von 700 bis 800 m aus höheren Geschwindigkeiten gehören aber nicht zu den
Seltenheiten unter ungünstigen Witterungsverhältnissen (Reif, Laubfall), und bei
sehr abgenutzten Bremsen.
Mit den gleichen Verzögerungswerten (0,5 bis 0,4) würden sich bei 120 km/std.
Betriebsbremswege von 1110 bis 1380 m, Schnellbremswege (Verzögerung 0,8 bis 0,7)
von 700 bis 800 m ergeben. Versuchsfahrten lehren, daß diese Werte mit der normalen
Westinghouse-Bremse meist nicht innegehalten werden
können, sondern bis zu 1000 m ansteigen können. Die neuzeitliche Bremstechnik hat
sich daher die Aufgabe gestellt, durch eine kräftiger wirkende Bremse den Bremsweg
selbst bei Hochgeschwindigkeiten auf den Werten von 500 bis 600 m zu halten. Es sind
sogenannte Schnellbahnbremsen entworfen, gebaut und erprobt worden, die den
gleichbleibenden Bremsdruck verlassen und mit einem veränderlichen Bremsdruck
arbeiten, der gemäß der veränderlichen Reibungsvorzahl zwischen Rad und Bremsklotz
mit abnehmender Fahrgeschwindigkeit ebenfalls sich selbsttätig vermindert. Dadurch
ist es gelungen, mit höherem Anfangsdruck bei Hochgeschwindigkeiten beginnen zu
können, so daß in der Tat auf den Versuchsfahrten eine bessere Bremswirkung erzielt
worden ist. Bei Schnellbremsungen konnten mittlere Verzögerungen von rund 1 m/Sek.2 aus 120 km erreicht werden; die Bremswege sind
gegen die der normalen Westighouse-Bremse um rund 30 v.
H. bei bei den Versuchszügen – wohlverstanden nicht bei Zügen des planmäßigen
Dienstes – ermäßigt worden. Aber es ist trotz mehrjähriger Versuche doch noch nicht
gelungen, stets die gleichen Werte zu erzielen und dabei die Bremsung so verlaufen
zu lassen, daß Zugtrennungen sicher vermieden werden. Die Bauart der Bremse aber ist
erheblich vielteiliger geworden, so daß ihre Beschaffungs- und Unterhaltungskosten
sich nicht unwesentlich vergrößern werden. Auch ist der Beweis der
Betriebstüchtigkeit einer Schnellbahnbremse im Dauerbetriebe noch nicht erbracht
worden, weil die bisherigen Versuche zu einem solchen noch nicht ermutigt haben.
Bemerkenswert ist der Höchstwert der Verzögerung, der theoretisch möglich ist. Er
wird durch folgende Ueberlegung ermittelt: Die Verzögerungskraft eines Zuges, dessen
sämtliche Achsen gebremst werden, ergibt sich aus den Gleichungen:
Verzögerungskraft = Zugmasse × Verzögerung.
P = M . p.
Die Verzögerungskraft ist gleich dem Produkt aus Zuggewicht × Reibungswertziffer:
P = G. f.
Aus beiden Gleichungen folgt, wenn M=\frac{G}{10} gesetzt
wird:
p = 10 . f.
Mit dem äußersten Reibungswert f = 0,24 wird der
Größtwert der möglichen Verzögerung
pmax =
2,4 m/Sek.2.
Es liegen nun zwei Fragen vor, die bezüglich der Bremswirkung, ganz unbekümmert um
Forderungen des Betriebsdienstes, zu beantworten sind:
1. Welche Bremsverzögerungen dürfen mit Rücksicht auf die Reisenden und auf
Materialbeanspruchung der Fahrzeuge und des Oberbaues höchstens angewendet
werden?
2. Welche Bremsverzögerungen sind durch eine Bremsbauart zu erreichen, die von der
Westinghouse-Bremse nur wenig abweicht, d.h. nicht
wesentlich vielteiliger ist?
Die Behandlung der ersten Frage gibt die erste Grundlage für die Bauart der Bremse.
Dem Verfasser sind keine Abhandlungen in der einschlägigen Fachliteratur bekannt,
die die Einwirkung von Verzögerungskräften auf den Menschen eingehend beleuchten.
Beim Bremsen eines Eisenbahnzuges werden die Reisenden durch Trägheitskräfte
beansprucht, die nach vorwärts in der Fahrtrichtung in einer Größe wirksam werden,
die sich aus dem Produkt Masse × Verzögerung berechnen läßt. Diese Kräfte werden vom
Reisenden subjektiv als Zug nach vorwärts empfunden. Es ist selbstverständlich, daß
die Trägheitskraft eine bestimmte Höchstgrenze nicht überschreiten darf, die um so
niedriger liegen wird, je plötzlicher sie auftritt; denn eine auf einen Stoß nicht
vorbereitete Person kann diesem weniger Widerstand gegen Umstürzen entgegenstellen,
als eine Person, die eine Stoßkraft erwartet oder wenn die Stoßkraft allmählich
anwächst. Das Unvorbereitetsein ist bei den Reisenden vorauszusetzen. Die unbewußt
vom Körper auszuübende Gegenkraft durch Zurücklehnen des Körpers, oder mechanisch
gesprochen durch andere Wirkung des Körpereigengewichts mittels
Schwerpunktverschiebung, kann in solchem Falle nicht schnell genug dem
Verzögerungsdruck das Gleichgewicht halten: Der Mensch strauchelt oder stürzt gar
um. Es muß also, um Verletzungen der Reisenden, die erfahrungsgemäß vor
Haltstationen in großer Anzahl nicht mehr sitzen, sondern stehend sich zum
Aussteigen bereit machen, zu vermeiden, die Entwicklung des Verzögerungsdruckes
allmählich, wenn auch nach Bruchteilen von Sekunden rechnend, vor sich gehen und
darf nur getrieben werden bis zu einem Grenzwert, der wohl als lästiger Gegendruck
empfunden werden mag, aber doch nicht im Stande ist, die Menschen umzuwerfen. Beide Faktoren, die Entwicklungsdauer und der Grenzwert des
Trägheitsdruckes, gleichbedeutend mit der Verzögerung, stellen also eine
wichtige Grundlage der Bremsbauart und Wirkung dar.
Für die physiologischen Funktionen des Körpers im vorliegenden Fall sind dem
Verfasser weder Versuche noch Zahlenwerte, welche die reziproke Betätigung von
Muskeln und Nerven behandeln, bekannt geworden. Daß diese nicht augenblicklich ist,
wenn ihr Verlauf auch nur nach kleinsten Bruchteilen von Sekunden rechnet, ist
bekannt. Andererseits kann nicht mit Sicherheit darauf gerechnet werden, daß die
Entwicklungsdauer der Verzögerung von Null bis zum zulässigen Höchstwert durch noch
so sinnreich erdachte Bremsapparate in allen Wagen des Zuges der theoretischen
Grundlage genau entsprechen wird. Ein mehr oder weniger plötzliches Einsetzen der
Verzögerung wird also namentlich bei schärferen Bremsungen die Regel bleiben und
daher bei Bemessung des Verzögerungsgrenzwertes in Rücksicht zu ziehen sein. Für Notbremsungen
in Gefahrfällen können natürlich Entwicklungsdauer und Verzögerung höhere Werte
annehmen, da ja ihr Nutzen im Verhältnis zu den etwaigen, doch nur immer gering
bleibenden Verletzungen der Reisenden infolge der hohen Werte bei der Verzögerung
nicht hoch genug bewertet werden kann.
Der Verzögerungsdruck ist im Schwerpunkt des menschlichen Körpers angreifend zu
denken, wo er sich mit der senkrecht abwärts wirkenden Schwerkraft zu einer
Mittelkraft zusammensetzt, die um so mehr von der Senkrechten abweicht, je größer
ersterer ist. Trifft diese Mittelkraft außerhalb des von den Füßen eingenommenen
Raumes, so stürzt der Mensch um, falls er sich nicht durch Zurücklegen des Körpers
schützt oder irgendwo gegenstützt; das Zurücklehnen ist soweit angängig, als die
Senkrechtabweichung der Mittelkraft der Reibungswinkel der Stiefelsohlen der Person
am Fußboden nicht überschreitet; diesen kann man nach Skutsch zu 15° schätzen. Dementsprechend wäre eine Größtverzögerung
zulässig, die sich ergibt aus:
\mbox{tg }15^{\circ}=\frac{M\,.\,p}{M\,.\,g}
p = g .
tg 15° = rd 2,5 m/Sek.2.
Es fragt sich nun, ist der dieser Verzögerung entsprechende
Trägheitsdruck, dessen Auftreten fast augenblicklich möglich ist, ohne Gefahr der
Verletzung für die Reisenden zulässig oder liegt der Grenzwert tiefer und wie
bestimmt er sich einwandfrei? Zu bemerken ist noch, daß der eben ermittelte
Höchstwert für die Verzögerung annähernd mit dem übereinstimmt, den überhaupt mit
einer Eisenbahnbremse zu erzeugen möglich ist.
Für die weitere Untersuchung soll ein Körpergewicht von 65 kg vorausgesetzt werden,
für das die Massenkräfte die aus nachstehender Tabelle ersichtlichen Werte
annehmen.
Die vom Reisenden subjektiv empfundene Wirkung dieser Massenkräfte kann nicht besser
studiert werden, als wenn man am eignen Körper ihren Einfluß auf die eingene
Standfestigkeit und das Wohlbefinden prüft und erprobt. Diese Versuche lassen sich
im fahrenden Zuge systematisch kaum ausführen, da die gewünschten Verzögerungsstufen
in unveränderlicher Größe von beliebiger Dauer nicht erzeugt werden können, die
Versuchsperson vielmehr ständig wechselnden Verzögerungen unterworfen sein würde, so
daß brauchbare Versuchsergebnisse nicht zu erwarten wären. Deshalb wurde die
Wirkung der Massenkräfte an einer eigens zu diesem Zweck gebauten Vorrichtung
beobachtet.
Verzögerunginm/Sek2
Verzögerungsdruck in
Abweichung derMittelkraft vonder
Senkrechtenin Grad
kg
BruchteilenvonKörpergewicht
0,4
2,2
\frac{1}{29,5}
2
0,6
3,9
\frac{1}{16,7}
4
0,8
5,2
\frac{1}{12,5}
5
1,0
6,5
\frac{1}{10}
6
1,2
7,8
\frac{1}{8,4}
7
1,4
9,1
\frac{1}{7,2}
8
1,6
10,4
\frac{1}{6,3}
9
1,8
11,7
\frac{1}{5,6}
10
2,0
13,0
\frac{1}{5,0}
11
2,5
16,3
\frac{1}{4,0}
15
Auf einer 1,45 m über dem Fußboden in zwei Böcken gelagerten Welle ist ein
Winkelhebel mit einem 740 mm langen wagerechten mit 370 mm langen senkrechten
Schenkel drehbar angeordnet. Der Hebel ist bezüglich seines Eigengewichts
ausgewuchtet. Auf dem wagerechten Schenkel ist ein Laufgewicht verschiebbar
angeordnet, mittels dessen die Trägheitskräfte nachgeahmt werden. Das untere Ende
des senkrechten Armes legt sich mit einem gerundeten Querstück in Schwerpunkthöhe an
den Körper der Versuchsperson an. Der Winkelhebel ist in der Ruhelage an einer Kette
aufgehängt, die entweder ruckartig ausgelöst oder allmählich nachgelassen werden
kann.
(Schluß folgt.)