Titel: POLYTECHNISCHE RUNDSCHAU.
Fundstelle: Band 327, Jahrgang 1912, S. 558
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POLYTECHNISCHE RUNDSCHAU. Polytechnische Rundschau. Ueber die Grundsätze für die Organisation des öffentlichen Materialprüfungswesens macht auf Wunsch des Präsidenten für den VI. Kongreß des Internationalen Verbandes für die Materialprüfungen der Technik der Geh. Oberregierungsrat A. Martens, Direktor des Königl. Preußischen Materialprüfungsamtes in Groß-Lichterfelde bei Berlin, folgende interessante Ausführungen: Das Materialprüfungswesen hat sich in den letzten 30 Jahren einen dauernden Platz im Wirtschaftsbetrieb der Staaten errungen. Es gibt heute eine große Reihe von Staaten, die es recht vollkommen ausgebildet haben, und andere sind zurzeit bestrebt, es auf einen hohen Stand zu heben. Wenn ich hier über die Organisation solcher Anstalten sprechen will, so habe ich vorauszuschicken, daß diese Organisation nach den Landesverhältnissen in den einzelnen Staaten verschieden sein muß. Da ich diese Verhältnisse aber nicht kenne und daher nicht berücksichtigen kann, wird man es für naheliegend erachten, wenn ich mich hauptsächlich an die Verhältnisse halte, wie sie in Groß-Lichterfelde maßgebend waren. Ich will mich aber an diese auch nur anlehnen, weil ich sie keineswegs für das ideal Vollkommenste halte und auch hier manches besser werden wird. Zunächst seien die Grundsätze für die Einrichtung einer öffentlichen Materialprüfungsanstalt zusammengefaßt und anschließend hieran der Plan für einen großen Betrieb dieser Art angedeutet. Eine gut ausgestaltete Materialprüfungsanstalt kann sehr wesentlich zur Förderung der Industrie und des Handels eines Landes beitragen, wenn sie den Bedürfnissen von Verbrauchern und Erzeugern der Materialien gerecht wird, aber von einseitigen Interessen dieser Kreise unbeeinflußt bleibt. Daher sollte diese Stelle zwar vom Staate unterhalten werden, aber von den interessierten technischen Staatsbehörden (Eisenbahnen, Verkehrsanstalten, Militärbehörden usw.) ebenso unbeeinflußt bleiben wie von den übrigen Interessenten. Ihr sollte lediglich die Verpflichtung auferlegt werden, frei nach den Regeln der wissenschaftlichen Technik und unter Anwendung aller Kunst mit den besten, stets unter Kontrolle gehaltenen Werkzeugen von größtem Zuverlässigkeitsgrade, Materialprüfungen auf Antrag eines jeden Staatsbürgers auszuführen und in Streitfällen auf Anrufen der Parteien als Schiedsrichter zu wirken. Obwohl hiernach diese Stelle von jedermann angerufen werden darf, ist es dennoch nicht notwendig, daß sie ihre Arbeit unentgeltlich leistet, sondern es erscheint gerechtfertigt, daß man diese Arbeit demjenigen, der den Nutzen davon hat, auch in einem entsprechenden Maße, jedenfalls aber soweit in Rechnung stellt, daß der Arbeitsaufwand und die Prüf anlagen der Anstalt gedeckt werden. Fraglich mag es bleiben, ob auch im übrigen der Aufwand an Verwaltungskosten, an Grundstück- und Anlagekosten den Antragstellern voll aufzuerlegen sind. Meines Erachtens sollte man aber diesen Teil der Selbstkosten auf die allgemeine Staatskasse übernehmen, weil man von einer öffentlichen, vom Staate unterhaltenen Prüfanstalt, wie ich schon oben sagte, verlangen darf, daß sie nach allen Regeln der Kunst und der Wissenschaft geführt wird und daß sie unentgeltlich der Wissenschaft dient. Man wird im besonderen verlangen müssen, daß die Anstalt von sich aus, also auf Staatskosten, die Wissenschaft wenigstens in allen den Zweigen fördert, die zur vollkommenen Lösung der eigenen Aufgaben ausgebildet werden müssen. Das wird unabänderlich im Gefolge haben, daß der Anstalt auch solche Aufgaben zugewiesen werden, die zur allgemeinen Förderung von Handel und Gewerbe im Lande dienen, für die daher die Allgemeinheit, der Staat, einzutreten hat. Das schließt aber nicht aus, daß in besonderen Fällen große Interessentenkreise auf ihre Kosten gemeinsam die Anstalt in Anspruch nehmen und ihr große Aufträge erteilen. Das Prüfamt Groß-Lichterfelde hat gerade auf diese Weise sehr große Arbeiten gemeinsam mit bestimmten Gruppen der Industrie und der technischen Vereine Deutschlands ausgeführt. Auch bei diesem Zustande wird man Aufgabe und Leistungen der Anstalt rein kaufmännisch einzuschätzen haben. Man hat demnach streng darauf zu halten, daß nicht nur die dem einzelnen Staatsbürger unmittelbar geleistete Arbeit von ihm gedeckt wird, sondern daß auch dem im allgemeinen Interesse verausgabten Aufwand die entsprechende Einnahme an idealen, dem Staatswohl zunutze kommenden Leistungen gegenüberstehen. Der Betrag dieser Werte kann aber nicht von der Staatsverwaltung, insonderheit nicht vom Finanzminister eingeschätzt werden, sondern dazu gehört eine Körperschaft von Sachverständigen, die zugleich dauernd einen Beirat für die Leitung der Anstalt bilden könnte und die so zusammengesetzt und organisiert sein muß, daß an keiner Stelle einseitige Interessenrichtung geltend gemacht werden kann. Deswegen sollte der Beirat ein auf Zeit beschränktes Ehrenamt sein, dem neben hohen Verwaltungsbeamten der vorgesetzten Staatsbehörde, Vertreter von technischen Körperschaften und technischen Behörden sowie von Handel und Industrie sitzen, so daß im Beirat alle Interessentenkreise zwar zum Wort kommen, aber die Anstalt nicht einseitig beeinflussen können. Die leitenden Personen der Anstalt sollten Sitz im Beirat haben, so daß sie persönlich zur Verantwortung gezogen werden, aber auch die Interessen des Betriebes im Beirat persönlich vertreten können. Wenn der Anstalt, wie in Groß-Lichterfelde, das gesamte Gebiet der Materialprüfungen der Technik überwiesen werden soll, so wird man sie in mehrere Abteilungen gliedern müssen und wird die leitenden Stellen dieser Abteilungen mit sehr tüchtigen Sonderfachleuten besetzen müssen, so daß in den Abteilungen die Erfahrungen des Sonderfaches in hoher Vollkommenheit vertreten sind. Diesen Männern müssen gute Fachleute aus dem Gebiete der Abteilung und sonstiges Hilfspersonal in ausreichender Zahl zu Gebote stehen. Man wird guttun, den oberen Beamten eine feste Stellung zu gewähren, aber das Hilfspersonal am besten auf Widerruf anzustellen, damit ein reges Streben hervorgerufen wird und unpassende Elemente leicht ersetzt werden können. Die Gesamtanlage der Anstalt wird man durch zweckmäßige Aneinandergliederung der einzelnen Abteilungen so gestalten, daß die einzelnen Räume sachgemäß nebeneinander liegen und von einer Zentrale aus mit Kraft, Licht, Wärme usw. versehen werden, dazu werden dann Zentralen für den inneren Verkehr (Fernsprecher) für Haus-, Hof- und Garten-Verwaltung, Bestellwesen, Materialverwaltung, Bücherei, Sammlungen usw. kommen. Die Gesamtleitung wird man einem Direktorium übertragen, das die Vertretung der Anstalt nach außen hin zu übernehmen hätte und die Oberleitung über die allgemeinen und die wissenschaftlichen Arbeiten, während der Verkehr mit den Antragstellern am zweckmäßigten den Abteilungsleitern, natürlich nach einheitlichen für das ganze Amt geltenden Grundsätzen erledigt wird. Dem Gesamtbetriebe müssen für den Kanzlei- und Kassendienst die erforderlichen Räume und genügendes Personal verfügbar sein. Dazu kommen Empfangszimmer, Sitzungs- und Vorlesungsräume mit den erforderlichen Ausstattungen der Neuzeit. Auch den einzelnen Abteilungen wird man Kanzleien und Registraturen geben müssen, damit sie die Prüfungszeugnisse, die Betriebsübersichten und wissenschaftlichen Ergebnisse des Abteilungsbetriebes im eigenen Kreise bearbeiten können; das ist notwendig, weil zu diesen Arbeiten genaue Fachkenntnis gehört. Der allgemeine Betrieb untersteht in Groß-Lichterfelde dem Direktor, dem als Hilfskraft für diesen Teil ein ständiger technischer Mitarbeiter zur Seite steht. Der allgemeine Betrieb umfaßt die Dampfkesselanlage für die Beheizung des ganzen Amtes und für den Dampfmaschinenbetrieb, die elektrische und die hydraulische Anlage als Kraftquellen für die einzelnen Abteilungsbetriebe, das gesamte Leitungsnetz für Elektrizität, Gas, Wasser (Hochdruck- und städtische Wasserleitung), Dampf- und Entwässerungsleitungen, ferner das gesamte Reparaturwesen und die Erhaltung der Gebäude und Einrichtungen. Ich nehme davon Abstand, hier auf weitere Einzelheiten aus dem Amte Groß-Lichterfelde einzugehen, weil diese mit großer Ausführlichkeit ebenso wie die Bauausführung und die Pläne der ganzen Anlage in einer Denkschrift beschrieben sind, die bei Eröffnung des Amtes im Jahre 1904 bei Julius Springer in Berlin erschienen und für den Preis von 10 M jedermann zugänglich ist. Man findet darin ausführliche Auskunft über alle Einrichtungen, über Maschinen, Meßwerkzeuge usw.Vergleiche auch die in englischer, französischer und russischer Uebersetzung erschienene „Materialienkunde für den Maschinenbau“, Teil I: Materialprüfungswesen, Probiermaschinen und Meßinstrumente von A. Martens, Teil II A: Die wissenschaftlichen Grundlagen für das Studium der Metalle und Legierungen von E. Heyn. (Erschien vor kurzem.) Berlin, Julius Springer. Um ein Bild über den Umfang zu geben, den eine gut ausgebaute Anstalt anzunehmen vermag, möge es genügen, wenn ich aus dem letzten Jahresberichte von Groß-Lichterfelde anführe, daß die Einnahmen des Amtes aus Prüfungsaufträgen etwa 400000 M und die Ausgabe etwa 640000 M betrug, während die Zahl der beschäftigten Personen auf etwa 230 anwuchs; davon 75 akademisch gebildete und 38 Techniker mit Fachschulbildung, sowie über 70 Gehilfen und Arbeiter. Das Amt zerfällt in sechs Abteilungen und zwar: Abt. 1 für Metallprüfung, Abt. 2 für Baumaterialprüfung, Abt. 3 für papier- und textiltechnische Prüfungen, Abt. 4 für Metallographie, Abt. 5 für allgemeine Chemie und Abt. 6 für Oelprüfung, die alle in diese Gebiete fallenden Materialprüfungen ausführen und Gutachten über hierhergehörige Fragen abgeben. Textabbildung Bd. 327, S. 559 Wachstum des Betriebes; A = Ausgabe, E =: Einnahme, P = Personenzahl × 1000, Z = Staatszuschuß; a) der Königlichen Mechanisch-Technischen Versuchsanstalt Charlottenburg; b) des Königlichen Materialprüfungsamtes Groß-Lichterfelde. In welchem Maße das Bedürfnis der Technik das Wachstum des Amtes herbeiführte, erkennt man leicht aus dem regelmäßigen Ansteigen der Linien im obenstehenden Bilde.