Titel: | ÜBER DAS AUSKNICKEN STABFÖRMIGER KÖRPER. |
Autor: | Otto Mies |
Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 216 |
Download: | XML |
ÜBER DAS AUSKNICKEN STABFÖRMIGER
KÖRPER.
Von Otto Mies,
Charlottenburg.
(Schluß von S. 201 d. Bd.)
MIES: Ueber das Ausknicken stabförmiger Körper.
7. Es soll nun gezeigt werden, daß die Ergebnisse des Artikels 5 auch dann noch
gültig bleiben, wenn die Stabachse von vornherein eine schwache, sonst aber
beliebige Krümmung besitzt. Es liegt in der Natur der Aufgabe, daß hier von einem
Gleichgewichtszustand des Stabes bei gerader Stabachse nicht die Rede sein kann. Es
zeigt sich aber, daß der Einfluß einer kleinen ursprünglichen Krümmung ähnlich ist
wie derjenige der schon besprochenen Abweichungen von den strengen
Voraussetzungen.
Bezeichnet man mit \frac{1}{\rho_0} die ursprüngliche Krümmung der
Stabachse an einer Stelle mit der Abszisse x, die nach
der Biegung dort entstehende Krümmung mit \frac{1}{\rho}, so
besteht für irgend einen Ast der elastischen Linie, dessen Ordinaten y von der Richtungslinie der dort wirkenden Druckkraft
P gemessen werde, die Beziehung
\frac{1}{\rho}-\frac{1}{\rho_0}=-\frac{P}{E\,J}\,y,
wobei vorausgesetzt werden soll, daß die Kraft P ihre Richtung während der Knickung nicht ändert.
\frac{1}{\rho_0} kann man sich für den betrachteten Ast der
elastischen Linie als stetige Funktion f(x) von x gegeben denken,
und zwar in der Form einer Fourierschen Reihe, so daß man
schreiben kann
f\,(x)=\Sigma\,a_k\,\mbox{sin}\,k\,\frac{x}{s}+\Sigma\,b_k\,\mbox{cos}\,k\,\frac{x}{s}\,(k=0,\
1,\ 2\ .\ .\ .\ \infty)
wo die Werte a, b und s von der ursprünglichen Form der Stabachse abhängige Konstante bedeuten.
Dann ergibt sich als Differentialgleichung der elastischen Linie
E\,J\,\frac{d^2\,y}{d\,x^2}=-P\,.\,y+f\,(x),
p woraus nach Integration mit
m=\frac{P}{E\,J} folgt
y=\frakfamily{A}\,\mbox{sin}\,\sqrt{m}\,x+\frakfamily{B}\,\mbox{cos}\,\sqrt{m}\,x+F\,(x,),
wo
F(x)=\Sigma\,{a_k}'\,\frakfamily{sin}\,k\,\frac{x}{s}+\Sigma\,{b_k}'\,\mbox{cos}\,k\,\frac{x}{s}\,(k=0,\
1,\ 2\ .\ .\ .\ \infty)
und
{a_k}'=\frac{a_k}{P-k^2\,P_k},\
{b_k}'=\frac{b_k}{P-k^2\,P_k}
ist, wenn P_k=\frac{E\,J}{s^2} gesetzt
wird.
Aus diesen Gleichungen der einzelnen Aeste der elastischen Linie ergibt sich unter
Berücksichtigung der Grenzbedingungen ein System linearer Gleichungen, aus dem in
bekannter Weise die Knickbedingung gewonnen wird. Dieselbe unterscheidet sich nicht
von derjenigen, welche man für ursprünglich gerade Stabachse findet. Die linearen
Gleichungen sind jedoch hier nicht homogen, da beim Einführen der Grenzbedingungen
die Funktionen F (x) von
den Unbekannten freie Glieder ergeben. Es folgt also, was ohne weiteres einzusehen
war, daß der Stab sich schon unter der geringsten Belastung weiterkrümmt. Für ein
Kräftesystem, welches die Knickbedingung erfüllt, werden die Durchbiegungen
rechnungsmäßig unendlich groß.
Die Ergebnisse ändern sich nicht, wie man sich leicht überzeugt, wenn die
Druckkräfte P während der Knickung in irgend einer
gegebenen Weise ihre Lage und Richtung ändern.
8. Wird ein Stab durch zwei Kräfte auf Knickung beansprucht, so ist, da beide Kräfte
des Gleichgewichts wegen gleich groß sind, eine einzige Größe: „die
Knickkraft“ kennzeichnend für die Grenze zwischen dem stabilen und dem
labilen Gleichgewichtszustand des Stabes. Das Verhältnis der Größe dieser Kraft zu
der im normalen Zustand oder Betriebe an ihrer Stelle wirkenden Kraft wird der
Sicherheitsgrad gegen Knicken genannt. Dieser gibt das Vielfache an, um welches sich
die im normalen Zustand wirkende Kraft vergrößern kann, ehe der labile
Gleichgewichtszustand erreicht wird.
Beansprucht aber eine beliebige Anzahl von n Kräften den
Stab auf Knickung, so erscheint die Knickbedingung – nach Elimination der als
Auflagerkraft zu betrachtenden Druckkraft mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingung –
als eine Gleichung zwischen n – 1 Kräften, für die es
also unendlich viele Lösungen gibt. Erreichen die n – 1
Kräfte gleichzeitig die Größen, welche irgend einer Lösung entsprechen, so tritt
Knickung auf. Dabei beträgt die Größe einer jeden der die Knickung mitbewirkenden
Kräfte ein bestimmtes Vielfache der Größe derjenigen Kraft, welche im normalen
Betriebe ein ihrer Stelle wirkt. Man kann also in bezug auf jede der Kräfte von
einem Sicherheitsgrad sprechen, so daß einem bestimmten, die Knickung
herbeiführenden Belastungsfall n – 1 Sicherheitsgrade
der einzelnen Kräfte entsprechen. Von diesen ist der größte für das Eintreten der
Knickung insofern charakteristisch, als er das größte Vielfache angibt, das eine der n – 1 Kräfte
erreicht haben muß, ehe die Knickung eintritt. Man kann ihn daher als den
Sicherheitsgrad der Konstruktion gegen Knickung gegenüber dem bestimmten
Belastungsfall, bezeichnen. Bei den unendlich vielen Belastungsfällen, welche
möglich sind, wird der so definierte Sicherheitsgrad im allgemeinen verschiedene
Werte annehmen. Die Gefahr der Knickung liegt am nächsten bei demjenigen
Belastungsfall, bei welchem dieser Wert ein Minimum wird, so daß man diesen
Kleinstwert folgerichtig als den Sicherheitsgrad der Konstruktion schlechtweg zu
bezeichnen hat.
Die weitere Untersuchung werde auf eine bestimmte Art von Belastungen beschränkt,
welche in der Praxis meistens vorliegt. Man denke sich ein beliebiges System von
Kräften gegeben, welches die Knickbedingung erfüllt und alle Kräfte in demselben
konstant gehalten bis auf zwei beliebige. Verkleinert man die eine dieser beiden
veränderlichen Kräfte, so ist die Knickbedingung nicht mehr erfüllt. In vielen
Belastungsfällen erhält man jetzt wieder ein System von Kräften, welches die
Knickbedingung erfüllt, wenn man die zweite der veränderlichen Kräfte in geeigneter
Weise vergrößert.
Für diese Eigenschaft der Lösungen der Knickbedingung erhält man folgendes
mathematische Kriterium. Die zwischen den Knickkräften P1 bis Pn – 1 bestehende Knickbedingung sei
F (P1, P2, P3.....Pn – 1) = 0.
Dann ist
\frac{\partial\,F}{\partial\,P_1}\,d\,P_1+\frac{\partial\,F}{\partial\,P_2}\,d\,P_2+\frac{\partial\,F}{\partial\,P_3}\,d\,P_3+\
.\ .\ .\ +\frac{\partial\,F}{\partial\,P_{n-1}}\,d\,P_{n-1}=0 . . . .
. . 17)
Nach dem soeben Gesagten muß für zwei beliebige Kräfte Pi und Pk unter der
Voraussetzung, daß die übrigen Kräfte konstant sind, die Beziehung
\frac{d\,P_i}{d\,P_k}\,<\,0 . . . . . .
18)
bestehen. Es ist dann aber
\frac{\partial\,F}{\partial\,P_i}\,d\,P_i+\frac{\partial\,F}{\partial\,P_k}\,d\,P_k=0,
d.h.
\frac{d\,P_i}{d\,P_k}=-\frac{\frac{\partial\,F}{\partial\,P_k}}{\frac{\partial\,F}{\partial\,p_i}},
woraus mit Gleichung 18 folgt
\frac{\frac{\partial\,F}{\partial\,P_k}}{\frac{\partial\,F}{\partial\,P_i}}\,>\,0,
d.h. die Knickbedingung hat die gekennzeichnete Eigenschaft,
wenn alle ihre partiellen Ableitungen nach den Kräften gleiches Vorzeichen
haben.
Bei einem Belastungsfalle der gekennzeichneten Art kann man von einem die
Knickbedingung erfüllenden Kräftesystem zu einem ebensolchen benachbarten nur unter
Vergrößerung mindestens einer der Kräfte übergehen, d.h.
unter Vergrößerung mindestens einer der Sicherheiten
gegenüber den einzelnen Kräften. Man kann also von demjenigen Kräftesystem, für
welches die Sicherheiten gegenüber den einzelnen Kräften alle dieselbe Größe
\frakfamily{s} besitzen, zu keinem anderen gelangen, bei dem
nicht mindestens ein Sicherheitsgrad größer als \frakfamily{s}
ist. Daraus folgt, daß
\frakfamily{s}
der kleinste Sicherheitsgrad aller möglichen Systeme von
Knickkräften, d.h. der Sicherheitsgrad der Konstruktion schlechtweg
ist.
Besitzen die partiellen Ableitungen der Knickbedingung nicht für beliebige Systeme
von Knickkräften gleiches Vorzeichen, so kann zwar unter Umständen auch jetzt der
vorhin definierte Wert von \frakfamily{s} der Sicherheitsgrad der
Konstruktion sein, doch nimmt derselbe unter Umständen einen kleineren oder größeren
Wert als g an, worauf indes hier nicht näher eingegangen werden soll.
9. Der zahlenmäßige Wert des im vorigen Artikel definierten Sicherheitsgrades, der
bei der Ermittlung der Abmessungen irgend einer Konstruktion auf Grund spezieller
Ueberlegungen und Erfahrungen zu wählen ist, ist an bestimmte Grenzen gebunden. Nach
unten darf er den Wert 1 nicht unterschreiten, während seine obere Grenze aus der
Bedingung hervorgeht, daß in keinem Stabquerschnitt die Druckspannungen zu Beginn
der Knickung die Elastizitäts- bezw. Proportionalitätsgrenze überschritten haben
dürfen, da die abgeleiteten Beziehungen nur unter der Voraussetzung von Proportionalität
zwischen Dehnungen und Spannungen gültig sind.
Bedeutet σp die
Proportionalitätsgrenze der Druckspannungen, F die
Größe eines Stabquerschnitts, P die auf denselben
wirkende Druckkraft, \frakfamily{s} den Sicherheitsgrad gegen
Knicken und \frakfamily{s}_P den Sicherheitsgrad gegenüber dem
Anwachsen der Druckspannungen bis zur Proportionalitätsgrenze, so ist
\frakfamily{s}_p\,.\,P\,=\sigma_p\,.\,F
\frakfamily{s}\,.\,P=\varphi^2\,\frac{E\,J}{l^2},,
da sich nach dem Vorhergegangenen für die Knickkraft stets
eine Beziehung von der Form
P_k=\varphi^2\,\frac{E\,J}{l^2}
findet, wo l die Länge des
betrachteten Stabteiles bedeutet. Setzt man J = F i2, so folgt
\frac{\frakfamily{s}}{\frakfamily{s}_p}=\varphi^2\,\frac{E}{\sigma_p}\,\frac{1}{(l/1)^2},
d.h.
\frakfamily{s}\,<\,\frakfamily{s}_p wenn
\frac{l}{i}\,>\,\varphi\,\sqrt{\frac{E}{\sigma_p}}.
Die Sicherheit \frakfamily{s} erreicht demnach ihre obere Grenze
\frakfamily{s}_p, wenn die „Schlankheit“ des
betrachteten Stabteils gleich \varphi\,\sqrt{\frac{E}{\sigma_p}}
ist. Für diese obere Grenze findet sich die Beziehung
\frakfamily{s}_p=\frac{\sigma_p\,.\,F}{P}=\frac{\sigma_p}{\sigma}
. . . . . . . 19)
wenn mit o die als zulässig
gewählte Druckspannung in der Stange bezeichnet wird. Ermittelt man mit Hilfe der
für den Proportionalitätsbereich abgeleiteten Formeln einen größeren Sicherheitsgrad
gegen Knicken als den durch Gleichung 19 bestimmten, so besitzt derselbe keine
physikalische Bedeutung und man befindet sich mit dem Glauben an ihn in einem unter
Umständen verhängnisvollen Irrtum.
Textabbildung Bd. 327, S. 218
Fig. 11.Durchbiegungen bei unelastischer Knickung.
Will man sich Klarheit darüber verschaffen, wie weit die Druckspannungen in das
unelastische Gebiet hineinwachsen dürfen, ehe Knickung zu erwarten ist, so hat man
den Gleichgewichtszustand des Stabes auf Grund des für das Konstruktionsmaterial
bekannten Dehnungsgesetzes zu untersuchen. Man findet, daß es auch in diesem
Spannungsbereich Kräfte gibt, bei deren Ueberschreiten das Gleichgewicht des geraden
Stabes aus dem stabilen in den labilen Zustand übergeht,Engesser,
Widerstandsmomente und Kernfigüren bei beliebigem Formänderungsgesetz,
Zeitschr. d. Ver. deutsch, lug, 1898, S. 927. und zwar sind diese
Knickkräfte, wie zu erwarten ist, kleiner, als sie wären, wenn noch Proportionalität
bestände. Die Untersuchung wird vor allem dadurch verwickelter, als sie sich
unterhalb der Elastizitätsgrenze gestaltet, weil der Zusammenhang zwischen
Dehnungen und Spannungen auf der Druckseite der für den unelastischen Bereich geltende ist, während auf der Zugseite bei der
Entlastung nur die elastischen Formänderungen rückgängig
werden. Daher kommt es, daß diese Knickkräfte von der Form der Stabquerschnitte noch
in anderer Weise als nur durch das Trägheitsmoment beeinflußt werden.
Mit Hilfe dieser Knickkräfte kann man einen Sicherheitsgrad bestimmen, der in der Tat
vorhanden ist, wenn die Stabachse ursprünglich gerade und vollkommen zentrisch
belastet ist. Kleine Abweichungen von dieser Voraussetzung haben aber bei der
unelastischen Knickung einen stärkeren Einfluß als bei der elastischen. Um das zu
erkennen, muß man die Abhängigkeit der Durchbiegungen von den Druckbelastungen
untersuchen. Eine solche Untersuchung wurde von v. Kármánv. Kármán,
Untersuchungen über Knickfestigeit, Mitteilungen über
Forschungsarbeiten, herausgegeb. vom Verein deutsch. Ing., Heft
81. für an beiden Enden belastete und mit Schneidenlagerung
versehene Stäbe unter der Annahme durchgeführt, daß die Querschnitte auch in dem
betrachteten Spannungsbereich bei der Biegung eben bleiben, eine Annahme, die
experimentell gut bestätigt ist.Eugen Meyer, Die Berechnung der Durchbiegung von
Stäben, deren Material dem Hookeschen Gesetz
nicht folgt, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1908, S. 167. Es
ergibt sich, daß die Druckkräfte, welche bei der elastischen Knickung in weiten
Grenzen von der Durchbiegung unabhängig sind, hier sehr schnell mit wachsender
Durchbiegung abnehmen, wie etwa Kurve a b in Fig. 11 veranschaulicht. Bei kleinen Exzentrizitäten
der Belastung wird auch hier der Zusammenhang zwischen dieser und den Durchbiegungen
durch Kurven dargestellt, welche sich – ähnlich wie in Fig. 4a für die elastische Knickung dargestellt ist – in die Ecke o a b um so enger einschmiegen, je kleiner die
Exzentrizität ist. Diese Kurven weisen ein Maximum für die Druckkraft auf, welches
schon bei kleinen Exzentrizitäten unterhalb der für den zentrisch belasteten Stab
gefundenen Knickkraft liegt. Der für diese Knickkraft bestimmte Sicherheitsgrad wird
also schon durch geringe Zufälligkeiten illusorisch. Man tut daher gut daran, den
Sicherheitsgrad nur für den elastischen Bereich zu bestimmen, und als seine obere
Grenze den durch Gleichung 19 gegebenen Wert zu betrachten.
Zum Schlusse möge noch erwähnt werden, daß die beschriebenen Gesetze der Knickung –
der elastischen sowohl als der unelastischen – für den an beiden Enden belasteten
und mit Spitzenlagerung bezw. Schneidenlagerung versehenen Stab experimentell gut
bestätigt sind (vergl. in dieser Hinsicht Kármán a. a.
O., Die Zusammenstellung Fig. 3 sowie Abschnitt
III).