Titel: | ÜBER DAS AUSKNICKEN STABFÖRMIGER KÖRPER. |
Autor: | Otto Mies |
Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 178 |
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ÜBER DAS AUSKNICKEN STABFÖRMIGER
KÖRPER.
Von Otto Mies,
Charlottenburg.
MIES: Ueber das Ausknicken stabförmiger Körper.
Inhaltsübersicht.
Erläuterung der Knickerscheinungen bei achsialer und nicht
achsialer Kraftrichtung bezw. ursprünglich schwach gekrümmter Stabachse an dem
Beispiel des an beiden Enden geführten und belasteten Stabes. Die Knickbedingung für
beliebig gelagerte und belastete Stäbe. Definition der Knicksicherheit.
––––––––––
1. Ein gerader prismatischer Stab von vollkommen homogenem Material werde durch ein
im Gleichgewicht befindliches System von Kräften, das im übrigen nach Lage, Richtung
und Größe der Einzelkräfte beliebig ist, durchgebogen, ohne daß die Spannungen dabei
an irgend einer Stelle die Elastizitätsgrenze überschreiten. Dabei nähern sich die
Endpunkte der Stabachse einander. In diesem Zustande werde der Stab zwischen zwei
unbewegliche spitze Stützen gebracht, deren Entfernung voneinander gerade gleich dem
Abstand der Endpunkte der durchgebogenen Stabachse ist (Fig. 1). Dabei sollen die Spitzen der Stützen je einen Endpunkt der
Stabachse berühren. Entfernt man jetzt das die Biegung hervorrufende Kräftesystem,
so wird der Stab das Bestreben haben, sich wieder geradezurichten und die beiden
Stützen mit zwei untereinander im Gleichgewicht stehenden Kräften P auseinanderzudrücken.
Textabbildung Bd. 327, S. 177
Fig. 1.
Die Größe dieser Kräfte ist, solange es sich um hinreichend kleine Durchbiegungen und
um Beanspruchungen des Stabes unterhalb der Elastizitäts- bezw.
Proportionalitätsgrenze handelt, von der Größe der Durchbiegungen unabhängig, was
sich folgendermaßen zeigen läßt. Bedeuten x und y Abszisse und Ordinate der elastischen Linie des
Stabes (Fig. 1), 5 deren Bogenlänge und p den Krümmungsradius an der Stelle x, y, so gilt für die Krümmung der Kurve
\frac{1}{\rho}=\frac{\frac{d^2\,y}{d\,x^2}}{\left(\frac{d\,s}{d\,x}\right)^3}
. . . . . 1)
Zwischen der Krümmung \frac{1}{\rho}, dem Biegungsmoment Mb, dem in Frage
kommenden Trägheitsmoment J des Stabquerschnittes und
dem Elastizitätsmodul E seines Materials besteht die
bekannte Beziehung
\frac{1}{\rho}=\frac{M_b}{E\,J}.
In unserem Falle ist, indem man dasjenige Biegungsmoment positiv in Rechnung setzt,
welches positive Krümmung hervorruft, Mb = – P . y,
so daß sich findet
\frac{\frac{d^2\,y}{d\,x^2}}{\left(\frac{d\,s}{d\,x}\right)^3}=-\frac{P}{E\,J}\,y
. . . . 2)
Je flacher die elastische Linie verläuft, desto mehr nähert sich
\frac{d\,s}{d\,x} dem Wert 1. Vernachlässigt man bei
schwachen Biegungen den Unterschied zwischen ds und dx, d.h. in Gleichung 2 neben unendlich kleinen
Durchbiegungen unendlich kleine Größen dritter und höherer Ordnung, so hat man
\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=-\frac{P}{E\,J}\,y,
und daraus mit
\left{{m=\frac{P}{E\,J}\ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \ \
\ \ \ \ \ \ \ \ \
}\atop{y=\frakfamily{A}\,\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,x+\frakfamily{B}\,\mbox{cos}\,\sqrt{m}\,x}}\right\}\
.\ .\ .\ .\ 3)
als Gleichung der elastischen Linie des zwischen die Stützen geklemmten
Stabes. Dazu kommen die Grenzbedingungen
y = 0 für x = 0 und x = l,
woraus folgt
0=\frakfamily{B}
0=\frakfamily{A}\,\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,l.
\frakfamily{A} bedeutet die größte Durchbiegung des Stabes, die
von der Entfernung der Stützen abhängig, jedenfalls aber nicht gleich Null ist. Es
muß also sein
\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,l=0
oder
\sqrt{m}\,l=k\,.\,\pi
P=k^2\,\pi^2\,\frac{E\,J}{l^2} . . . . 4)
Die Kraft, mit der der Stab auf die Stützen drückt, ist also die sogen. Eulersche Knickkraft und, wie behauptet, innerhalb der
angegebenen Grenzen von der Durchbiegung unabhängig. Die elastische Linie des Stabes
geht in eine Sinuskurve über. Der Faktor k gibt die
Anzahl der halben Wellen an, welche die Sinuslinie zwischen den Stützen bildet.
Dieselbe ist durch das System der ursprünglich den Stab verbiegenden Kräfte und die
Art bedingt, wie dieselben rückgängig gemacht wurden. Die kleinste Kraft P entsteht bei k = 1 in dem in Fig. 1 dargestellten Falle. Sie werde mit Pk bezeichnet.
Denkt man sich jetzt die bisher unbeweglichen Stützen auf ihrer Verbindungsgeraden
verschieblich, so werden Stab und Stützen bei jedem mit dem Belastungszustand
verträglichen Durchbiegungszustand des Stabes, unabhängig von der Größe der
Durchbiegungen, im Gleichgewicht sein, wenn jede Stütze von außen mit einer Kraft
P von der durch Gleichung 4 gegebenen Größe
festgehalten wird. Dieses Gleichgewicht ist demnach indifferent. Sind die von außen
auf die Stützen wirkenden Kräfte kleiner als P, so
drückt der Stab die Stützen zurück und richtet sich gerade; sind sie größer, so
findet der Stab in keiner Durchbiegungslage Gleichgewicht, die Durchbiegungen
vergrößern sich, so daß schließlich die Voraussetzungen der Rechnung nicht mehr
erfüllt sind, indem entweder die Elastizitätsgrenze überschritten oder die
Krümmungen so groß werden, daß nicht mehr \frac{d\,s}{d\,x}=l
gesetzt werden darf.
Zusammenfassend kann man also sagen: Ein gerader prismatischer Stab aus homogenem
Material, der durch in der Verbindungslinie der Endpunkte seiner Achse wirkende
Druckkräfte belastet ist, wird, nachdem er durch irgend welche vorübergehend
auftretende äußere oder innere Kräfte verbogen wurde, sich
wieder geraderichten, wenn die Druckkräfte kleiner als die Eulersche Knickkraft sind, in
irgend einem Durchbiegungszustand, der von den die Verbiegung einleitenden
Kräften und der Art ihrer Entfernung abhängt, verharren, wenn die Druckkräfte gleich
der Knickkraft sind, und sich über jedes zulässige Maß
durchbiegen, wenn die Druckkräfte größer als die Knickkraft sind. Alles das
gilt nur bei Spannungen unterhalb der Elastizitäts- bezw. Proportionalitätsgrenze
und solange die Krümmungen der elastischen Linie noch gering sind.
Dieses einfache Verhalten eines geraden Stabes ist manchem Mißtrauen begegnet.
BauschingerBauschinger, Zerknickungsversuche. Mitteilungen
aus dem mechanisch-technischen Laboratorium der Kgl. Techn. Hochschule in
München, 1837, 15. Heft, S. 21. sagt darüber: „Aber es ist
schwer einzusehen, warum ein Stab, der unter Belastungen, welche unter jener
Grenzesc. die Eulersche Knickkraft. liegen,
gerade geblieben ist, nun plötzlich nach Ueberschreitung der Grenze sich biegen,
und daß diese Biegung dann auch sogleich so rasch fortschreiten soll, daß der
Bruch oder die völlige Durchbiegung erfolgt.“ Dabei übersieht er offenbar,
daß ein gerader homogener Stab unter achsialer Belastung, auch wenn die Kräfte
größer als die Eulersche Knickkraft sind, sich erst
durchzubiegen imstande ist, nachdem die Biegung durch andere Kräfte eingeleitet ist.
Solange solche Kräfte nicht auftreten, wird der Stab auch durch Druckkräfte, die
größer als die Eulersche Knickkraft sind, nur
zusammengedrückt werden können. Aber er befindet sich unter ihrer Wirkung in einem
labilen Gleichgewichtszustande. Denn auch die kleinste zufällig hervorgerufene
Durchbiegung kann nicht wieder rückgängig gemacht werden, sondern vergrößert sich
durch die Wirkung der Druckkräfte unaufhaltsam: der Stab knickt.
Bei ClebschClebsch, Theorie der Elastizität fester Körper,
1862, S. 407. findet sich der Satz: „Es kann also Biegung
auftreten, und zwar jede beliebige, die Säule kann in unendlich viel
verschiedenen Krümmungen ihr Gleichgewicht finden. Dies Resultat ist so offenbar
absurd, daß es wunderbar erscheinen kann, wenn man dasselbe eher auf alle Weise
sich annehmbar zu machen gestrebt hat, statt den Grund eines solchen Resultats
in dem Nächstliegenden zu suchen, in einer falschen Voraussetzung.“ Warum
das Resultat „absurd“ sein soll, ist freilich nicht einzusehen. Es ist ja nur
nötig, daß die Stabachse in eine elastische Linie übergeht, deren Krümmung an jeder
Stelle ihrer Ordinate proportional ist, wie es bei flachen Sinuskurven sehr
angenähert der Fall ist.
Vorsichtiger drückt sich GrashofGrashof, Theorie der
Elastizität und Festigkeit, 1878, S. 168. aus: „Das Ergebnis
der vorhergehenden Untersuchung, daß in allen Fällen erst bei bestimmter Größe
der äußeren Kraft P irgend eine Biegung des Stabes
möglich wird, daß aber, wenn P diesen Wert hat, die
Größe der Biegung unbestimmt bleibt, erscheint so auffallend, daß es von
Interesse ist, zu prüfen, ob und inwiefern dieses Ergebnis etwa nur von den
Ungenauigkeiten der Entwicklung herrührt.“
2. Es ist ohne weiteres klar, daß die im vorigen Artikel angestellte Untersuchung,
die streng nur für unendlich kleine Durchbiegungen gilt, über den Zusammenhang
endlicher Durchbiegungen mit der Belastung nichts Zuverlässiges aussagen kann. Schon
Lagrange, der sich zuerst nach Euler mit dem Problem der Knickung beschäftigte,Lagrange, Sur la figure des colonnes, Miscellanea
Taurinensia, Tom. V. 1770 bis 73, S. 123. hat durch Integration
der genauen Gleichung für die Krümmung des Stabes (Gleichung 2) diesen Zusammenhang
festgestellt. Es findet sich nämlich aus Gleichung 2 durch Multiplikation mit dy und Integration
\frac{1}{2}\,\frac{P}{E\,J}\,y^2-\frac{d\,x}{d\,s}=\mbox{
konst.,}
und hieraus mit Hilfe der Grenzbedingung
y = f für dy = 0 oder ds = dx,
wo f die größte Durchbiegung des
Stabes bezeichnet,
\frac{1}{2}\,\frac{P}{E\,J}\,(f^2-y^2)=\left(1-\frac{d\,x}{d\,s}\right)
oder, mit
m=\frac{P}{E\,J} und
d\,x=\sqrt{d\,s^2-d\,y^2}
d\,s=\frac{d\,y}{\sqrt{m\,(f^2-y^2)-\left(\frac{m}{2}\right)^2\,(f^2-y^2)^2}}.
Mit dem Ansatz y = f . sin φ
folgt
d\,s=\frac{d\,\varphi}{\sqrt{m-\left(\frac{m}{2}\right)^2\,f^2\,\mbox{cos}^2\,\varphi}}.
wozu die Grenzbedingungen
φ = 0 bezw. = kπ für s = 0 bezw. = l
hinzukommen. Die zweite Integration erfolgt nach
Reihenentwicklung, indem man schreibt
d\,s=\frac{d\,\varphi}{\sqrt{m}}\,\left[1+\frac{1}{2}\,\left(\frac{m}{4}\right)\,f^2\,\mbox{cos}^2\,\varphi+\frac{3}{2\,.\,4}\,\left(\frac{m}{4}\right)^2\,f^4\,\mbox{cos}^4\,\varphi+\frac{3\,.\,5}{2\,.\,4\,.\,6}\,\left(\frac{m}{4}\right)^3\,f^6\,\mbox{cos}^6\,\varphi+.\
.\ .\ .\right],
woraus nach Entwicklung der Kosinuspotenzen in Ausdrücke mit
Kosinus der Vielfachen von φ, welche nach Integration
durch Anpassen an die Grenzbedingungen verschwinden, mit Hilfe der zweiten
Grenzbedingung folgt
l=\frac{k\,.\,pi}{\sqrt{m}}\,\left[1+\frac{1}{4}\,\left(\frac{m}{4}\right)\,f^2+\frac{9}{4\,.\,16}\,\left(\frac{m}{4}\right)^2\,f^4+\frac{9\,.\,25}{4\,.\,16\,.\,36}\,\left(\frac{m}{4}\right)^3\,f^6+.\
.\ .\ .\right] . . . . . 5)
Wendet man diese Gleichung auf den zwischen zwei Stützen geklemmten Stab (Fig. 1) an, so findet sich, da die größte Ausbiegung
f der Stabachse nicht gleich Null ist,
l\,>\,\frac{k\,\pi}{\sqrt{m}}
oder, im Gegensatz zu Gleichung 4
P\,>\,k^2\,\pi^2\,\frac{E\,J}{l^2} . . .
. 6)
Die Kraft, mit der der Stab auf die Stützen drückt, ist also streng genommen nicht
von der Durchbiegung unabhängig, sondern um so größer, je größer die Durchbiegungen
sind. Sie nähert sich aber bei abnehmender Durchbiegung dem durch Gleichung 4
angegebenen Wert als untere Grenze. Das Anwachsen der Druckkräfte ist jedoch
innerhalb der technisch interessierenden Größen der Durchbiegungen so gering,Ueber die Konvergenz der Reihe: Gleichung 5,
vergl. Grashof, a. a. O. Art. 116, S.
171. daß die im vorigen Artikel gegebenen Erklärungen für die
technischen Bedürfnisse hinreichend genau sind. Um dies an einem Beispiel zu
erläutern, ist in Fig. 2 die Abhängigkeit der als
Ordinate aufgetragenen Druckkraft P von den als
Abszissen gezeichneten größten Durchbiegungen f eines 1
m langen Flußeisenstabes mit kreisförmigem Querschnitt von 1 cm ∅ dargestellt. Für
die im Art. 1 behandelte Annäherung ergibt sich die Gerade
P=\pi^2\,\frac{E\,J}{l^2}=96,9 kg, in der Figur mit ab bezeichnet; dieselbe kennzeichnet die Unabhängigkeit
der Durchbiegungen von der wirkenden Druckkraft. Demgegenüber stellt die flache
Kurve ab' den der strengen Untersuchung entsprechenden
Zusammenhang zwischen Durchbiegungen und Druckkräften dar. Dieselbe findet sich aus
der Lösung von Gleichung 5 nach f, welche für k = 1
lautetVergl. hierzn: Schneider, Zur Theorie der Knickfestigkeit,
Zeitschr. d. Österreich. Ing.- und Arch.-Vereins 1901, S. 633.Ueber eine angenäherte Berechnung von f siehe H.
Lorenz, Bemerkungen zur Eulerschen Knicktheorie, Zeitschr. d. Ver. deutscher Ing. 1908, S.
827.
\frac{m}{4}\,f^2=4\,\lambda-9\,\lambda^2+\frac{31}{2}\,\lambda^3-\frac{185}{8}\,\lambda^4+\frac{507}{16}\,\lambda^5\
.\ .\ .\ .
wo
\lambda=\frac{\sqrt{m}\,l}{\pi}-1.
Textabbildung Bd. 327, S. 179
Fig. 2. Vergleich der angenäherten und genauen Theorie.
Damit sich die Kurve deutlich von der Geraden abhebt, ist der Maßstab der Kräfte sehr
groß gewählt. Das Anwachsen der Druckkräfte mit den Durchbiegungen ist so gering,
daß im Punkt c schon eine Spannung von 3000 kg/qcm
herrscht, nachdem die Druckkraft sich um nicht viel mehr als 1 v. T. vergrößert
hat.
Zusammenfassend kann man die Ergebnisse der strengen Untersuchung folgendermaßen
kennzeichnen: Solange die Druckkräfte kleiner sind als die Eulersche Knickkraft, befindet der Stab sich im stabilen Gleichgewicht.
Sind die Druckkräfte größer als die Knickkraft, so ist der Stab im geraden Zustand
im labilen Gleichgewicht. Eine zufällige beliebig kleine Verbiegung kann nicht
wieder rückgängig gemacht werden, sondern wird sich unter Wirkung der Druckkräfte
notwendigerweise vergrößern. Nachdem dieselbe jedoch eine bestimmte Größe erreicht
hat, findet der
Stab wieder eine stabile Gleichgewichtslage, indessen in den technisch
interessierenden Fällen auch bei geringen Ueberschreitungen der Eulerschen Knickkraft erst bei so großen Durchbiegungen,
daß die Ueberschreitung der Proportionalitätsgrenze zu befürchten ist. Die im
vorigen Artikel gegebenen Erklärungen treffen demnach bei technisch verwendeten
Stäben durchweg mit genügender Genauigkeit zu. Im folgenden soll nur von solchen
Stäben die Rede sein.
3. Es ist klar, daß eine experimentelle Bestätigung der geschilderten Erscheinungen
nur annäherungsweise möglich ist, wobei die Annäherung um so besser ist, je genauer
die Voraussetzungen der Rechnung, nämlich Homogenität des Stabmaterials,
Geradlinigkeit der Stabachse sowie deren Zusammenfallen mit der Kraftrichtung,
erfüllt sind. Man wird sich demnach zu fragen haben, welche Folgen kleine
Abweichungen von den Voraussetzungen nach sich ziehen.
Textabbildung Bd. 327, S. 180
Durchbiegungen in der Mitte eines exzentrisch belasteten Stabes.
Es läßt sich ohne weiteres einsehen, daß jede der genannten Abweichungen für sich
bewirkt, daß der Stab sich schon unter einer beliebig kleinen Druckkraft krümmt. Von
dem besonderen Gleichgewichtszustande des Stabes bei gerader Stabachse, der bisher das Kriterium der Knickkraft ergab, läßt
sich hier nicht mehr sprechen. Es ist also zu untersuchen, ob es in diesem Falle
überhaupt noch eine Knickkraft gibt, und wie sie gegebenenfalls zu definieren
ist.
Es sei zunächst angenommen, daß die Druckkräfte an den Enden des Stabes in einer
Symmetrieebene desselben, parallel zur Stabachse, in einer Entfernung e von derselben wirken (Fig. 3). Dann findet
sich aus der Differentialgleichung der elastischen Linie des schwach gekrümmten
Stabes
\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=-P\,(y+e)
mit
m=\frac{P}{E\,J}
als Gleichung der elastischen Linie
y+e=\frakfamily{A}\,\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,x+\frakfamily{B}\,\mbox{cos}\,\sqrt{m}\,x,
woraus durch Anpassen an die Grenzbedingungen
y = 0 für x = 0 und x = l
folgt
y=e\,\left(\frac{1-\mbox{cos}\,\sqrt{m}\,l}{\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,l}\,\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,x-1\right)
. . . . 7)
Diese Gleichung stellt die Abhängigkeit zwischen der Druckbelastung P des Stabes und der Durchbiegung an beliebiger Stelle
dar. Man erkennt leicht, daß y = 0 ist, wenn P = 0, und daß y = ∞, wenn
P=k^2\,\pi^2\,\frac{E\,J}{l^2}, d.h. gleich der Eulerschen Knickkraft ist. Die letztere Beziehung hat
jedoch keine physikalische Bedeutung, da Gleichung 7 nur für schwache Biegungen
physikalisch gültig ist. Man kann aus ihr zunächst nur folgern, daß der Stab schon
unter einer Belastung, die kleiner ist als die Eulersche
Knickkraft große Durchbiegungen erfährt vorausgesetzt, daß er nicht schon vorher
über die Proportionalitätsgrenze hinaus beansprucht ist. Insofern ist in diesem
Falle die Eulersche Knickkraft nichts weiter als eine –
freilich sicher angebbare – obere Grenze für die gefährliche Belastung des
Stabes.
Aus Gleichung 7 erhält man für die Durchbiegung f in der
Stabmitte mit
\varphi=\frac{l}{2}\,\sqrt{m}
f=e\,\left(\frac{1}{\mbox{cos}\,\varphi}-1\right) 7a)
Diese Beziehung ist in Fig. 4 dargestellt. Es
folgt aus ihr, daß mit von Null anwachsender Druckbelastung auch die Durchbiegungen
wachsen, zuerst langsam, dann schneller, um schließlich bei
\varphi=\frac{\pi}{2} d.h. wenn P gleich der Eulerschen Knickkraft ist,
unendlich groß zu werden. Man erkennt, daß der Stab unter jeder Belastung, die
kleiner als die Eulersche Knickkraft ist, sich im
stabilen Gleichgewicht befindet, daß der Grad der Stabilität aber mit wachsender
Belastung immer kleiner wird.Ueber die
experimentelle Veranschaulichung des Grades der Stabilität gedrückter Stäbe
vergl. Sommerfeld, Eine einfache Vorrichtung zur
Veranschaulichung des Knickungsvorganges, Zeitschr. des Vereins deutscher
Ingenieure, 1905, S. 1320. Für größere Druckbelastungen als die
Eulersche Knickkraft gibt es zwar auch noch
Gleichgewichtslagen des Stabes, dieselben sind jedoch labil. Man kann also einen
Stab mit exzentrischer Druckbelastung nicht dadurch stabilisieren, daß man eine
Durchbiegung nur im Sinne der Exzentrizität verhindert. Der Stab befindet sich
vielmehr schon unter einer Druckbelastung, die nur wenig größer als die Eulersche Knickkraft ist, im labilen Gleichgewicht,
sobald seine Durchbiegung entgegen dem Sinne der Exzentrizität durch irgend eine
Ursache die Größe e der Exzentrizität überschritten
hat.
In Fig. 4a ist für den hauptsächlich interessierenden
Bereich von \varphi=0\ .\ .\ .\ .\ \frac{\pi}{2} für zwei
verschiedene Exzentrizitäten nach der Gleichung 7a der Zusammenhang der
Durchbiegungen und Druckbelastungen durch zwei Kurven l
und m dargestellt. Die Kurven verlaufen ähnlich wie der
entsprechende Ast der Kurve in Fig. 4 und schmiegen
sich, je kleiner die Exzentrizität ist, um so enger der für den Eulerschen Fall geltenden Ecke oab (s. Fig. 2) ein.
Textabbildung Bd. 327, S. 181
Fig. 4a. Durchbiegungskurven bei exzentrischer Druckkraft bezw. ursprungl.
Krümmung.DurchbiegungU = Ursprüngliche Durchbiegung.
Um zu ermitteln, bis zu welchem Punkt diese Kurven physikalische Bedeutung haben,
kann man Kurven gleicher Spannung in Fig. 4a
einzeichnen, da ja Durchbiegung und Druckkraft bei gegebener Exzentrizität die
Spannung eindeutig bestimmen. Diese Kurven gleicher Spannung sind Hyperbeln.Prandtl, Die
richtige Knickformel, Zeitschr. des Vereins deutscher Ingenieure, 1900, S.
1132. Ihrer sind in Fig. 4a zwei,
r und q, je eine für
eine kleine und eine große Spannung, zur Durchbiegungskurve m gehörig, eingezeichnet. Die Spannung an einer bestimmten Stelle der
Durchbiegungskurve wird durch die dort schneidende Spannungshyperbel angegeben.
Demnach können die Durchbiegungskurven nur bis zu dem Punkte physikalische Bedeutung
haben, in dem sie von der für die Proportionalitätsgrenze gezeichneten
Spannungshyperbel geschnitten werden.
Unter Umständen sind sie aber schon vorher physikalisch bedeutungslos geworden,
nämlich dort, wo die Durchbiegung so groß wird, daß man nicht mehr von einer schwach
gekrümmten Stabachse sprechen kann. Wäre z.B. r–r in Fig. 4a die zur
Proportionalitätsgrenze gehörige Spannungshyperbel, so wäre die Kurve m bis zum Punkt A gültig,
da in diesem Punkt noch kleine Durchbiegungen herrschen. Man erkennt, daß in diesem
Fall die Druckspannungen für den Stab gefährlich werden und von einer eigentlichen
Knickung nicht die Rede sein kann. Läge jedoch die Proportionalitätsgrenze des
Stabmaterials so hoch, daß q–q die zugehörige Spannungshyperbel ist, so ist die Kurve m bis zum Punkt B gültig,
wenn der Stab sich dort noch in schwach gekrümmtem Zustand befindet. In diesem Falle
könnte man auch jetzt noch von Knickung sprechen, da die geringe Stabilität des
Stabes für die Gefährlichkeit seines Belastungszustandes kennzeichnend ist. Eine
bestimmte Knickkraft aber läßt sich jetzt nicht mehr angeben.
Die der Einfachheit halber für zur ursprünglichen Stabachse parallele Kräfte
entwickelten Erscheinungen werden prinzipiell nicht dadurch beeinflußt, daß man
allgemeiner annimmt, daß die Kräfte einen kleinen Winkel mit der Achse
einschließen.Föppl, Vorlesungen über technische Mechanik, III. Band, 2 Aufl.,
S. 364. Ganz ähnliche Kurven ergeben sich auch für die
Durchbiegungen ursprünglich nicht ganz gerader Stäbe.Föppl, Vorlesungen
über technische Mechanik, III. Band, 2. Aufl., S. 369. Nur gehen
diese nicht mehr durch den Nullpunkt des Koordinatensystems, sondern schneiden auf
der Abszissenachse die ursprüngliche Durchbiegung aus (Kurve n in Fig. 4a).
Wie sich der Stab schließlich bei Inhomogenität des Materials verhält, läßt sich
natürlich nur unter Zugrundelegung bestimmter Annahmen über die Art der
Inhomogenität untersuchen. Immerhin kann man schließen, daß nicht zu grobe
Ungleichheiten des Materials in gewissen Grenzen ähnliche Folgen haben wie
Exzentrizität des Kraftangriffs und ursprüngliche Krümmung des Stabes. Wenn man also
in solchen Fällen, wo kleine Abweichungen von den Voraussetzungen sicher oder
wahrscheinlich sind, trotzdem die Knicklast aus der Eulerschen Formel bestimmt, so
hat man im Auge zu behalten, daß die Knickgefahr des Stabes stets schon bei einer
Kraft vorhanden ist, welche kleiner als die berechnete Knickkraft ist, und diesen
Umstand bei der Wahl des Sicherheitsgrades zu berücksichtigen.
(Fortsetzung folgt.)