Titel: | POLYTECHNISCHE RUNDSCHAU. |
Fundstelle: | Band 327, Jahrgang 1912, S. 427 |
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POLYTECHNISCHE RUNDSCHAU.
Polytechnische Rundschau.
Eine amerikanische Wechselstrom-Vollbahn im
Hoosac-Tunnel. Durch den 7,65 km langen Hoosac-Tunnel führt eine der
wichtigsten Vollbahnen, welche Boston mit Albany verbindet. Gelegentlich der
Uebernahme dieser Bahnlinie durch die New York-, New Haven- und Hartfordbahn im
Jahre 1910 wurde die Linie elektrisiert, und am 18. Mai 1911 verkehrte der erste elektrische
Zug durch den Tunnel.
Zum Betrieb der Strecke wurde ein Kraftwerk von 6000 KW Gesamtleistung erbaut, von
welchem eine 4 km lange Hochspannungsleitung bis an die Eisenbahn herangeführt
wurde. Zur Verwendung gelangt Wechselstrom von 11000 Volt Spannung und 25
Perioden.
Da die oben erwähnte Bahn eine der wichtigsten Verkehrslinien ist, so kommt eine
ziemlich dichte Zugfolge in Betracht. Es verkehren täglich etwa 95 bis 100 Züge in
beiden Richtungen. Mit Hilfe elektrischer Streckenblockungen ist es jetzt gelungen,
drei Züge auf einmal hintereinander durch den Tunnel fahren zu lassen und die
Leistungsfähigkeit desselben auf das dreifache zu erhöhen. Die Personenzüge
gebrauchten bisher zum Passieren des Tunnels etwa 12 Minuten, was bei Dampfbetrieb
sehr unangenehm ist, da sich der Tunnel mit Rauch füllt, so daß sämtliche Fenster
geschlossen werden müssen. Da die Rauchbelästigung nun vollkommen fortfällt, ist es
auch möglich geworden, elektrische Blocksignale anzuwenden, welche nun gut sichtbar
sind. Die Durchfahrt durch den Tunnel kann jetzt mit geöffneten Fenstern
erfolgen.
Die elektrische Strecke ist bedeutend länger als der Tunnel selbst, nämlich 12,8 km.
Der Betrieb erfolgt in der Art, daß an den Ausgangspunkten des elektrischen Betriebs
eine elektrische Lokomotive vor die Dampflokomotive gelegt wird und dann den ganzen
Zug durch den Tunnel schleppt. Das Feuer der Dampflokomotiven wird dabei derart
instand gehalten, daß es bei Einfahrt in den Tunnel vollkommen durchgebrannt ist und
während der Durchfahrt nicht bedient zu werden braucht, so daß sich keine Rauchgase
entwickeln.
Das Kraftwerk zum Betrieb der Vollbahn ist derart angelegt worden, daß es später zum
Betrieb der elektrischen Straßenbahn benutzt werden kann, wenn für die elektrische
Zugförderung ein Wasserkraftwerk auf der anderen Seite des Tunnels errichtet sein
wird. Es enthält im Untergeschoß drei Abteilungen. In der einen davon sind die Worthington-Kesselspeisepumpen und die Ventilatoren für
die Unterwindfeuerung sowie die Aschfalltrichter untergebracht. In der mittleren
Abteilung befinden sich zwei Westinghouse-Leblanc-Strahlkondensatoren, Oelfilter, eine Batterie von 120
Amperestunden, Transformatoren und eine Werkstätte. Die dritte Abteilung enthält die
beiden 60000 Volt Höchststrom-Oelunterbrecher. Das Hauptgeschoß wird eingenommen vom
Kesselraum, in dem vier Wasserrohrkessel mit mechanischer Feuerung stehen, einem Sturtevant-Rippenvorwärmer, zwei Rauchgasabzugrohren,
Meßvorrichtungen, Schüttrümpfe usw. Es ist noch Platz vorhanden, um die Kesselanlage
auf das Doppelte zu vergrößern.
Das Heranschaffen der Kohle nach einem 68 t haltenden Sammelhochbehälter geschieht
mittels Trichterwagen und Becherkette. Zur Rückkühlung des Kondenswassers dient ein
großer Teich, dem das Kondenswasser mittels zweier über ihn verlegter Sprührohre
zugeführt wird. Diese Sprührohre von je 92 m Länge lassen das Wasser aus 110
Düsen fontänenartig in die Luft austreten. Bei der dadurch stattfindenden feinen
Unterteilung des Wassers wird es sehr gut gekühlt. Als Kondenswasserpumpe dient eine
durch einen 100 pferdigen Induktionsmotor angetriebene Kreiselpumpe, und als Reserve
ist eine weitere Pumpe mit Dampfmaschinenantrieb vorhanden.
Der Maschinenraum enthält zwei Drehstromerzeuger von 2750 KW bei 11000 Volt und 25
Pulsen, welche mit Parsons-Westinghouse-Dampfturbinen
gekuppelt sind. Ferner zwei Stück Erregermaschinen von 100 KW mit Dampfturbinen-
bezw. Drehstrommotorenantrieb. Außerdem sind vorhanden ein kleiner Motorgenerator
zum Aufladen der Akkumulatorenbatterie, eine Luftpumpe zum Reinigen der Maschine und
ein 27 t-Laufkran.
Von den drei Phasen des Drehstromerzeugers liegt die eine am Fahrdraht, die zweite an
einer Leitung für Licht und Kraft, die dritte ist an die Fahrschienen
angeschlossen.
Die Generatoren, welche für die elektrische Zugförderung im Tunnel und die Licht- und
Kraftversorgung der Werkstätte einfachen Wechselstrom liefern, versorgen nebenher
auch die Einankerumformer-Unterwerke der Berkshire-Straßenbahnen mit Drehstrom.
Die 3 km lange Fernleitung besteht aus fünf Kupferseilen, von denen zwei die Energie
dem Fahrdrahtnetz, also den Lokomotiven zuführen. Die Leitungen sind auf Türmen
verlegt, welche außerdem noch die Kraft-, Kontroll- und zwei Telephonleitungen
tragen. Im Tunnel sind die Fahrdrahtleitungen im Fels verankert.
Die elektrischen Lokomotiven sind von den Baldwinwerken
erbaut, während die elektrischen Einrichtungen von der Westinghouse-Gesellschaft geliefert wurden. Von den Lokomotiven sind drei
Stück vorwiegend für den Güterzugsdienst, die anderen für den Personenzugs- und
leichten Güterzugsdienst bestimmt. Die Güterzugslokomotiven besitzen eine größte
Zugkraft von 30400 kg und eine Geschwindigkeit von 48 km i. d. Std., während die
Personenzugslokomotiven eine größte Zugkraft von 18000 kg und eine Geschwindigkeit
bis zu 80 km i. d. Std. aufweisen. Der Unterschied liegt nur im
Uebersetzungsverhältnis der Zahnräder, und nach Auswechselung derselben würde die
Personenzuglokomotive in eine Güterzuglokomotive umgeändert sein und umgekehrt. Das
Gewicht der Lokomotiven beträgt je 118 t, das Reibungsgewicht 85 t. Sie besitzen bei
11,72 m Gesamtachsstand eine Länge von 19,65 m. Jede Lokomotive ist mit zwei
gekuppelten Drehgestellen ausgerüstet, welche aus je zwei Treibachsen von 1,6 m
Raddurchmesser und einer kurvenbeweglichen Laufachse von 1,6 m Raddurchmesser
bestehen. Der Achsstand der Treibachsen beträgt je 2,14 m. Die Verbindung der beiden
Drehgestelle zu einem Wagen geschieht durch eine sehr kräftige Kuppelstange.
Jede Lokomotive besitzt vier Stück Wechselstrommotoren von je 380 PS, welche mit den
Drehgestellrahmen verschraubt sind, also vollständig zu den abgefederten Massen
gehören. Die Bewegungsübertragung auf die Treibachsen erfolgt durch zwei ebenfalls
abgefederte Zahntriebe, welche auf beiden Seiten gleiche Umfangskräfte besitzen und
dadurch den Anlauf der Motoren unter voller Last gestatten. Die Zahnräder treiben
zunächst eine hohle Achse an. welche mit einem Spiel von 38 mm um die Treibachse
greift, und deren Lager am Motorwagen befestigt sind. Die Verbindung der Hohlwelle
mit der Treibachse erfolgt durch ein System von Wickelfedern, welche dem Rad
ziemliche Bewegungsfreiheit gegenüber den verschiedenen Gleisunebenheiten geben,
ohne daß eine Rückwirkung auf den Motor eintreten würde. Außer den obenerwähnten
vier Wechselstrommotoren von je 380 PS besitzen die Lokomotiven noch folgende
Ausrüstungsteile:
Ein Autotransformator mit Gebläsewindkühlung; zwei durch Druckluft gesteuerte
Scherenstromabnehmer für 11000 V; einen 11000 V-Ausschalter; drei
Ueberspannungs-Schutzdrosselspulen; vier druckluftgesteuerte Einfachschalter; zwei
zehnpferdige Einphasenmotoren zum Kompressorantrieb; einen selbsttätigen Anlasser
für diese Motoren; zwei siebenpferdige Gebläsemotoren; zwei Sammlerbatterien (20 V)
für den Steuerstrom; einen Motorgenerator zum Laden der Sammler; ein
Höchstgeschwindigkeitsrelais; zwei Fahrschalter; zwei Temperaturanzeiger für die
Hauptmotoren und die erforderlichen Ausschalter, Steckdosen und Hüpfschalter für die
Vielfachsteuerung.
Der Autotransformator besitzt zwölf Anzapfstellen, so daß für das Anfahren und die
Geschwindigkeitsregelung eine hinreichende Abstufung der Motorspannung erzielt
werden kann. Es ist ferner ein Geschwindigkeitsrelais vorgesehen, das die Motoren
bei einer bestimmten Höchstgeschwindigkeit selbsttätig abschaltet. Dadurch wird
verhütet, daß die Lokomotive den Zug auf eine Geschwindigkeit beschleunigt, die den
Motorankern schädlich sein würde. Dagegen verhindert diese Einrichtung nicht das
Fahren mit hoher Geschwindigkeit im Gefälle bei stromloser Lokomotive. Das Relais
besteht aus zwei Spulen, deren Kerne an einem zweiarmigen Hebel, der eine
Kontaktscheibe dreht, angelenkt sind. Die eine Spule wird von dem Motorstrom über
einen Reihentransformator durchflössen, die andere steht unter der Wirkung der
Ankerquerspannung. Die Kontaktscheibe steht in der Regel außer Kontakt und zwar
durch den stärkeren Zug der Motorspule; läuft indessen der Motor so schnell, daß die
Ankerquerspannungsspule die andere durch den kleiner gewordenen Motorstrom
durchflossenen in ihrer Wirkung übertrifft, so schließt die Kontaktscheibe einen
Stromkreis, der vermöge eines Hilfsrelais den Steuerstrom zu dem Motorhauptschalter
öffnet. [Elektrische Kraftbetriebe und Bahnen, 24. III. 12.]
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Ueber die Versorgung der Berliner Bahnhöfe mit Oelgas
hielt Regierungsbaumeister F. Landsberg einen längeren
Vortrag im Verein deutscher Maschineningenieure.
Der Vortragende wies darauf hin, daß die Güte der Beförderung hinsichtlich der
Wirtschaftlichkeit und Bequemlichkeit zunehmend höheren Ansprüchen genügt. Dies
trifft auch auf die Beleuchtung der Personenwagen zu. Früher wurde in
Schnittbrennern (offene Flamme) ein Gemisch aus ¾ Oelgas und ¼ Azetylengas verwandt.
Durch Einführung der Glühstrumpfbeleuchtung wurden bessere Lichteffekte bei
sparsamem Gasverbrauch erzielt. Der Uebergang zur reinen Oelgasbeleuchtung hatte zur
Folge, daß die Oelgaserzeugung um ¼ gesteigert werden mußte, da allmählich die
Azetylenbereitung eingestellt wurde. Für Berlin, als die
größte Zugbildungsstation wurde bei dieser Gelegenheit die Gasversorgung sämtlicher
Bahnhöfe in großzügiger Weise ausgebaut. Alle Gasanstalten und Bahnhöfe wurden durch
ein Leitungsnetz aus Stahlrohren verbunden; dieses wird von einigen größeren Anlagen
gespeist, die stets gut ausgenutzt werden und daher wirtschaftlich arbeiten. Mehrere
kleinere Anstalten konnten dauernd oder wenigstens für den Sommer, d. i. die Zeit
geringen Bedarfs, geschlossen werden. Die Leitungsanlage, die in diesem Umfange
bisher noch nicht ausgeführt ist, verläuft längs den Gleisen des Nord- und Südrings
und besitzt Zweigleitungen nach den einzelnen Bahnhöfen und Gasanstalten.
Der Vortragende erläuterte an Hand von Lichtbildern ihre Eigentümlichkeiten und die
Schwierigkeiten bei der Herstellung, ferner ein neues Verfahren der Oelgasbereitung,
das von der Firma Julius Pintsch in zwei der größten
Gasanstalten mit Erfolg eingeführt ist; bei diesem werden die bekannten Retortenöfen
durch Apparate ersetzt, die mit dem als Nebenprodukt erhaltenen Teer geheizt werden
und infolge ihrer Bauart (stehende Zylinder) auf kleinem Grundriß eine große
Leistungsfähigkeit gestatten.
Die Gestaltung des Betriebes mit allen Eigenheiten und Hilfseinrichtungen wurde im
einzelnen besprochen. Zum Schlusse bemerkte der Vortragende, daß die oben erläuterte
plötzliche Steigerung des Gasbedarfs mit den besprochenen Einrichtungen ohne Störung
bewältigt werden konnte.
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Die 53. Hauptversammlung des Vereins Deutscher Ingenieure
wurde am 10. Juni in der Hauptstadt Württembergs eröffnet.
Eine besondere Ehrung ließ der König von Württemberg dem Verein zuteil werden, indem
er, von der Versammlung freudig begrüßt, um 11 Uhr persönlich erschien und dem
Vortrag des Wirklichen Geheimen Oberbaurat Dr.-Ing. Veith, Berlin, beiwohnte.
Der Redner sprach unter Benutzung von reichem Anschauungsmaterial über neuere
Kriegsschifftypen.
Das Geschoß und die Abwehrvorrichtungen gegen seine Wirkungen bilden die
hauptsächlichste Grundlage für die Konstruktion der Kriegsschiffe. Im Kampf ist das
stark armierte und gut geschützte Schlachtschiff, das Linienschiff, mit einer
Höchstgeschwindigkeit von etwa 21 Seemeilen i. d. Std., der geeignetste Typ und
daher der Kern der Schlachtflotte. Neben dem Linienschiff ist für den Aufklärungs-
und Sicherheitsdienst, für Nachrichten und Befehlübermittlung, sowie für das
Heranführen von Torpedobootverbänden der Kreuzer notwendig. Er hat auch in der Schlacht
mitzuwirken und bei der Verfolgung des geschlagenen Feindes wie der Deckung des
eigenen Schiffes Dienste zu leisten. Diese Aufgaben bedingen eine Teilung in einen
zu offensiven Vorstößen geeigneten Typ, den großen Kreuzer, der zwar nicht die
vollwertige Linienschiffstärke besitzt, aber den Linienschiffen erheblich an
Geschwindigkeit und Aktionsradius überlegen ist, und in den kleinen Kreuzer, dem
großen Kreuzer an Geschwindigkeit und Aktionsradius möglichst gleich, an
Gefechtskraft dagegen erheblich geringer. Der große Kreuzer besitzt im allgemeinen
eine noch größere Wasserverdrängung als das Linienschiff, ist daher teuer und kann
deshalb nur in beschränkter Zahl gebaut werden. Der kleine Kreuzer besitzt eine
erheblich geringere Verdrängung – etwa den vierten bis sechsten Teil des großen
Kreuzers. Da seine Hauptwaffe die Geschwindigkeit ist, so bleibt für seine
Bewaffnung und seinen Schutz verschwindend wenig übrig. Sein Geschütz dient nur zur
Torpedobootsabwehr. Infolge seines geringen Deplacements ist er billig und kann ohne
Beeinträchtigung der Mittel für die Schlachtschiffflotte in der notwendigen Anzahl
zur Verfügung stehen.
Mit der Entwicklung des automobilen Torpedos, trat ein besonderer Schifftyp, das
Torpedoboot, in die Erscheinung. Die Torpedoboote sind die Begleiter der
Schlachtschiffe in der Schlacht, und zwar ist der Torpedoangriff bei Nacht die
ureigenste Aufgabe des Torpedobootes. Bei Tage wird der Torpedobootangriff nur unter
besonders günstigen Umständen wirkungsvoll werden. Für den Erfolg ist in beiden
Fällen eine hohe Geschwindigkeit und eine große Schußweite des Torpedos sowie das
gleichzeitige Heranführen einer größeren Zahl Boote an den Feind notwendig. Um die
hohe Bootgeschwindigkeit zu erreichen, ist möglichst geringes Gewicht jedes
einzelnen Konstruktionsteiles besonders geboten.
Außer den Torpedobooten führt das Unterseeboot den Torpedo als Hauptwaffe. Von einer
feststehenden Taktik kann bei der' jungen, sehr in der Entwicklung begriffenen
Schiffsklasse noch nicht gesprochen werden. Aus Ueberlegungen und Versuchen gelangte
das Tauchboot als günstigster Unterseeboottyp zur Ausführung.
Die Formen der einzelnen Schifftypen, ihre hauptsächlichsten artilleristischen und
maschinellen Einrichtungen sowie die moderne Torpedokonstruktion wurden im Vortrage
eingehend behandelt und durch Lichtbilder erläutert.
Den zweiten Vortrag hielt Geheimrat Prof. Kammerer-Berlin,
der über „Anschauliches Denken in Berufsarbeit und Unterricht“ sprach. Er
führte hierbei aus, daß alle wissenschaftliche Arbeit – mag sie juristischer,
mathematischer, technischer oder sonstwelcher Art sein – eines festen Gerüstes
bedarf, an das sich die Ranken der Schlußfolgerungen anklammern können. Juristische
Arbeiten benutzen als Gedankengerüst bestimmte Begriffe, die ein für allemal
gebildet worden sind, und bestimmte Rechtsgrundsätze, die als allgemein gültig
aufgefaßt werden. Darum ist scharfe Begriffsbildung für den Juristen etwas so
unbedingt Notwendiges; seine Arbeit beruht auf begrifflichem Denken.
Den äußersten Gegensatz zu dieser Art des Denkens bildet die geistige Arbeit des
Ingenieurs. Diese sucht bei der Untersuchung eines Problems eine möglichst
naturgetreue Vorstellung der räumlichen Anordnung, der Bewegung, der Kräftewirkung,
des Arbeitsvorganges zu gewinnen: die technisch-wissenschaftliche Arbeit beruht auf
anschaulichem Denken.
Das begriffliche Denken haftet an der Sprache, das anschauliche Denken an der
Zeichnung.
Die Art des Denkens, – begrifflich oder anschaulich – ist kennzeichnend für
Kulturepochen. Anschaulich war das Denken der Hellenen: es spiegelt sich in dem
wundervollen Rhythmus ihrer Tempelbauten, in dem lebenden Marmor ihrer Statuen und
auch in ihren technischen Erfindungen, zumal in dem wohl durchdachten Aufbau ihrer
Linienschiffe, denen die athenische Staatsmacht ihr Werden verdankte.
Meister des begrifflichen Denkens dagegen waren die Römer: mit ihm schufen sie die
Grundlagen der Rechtswissenschaft und des Staatsgefüges.
Das anschauliche Denken schlief Jahrhunderte hindurch: die Scholastik kannte nur
begriffliches Denken und zwar in leblos gewordenen Begriffen.
Erst mit der Renaissance erwachte das anschauliche Denken wieder und erreichte
höchste Vollendung in der Persönlichkeit von Leonardo da
Vinci, dem Künstler und Ingenieur.
Um die Wende und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte in Deutschland
begriffliches Denken vor: alle Wissenschaften gingen damals mehr oder weniger von
philosophisch-begrifflichen Gesichtspunkten aus. Als der Meister des begrifflichen
Denkens dieser Zeit muß Kant bezeichnet werden.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte in Deutschland mehr und mehr
anschauliches Denken zur Geltung: Naturwissenschaften und technische Wissenschaften,
die beide vorherrschend auf anschaulichem Denken beruhen, gaben dieser Zeit ein
ausdrucksvolles Gepräge.
Die technischen Wissenschaften haben das anschauliche Denken besonders gefördert
durch die Ausbildung von graphischen Darstellungen. Unter anderem können durch diese
Darstellungsverfahren Vorgänge, die nacheinander stattfinden, nebeneinander
veranschaulicht werden. Aber die graphischen Darstellungen verlangen ein geschultes
Auge, sind also gerade für die Einführung in die technischen Wissenschaften nur
bedingt verwendbar. Auf dem scharfen Erfassen des Einflusses von mehreren
Veränderlichen auf einen Vorgang beruht aber gerade das anschauliche Denken. Es
liegt also das Bedürfnis vor, solche Einflüsse und Vorgänge, die sich nebeneinander
nicht mehr darstellen lassen, nacheinander zu veranschaulichen.
Dieses Bedürfnis tritt zunächst auf bei der Einführung in mathematische Vorgänge. Wie
lebendig solche veränderlichen Gebilde zur Anschauung gebracht werden können, das
lassen die kinematographischen Arbeiten von Münch in
Darmstadt erkennen.
Schwieriger noch als mathematische Veränderungen sind die Bewegungsvorgänge, mit
denen sich die technische Wissenschaft zu beschäftigen hat, dem Darstellungsvermögen
zugänglich, weil sie außer dem räumlichen Gebilde noch Kräfte, Geschwindigkeiten und
Beschleunigungen als veränderliche Größen aufweisen.
Die technisch-wissenschaftlichen Kinematogramme veranschaulichen Ueberlegungen, die
bei dem Entwurf einer Maschine angestellt werden müssen. Eine zweite Art von
lebenden Lichtbildern stellen die kinematographischen Aufnahmen ausgeführter
Maschinen dar. Sie ermöglichen es, Arbeitsverfahren und fertige Maschinen
gewissermaßen in den Hörsaal zu verpflanzen.
Auf anschaulichem Denken beruht unsere ganze industrielle und künstlerische
Berufsarbeit, also die Tätigkeiten, die dem Gegenwartsleben die wirtschaftlichen
Mittel einerseits und die kulturellen Werte andererseits schaffen. Der
Unterricht in den Volksschulen und in den Hochschulen pflegt das anschauliche
Denken; in den Mittelschulen aber herrscht, von vereinzelten rühmlichen Ausnahmen
abgesehen, unumschränkt das begriffliche Denken: man lernt dort fast alles aus
Büchern und nur sehr wenig aus eigener Beobachtung. Wenn es gelingen würde, dem
anschaulichen Denken in der Mittelschule zu seinem Recht zu verhelfen, dann würde
manche schlechte Zensur mit ihren oftmals erschütternden Folgen unterbleiben, weil
der jungen Generation dann das geboten würde, wonach sie zumeist hungert: das
anschauliche Denken.
Die allgemein interessanten Ausführungen des Redners wurden durch kinematische
Darstellungen aus dem Gebiete der Mathematik (Lehrsatz von Pythagoras) und der
Technik erläutert.