Titel: | ÜBER INGENIEURAUSBILDUNG IN DEN VEREINIGTEN STAATEN VON NORD-AMERIKA. |
Autor: | Gewecke |
Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 290 |
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ÜBER INGENIEURAUSBILDUNG IN DEN VEREINIGTEN
STAATEN VON NORD-AMERIKA.
Von Dr.-Ing. Gewecke.
GEWECKE: Ueber Ingenieurausbildung in den Vereinigten Staaten von
Nordamerika.
Inhaltsübersicht.
Es wird über Erfahrungen berichtet, die der Verfasser bei
Gelegenheit einer Studienreise in den Vereinigten Staaten über die amerikanische
Ingenieurausbildung insbesondere an den Hochschulen gesammelt hat, und dabei auf
einzelne Punkte hingewiesen, die geeignet erscheinen, für unsere deutschen
Hochschulen als Vorbild zu dienen.
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Man macht häufig die Beobachtung, daß junge, gut beanlagte Ingenieure, die nach vier-
bis fünfjährigem fleißigem Studium mit vielen Kenntnissen ausgerüstet die Hochschule
verlassen, beim Eintritt in die Praxis vollständig versagen und auch vielfach nicht
imstande sind, sich in die für eine erfolgreiche Tätigkeit im praktischen
Erwerbsleben notwendige Denk- und Arbeitsweise einzuleben. Diese Erscheinung legt
die Frage nahe, ob wohl die Ausbildung unserer Hochschulingenieure die für die
Erfordernisse der Praxis – auf die kommt es vor allem an – zweckmäßigste ist, eine
Frage, die um so aktueller wird, als sich schon jetzt ein recht empfindlicher Mangel
an tüchtigen jungen Ingenieuren bemerkbar macht (ich denke da besonders an die
Elektrotechnik), der bei dem zu erwartenden stark anwachsenden Bedarf leicht zu
einer wahren Ingenieurnot auf diesem Gebiete sich vertiefen kann.
In England sind im vergangenen Jahre von der „Civil Institution“ über die
gleiche Frage eingehende Beratungen gepflogen und manche bemerkenswerte Ansichten
geäußert worden. Für unsere deutschen Verhältnisse Verbesserungsvorschläge zu
machen, muß ich berufeneren Federn überlassen. Es dürfte aber zur Beurteilung der
Frage nicht ohne Interesse sein, über die amerikanische Ingenieurerziehung einiges
zu hören, die kennen zu lernen ich auf einer Studienreise im letzten Sommer
Gelegenheit hatte. Von vornherein soll dabei der Auffassung entgegengetreten werden,
als würden sämtliche Einrichtungen drüben als nachahmenswert hingestellt. Die eine
oder andere derselben kann aber doch vielleicht, wenn auch in modifizierter
Form, für unsere deutschen Verhältnisse von Nutzen sein.
Die Ingenieurwissenschaften werden in den Vereinigten Staaten, neben den anderen
Disziplinen, an den Universitäten gelehrt. Außerdem gibt es noch einzelne, nahezu
auf der Stufe der Universitäten stehende technische Schulen, wie das Stevens
Institut in Hoboken, das Boston Technical College in Boston und die Carnegie
Technical Schools in Pittsburg.
Das Studium weist manche von unseren deutschen Verhältnissen abweichende
Eigentümlichkeiten auf. Als niedrigst zulässiges Eintrittsalter ist das 16. resp.
17. Lebensjahr festgesetzt, praktisch jedoch fällt der Beginn des Studiums, ähnlich
wie bei uns, etwa in das 19. Jahr.
Zur Aufnahme ist fast stets das Bestehen eines, allerdings ziemlich schematisch
gehandhabten Examens erforderlich, das sich außer auf die, die Grundlage zum
technischen Studium bildenden Fächer wie Physik, Chemie, Mathematik auch auf
Sprachen, Geschichte und Literatur erstreckt. Nur in vereinzelten Fällen genügen zur
Aufnahme – auch in die höheren Klassen – Zeugnisse anderer Schulen, wodurch ein
Wechseln der Hochschule sehr erschwert wird und praktisch wenig stattfindet.
Die Dauer des Studiums beträgt vier Jahre. An den größeren Universitäten bestehen
außerdem noch Kurse von fünf und sechs Jahren, die mit einer Allgemeinbildung in den
grundlegenden Fächern beginnen. Die Universitäten sowie auch einzelne technische
Schulen können am Ende des Studiums bei befriedigendem Ausfall der Schlußprüfung den
Titel eines Mechanical Engineer (M. E.) resp. Electrical, Chemical oder Civil
Engineer verleihen.
Befähigte Studenten können dann ihr Studium fortsetzen und selbständige Arbeiten
ausführen und dadurch den Titeleines Master of Mechanical Engineering (M. M. E.)
oder Doctor of Philosophy (Ph. D.) erlangen.
Der ganze Unterrichtsbetrieb ist ein von dem deutschen Hochschulunterricht
grundverschiedener. Die einzelnen Fächer sind genau vorgeschrieben, und der Besuch
des Unterrichts wird kontrolliert. Ein Schwänzen, wie bei uns vielfach üblich, ist
dort unmöglich. Bei wiederholten Versäumnissen kann Verwarnung und schließlich der
Ausschluß eintreten. Das Hören von anderen, den Studenten interessierenden
Vorlesungen ist nur, wenn sie mit den vorgeschriebenen nicht zusammenfallen, und mit
ausdrücklicher Genehmigung des Abteilungsvorstandes zulässig. Durch eingehende
Zwischenexamina, die alle Semester, oft auch alle Monat, stattfinden, überzeugt sich
der Professor von den Fortschritten seiner Schüler. Man kann das ganze
Unterrichtsverfahren am ehesten mit dem an unseren staatlichen Maschinenbauschulen
gebräuchlichen vergleichen.
Auffallend ist das oft jugendliche Alter vieler Professoren, sogar von solchen in
wichtiger Stellung. Man steht auf dem Standpunkt, daß der Professor in erster Linie
für die Studenten da ist. In jüngerem Alter hat aber der Professor noch mehr Sinn
für die Schwierigkeiten, die der Student beim Studium findet, auch läßt sich viel
leichter ein persönlicher Kontakt zwischen Schüler und Lehrer herstellen. Er ist
mehr älterer Kollege und Freund, ist stets für die Studenten, auch in nicht gerade
fachlichen Angelegenheiten zu sprechen, besucht ihre Zusammenkünfte usw. Das
Verfahren hat den unbestreitbaren Vorzug für sich, daß die Studenten mehr von ihren
Lehrern haben; allerdings können diese selbst wissenschaftlich nicht in dem Maße
tätig sein wie unsere deutschen Professoren, weil ihre Zeit durch den Lehrberuf weit
mehr absorbiert wird.
Der Unterrichtsplan enthält zunächst die Fachvorlesungen, dann praktische Uebungen,
die nicht nur in zeichnerischen und Laboratoriumsarbeiten, sondern auch in
Werkstattstätigkeit bestehen, und schließlich allgemeine Fächer. Unter diesen sind
besonders zu nennen Sprachen, Handelsrecht, Patentrecht, Vertragswesen, Bank- und
Börsenwesen, Hygiene. Der amerikanische Ingenieur soll eben nicht nur ein guter
Techniker, sondern auch ein guter Geschäftsmann sein.
Eine praktische Ausbildung findet statt in der Schmiede, Gießerei, Schlosserei,
Dreherei, Modellschreinerei, Montage von Leitungen u.a.m. Die Werkstätten sind mit
den modernsten Arbeitsmaschinen ausgerüstet; unter Anleitung eines Instruktors lernt
der Student die verschiedenen Arbeitsverfahren kennen. Erläuternde Vorlesungen
begleiten diese Kurse, die in der Regel während der ersten vier Semester bis zu
sechs Stunden wöchentlich in Anspruch nehmen. Als Ergänzung dieser Ausbildung wird
eine praktische Tätigkeit in den Sommerferien sehr empfohlen und auch meist
ausgeübt, wobei die Hochschule oft im Verschaffen einer solchen Beschäftigung
behilflich ist. So findet mit geringem Zeitaufwand eine sachgemäße Unterweisung in
der handwerksmäßigen Seite des Fachgebietes statt, und die Ferientätigkeit als
Volontär verspricht, weil die Grundlagen vorhanden sind, einen weit größeren Erfolg
als bei uns, wo den Volontären, besonders in größeren Betrieben, viel zu wenig
Aufmerksamkeit gewidmet wird und gewidmet werden kann, und so viel kostbare Zeit vergeudet wird.
Der Schwerpunkt der amerikanischen Ingenieurausbildung liegt in der Tätigkeit in den
Laboratorien, die denn auch aufs beste ausgestattet sind. Allerdings wird man
Versuche und Apparate, die nur didaktischen oder gar nur historischen Wert haben,
wie Tangentenbussole, Torsionswattmeter, die Bestimmung der Stromstärke mittels
Kupfervoltameter und ähnliches, vergebens suchen. In dem Programm der Pennsylvania
Universität in Philadelphia heißt es z.B.: „In each class only the most modern
methods are used, the objects being to drill the student in working methods,
that have become Standard in practice.“
Mit den jetzt gebräuchlichen Instrumenten und Meßmethoden soll der Student vollkommen
vertraut gemacht werden. Und mit solchen modernen Apparaten und Einrichtungen sind
die Laboratorien meist sehr reichhaltig versehen, was auch z. T. dem Umstände zu
verdanken ist, daß außerordentlich viel von Firmen geschenkt wird. So sah ich in der
Pennsylvania-Universität die vollständige elektrische Ausrüstung eines
Straßenbahnwagens, mit Motoren und Kontroller, Stufenschaltern zum selbsttätigen
stufenweisen Ausschalten der Anlaßwiderstände usw., an der mit 500 Volt im Betriebe
Untersuchungen und Messungen vorgenommen werden können. Ferner eine vollständige
Anlage für Quadruplextelegraphie mit zwei Stationen, an der von den Studenten
praktische Uebungen ausgeführt werden, beides Geschenke. Die Cornell-Universität,
die besonders reichhaltig ausgestattet ist, hat neben den Hauptlaboratorien ein
besonderes Laboratorium für Untersuchung von Feuerungsmaterial, ein anderes für
Oeluntersuchung, ein Kältelaboratorium.
Zu den Versuchen sind die Apparate nicht aufgebaut, sondern der Student muß, wie das
ja auch bei uns mehr oder weniger durchgeführt ist, die Zusammenstellung und
Schaltung selbst machen. Erfordert die Durchführung des Versuchs mehr als einen
Beobachter, so bekommt der Student, der mit der Aufgabe betraut ist, einen anderen
zur Unterstützung, der jedoch für die ganze Versuchsausführung nicht verantwortlich
ist. Die Methode scheint mir beachtenswert, weil so jeder Student die von ihm
geleiteten Versuche selbst durchdenken muß, und ein Mitläufertum, das die von
anderen aufgenommenen Protokolle geistlos abschreibt und einliefert, wohl wirksam
vermieden wird.
Für die Theorie bleibt bei dieser Einteilung des Unterrichtsplanes naturgemäß nicht
zu viel Zeit übrig. Die Vorlesungen stehen zum großen Teil in engem Zusammenhang mit
der zeichnerischen und praktischen Tätigkeit und bereiten den Studenten auf das
Entwerfen und Konstruieren sowie besonders auf die Laboratoriumsmessungen vor. Es
soll ein Hand in Handgehen von Vortrag und Uebung stattfinden, was bei uns leider
noch vielfach zu wünschen übrig läßt.
All the work is used as the basis for laboratory instruction, and such problems are
presented in laboratory and class as will be of value to the prospective engineer,
and only such
methods are made use of as modern practice has shown to be of permanent value.
(Penn. Univ.)
Bei den Vorlesungen wird ausgiebiger Gebrauch von Büchern gemacht, zu denen der
Vortrag im wesentlichen nur Ergänzungen und Erläuterungen gibt; vielfach erhalten
die Studenten direkt die Vorlesungen gedruckt.
Eine erhöhte Anwendung solcher gedruckten Unterlagen erscheint mir auch für die
Vorlesungen an unseren Hochschulen wünschenswert, insbesondere in Fächern mehr
empirischen Charakters, wo es sich oft um Mitteilung eines größeren Datenmaterials
handelt, bei dessen Aufzeichnung es dem Hörer oft kaum möglich ist, dem Sinn der
gemachten Mitteilungen die nötige Aufmerksamkeit zu widmen. Es wird dadurch
jedenfalls eine weit bessere Ausnutzung der aufgewandten Zeit erzielt werden
können.
Wir sehen also, daß der amerikanische Hochschulunterricht in den technischen Fächern
ganz besonders auf das praktisch Verwendbare zugeschnitten ist. So ist der Student
drüben bei Beendigung seines Studiums für die Praxis eher brauchbar als der deutsche
Student. Ich fand durch eigene Beobachtungen und in Aussprachen mit Ingenieuren und
Studenten bestätigt, was mir dort ein Professor, der auch in Deutschland studiert
hat, sagte: Der amerikanische Student wird besser „instructed“, der deutsche
besser „educated“. In dem gelernten Berufe ist der Amerikaner vollständig auf
der Höhe, wird er aber vor eine Aufgabe gestellt, die nicht ganz in sein Gebiet
hineingehört, so versagt er leicht, während der Deutsche sich infolge seiner
besseren Grundlagen eher zurechtfindet.
Ohne den Wert dieser guten Grundlage zu unterschätzen, neigt man bei uns aber doch
wohl immer mehr zu der Auffassung, daß dem jungen Diplom-Ingenieur etwas mehr
„instruction“ nur förderlich sein könnte. Wir suchen dem Studenten zu
viel Theorie mitzugeben, die er nur in wenigen Fällen wirklich verarbeiten kann, und
für die er im allgemeinen in der Praxis keine Verwendung hat, und das auf Kosten
praktisch anwendbaren Könnens.
Der amerikanische Student, der sich einer mehr wissenschaftlichen Tätigkeit widmen
will, erwirbt sich als „Graduate“ (nach dem vierjährigen Studium) die nötigen
theoretischen Kenntnisse und die Fähigkeit, Untersuchungen selbständig
durchzuführen, die bei uns dem normalen Studenten in vier Jahren doch nicht zur
Genüge gegeben werden kann. Einem ähnlichen Gedanken verleiht Prof. George H. Shepard von der Syracuse University Ausdruck in
dem „Proc. of the Soc. for the Promotion of Engineering Education“ Vol. 18.
„Notice on German Technical Universities“: „daß die deutsche
Unterrichtsmethode geeignet ist für die Entwicklung der Tüchtigsten, ohne sich
darum zu kümmern, was aus dem Rest wird. Das amerikanische System dagegen will
in der Industrie brauchbare Ingenieure möglichst aus all dem Rohmaterial machen,
das zu ihm kommt“.
Zum Schluß sei noch kurz der gemeinnützigen Einrichtungen Erwähnung getan, für die an
den amerikanischen Hochschulen außerordentlich viel geschieht. Ein geräumiges
Klubhaus ist in der Regel vorhanden zur allgemeinen Benutzung, mit Lese-, Schreib-
und Rauchzimmern, Billard- und Musiksälen, wodurch den geistigen und geselligen
Bedürfnissen der Studenten Rechnung getragen wird. Wer in möglichster Nähe seines
Tätigkeitsfeldes wohnen möchte, hat dazu durch die zur Universität gehörigen
„Dormitories“, Studenten-Wohnhäuser, Gelegenheit, in denen er einen oder
mehrere möblierte Räume gegen mäßige Gebühr mieten kann.
Vor allem aber ist es die Pflege des Sports, der Betätigung des Körpers, der die
Hochschulbehörden und die Stifter größerer Geldmittel ihre vollste Aufmerksamkeit
zuwenden. Schwimmhallen und Turnsäle, Plätze für Turnspiele und Wettläufe, stehen
jedem Studenten zur freien Benutzung offen und werden viel benutzt, eine große
Anzahl von Vereinen geben Gelegenheit sich in dem einen oder anderen Sport besonders
zu üben. Die Hochschulverwaltungen unterstützen alles das auf das lebhafteste, wohl
von der Erwägung geleitet, daß die Körperpflege nicht eine private Angelegenheit des
Einzelnen ist, sondern daß ein vitales Interesse der Hochschule vorliegt, durch
Anregung zu körperlichen Uebungen den Geist frisch und aufnahmefähig für den
dargebotenen Wissensstoff zu machen.
An unseren deutschen Hochschulen ist seit jüngster Zeit auch eine Bewegung im Gange,
die ähnliche Ziele verfolgt, und es wäre aufs wärmste zu begrüßen, wenn es gelingen
würde, in weiteren Kreisen unserer studierenden Jugend das Interesse für eine mehr
turnerische Ausnutzung ihrer freien Zeit zu heben. Die Früchte werden dann gewiß
nicht ausbleiben.